Читать книгу Mitgeschrieben - Michael Rutschky - Страница 12
Oktober
ОглавлениеDie Stadtgartendirektion berichtet, dass an den Bäumen in den Münchner Parks und Straßen erhebliche Schäden festzustellen sind, verursacht durch Wassermangel, Abgase, Bodenverdichtungen, Hitzeeinwirkung. Die Münchner Stadtgärtner betreuen 78700 Alleebäume; rund 6000 weisen Schäden auf. In den letzten Jahren mussten, um erkrankte Bäume zu ersetzen, rund 400 Bäume neu gepflanzt werden.
»In genau derselben Zeit, in der ich immer tiefer in die Überzeugung versank, schon der einfache Ablauf der Zeit wende alle Dinge zum Schlechtesten, in genau dieser Zeit vervollkommnete sie ihre Orgasmustechnik außerordentlich.«
Im Kino, erzählt Regina, habe direkt vor ihr eine große Frau gesessen und ihr den Blick auf die Leinwand verdeckt.
Ob sie, bitte, ihr den Blick freimachen und sich auf die andere Seite ihres Freundes setzen könne? Da habe die Frau geschluckt und erklärt, der junge Mann neben ihr – das sei nicht ihr Freund, sondern ihr Sohn!
Regina begeistert die Geschichte. Vielleicht weil sie, in Varianten, im Fernsehen als Reklamespot für Kosmetika lief? Endlich etwas erlebt, was man bislang nur aus dem TV kannte. »Das gibt es also wirklich.«
Frau K. und R. sitzen in Michels Zimmer, als das Telefon klingelt. Er nimmt ab, sagt wie gewöhnlich »ja« und hört eine Weile stumm zu. R. beobachtet sein Gesicht und phantasiert, Michel erhalte die Nachricht vom Tod eines nahen Verwandten. Während er weiter zuhört, schreibt er was auf seinen Block und reicht ihn Frau K. R. kann mitlesen, »Sadat ist erschossen worden«.
Christoph Tholen, der R. zu einem Vortrag eingeladen hatte, ruft an und bekräftigt die Einladung an die Kasseler Universität.
Freilich habe Helmut Junker schwer über R. geschimpft, und zwar wegen seines Auftritts bei dem Suhrkamp-Fest (Tholen kann nicht erklären, warum Junker schimpfte); doch sei jetzt alles klar.
R. fällt sogleich eine Deutung ein, die ihn nicht wieder verlässt. Professor Junker war gekränkt, weil R. sich an jenem Abend nicht ausführlicher mit ihm befasste. Dabei hielt R. sich nur deshalb zurück, weil Junker ihn gleich eingangs gekränkt hatte: Als R. ihn begrüßte, reagierte er herablassend: »Ja, wir haben uns mal kennengelernt.« Statt der Verhältnisse zwischen Angestellten erkennt man hier also solche zwischen Höflingen.
Auf seiner rechten Schulter wächst, gleich am Hals, eine Art Warze, aber aus dem Stoff der Leberflecke. Heute entdeckt R. auf der Innenseite seines rechten Fußes ein feines violettes Aderngeflecht, wie alte Leute es zeigen. Dann betrachtet R. den Hund, auf dem seit einiger Zeit eine ganze Reihe von Warzen und Leberflecken wuchern, und bedenkt schmerzlich, dass er sterben wird.
Sie besuchen Bernd und Gabi Dürr. Bevor die das Abendessen auftragen, geht R. nach nebenan und klingelt.
Goetz macht auf, scheint völlig verwirrt und sagt »ach!« Dann führt er R. in sein Arbeitszimmer. Doch scheint ihm das allzu unordentlich, weshalb sie in die Küche gehen. Ja, er lerne pausenlos für die Prüfung am Dienstag. Das Schlimme sei, dass ihm die Wissenschaft wieder richtig Spaß mache; manches verstehe er erst jetzt genauer, beispielsweise die Sache mit dem Kalium. Dann zeigt er R., wie er seine Bücherregale neu aufgestellt hat, R. verabschiedet sich und geht zum Essen bei den Dürrs.
Den ganzen Abend wartet R., dass Goetz kommen werde, jetzt sei’s genug mit dem Lernen. Er kommt aber nicht.
M. erzählt am Telefon, dass Reinhard Hübner, zum Firmenjubiläum aus Brasilien zurückgekehrt, seinem Vater eröffnete: er habe die südamerikanische Filiale zwei tüchtigen jungen Leuten übergeben und wolle hier zu Hause die Leitung eines Teilbetriebs übernehmen. Vor allem mithilfe von Margrit, erzählt M., sei es gelungen, ihn von dem Plan ab- und wieder nach Brasilien zurückzubringen.
»Wahrscheinlich verhält es sich so«, so später Kathrin, als R. die Geschichte erzählt, »dass im Grunde die Schwester den Betrieb übernehmen möchte. Ich kann mir die Margrit gut vorstellen als Chefin, Unternehmerin.«
Gegen 17 Uhr beginnt R., bei einer Flasche Weißbier, weiterzuschreiben. Der Text entwickelt sich selbstverständlich und freiwillig – ebenso das Trinken, R. holt sich noch eine zweite Flasche von oben, deren Genuss weiterhin mit dem Fortgang des Schreibens übereinstimmt.
Zu Hause fährt er mit Wein fort, zugleich mit der Arbeit an dem anderen Schreibprojekt. Allerdings verwirrt die Schrift sich immer stärker, obwohl der Faden dessen, was R. formulieren will, nicht abreißt. Doch ist er gegen 21 Uhr so betrunken, dass er ins Bett gehen muss, zum Kummer von Kathrin, die mit ihm zusammen im Fernsehen einen Film anschauen wollte.
Jetzt, sagt Goetz in der Nähe von Ingolstadt, jetzt müsse er einfach ein wenig schlafen. Er könne sich, schlägt R. vor, doch auf der Rückbank ausstrecken.
So fährt R. auf einen Autobahnparkplatz, und Goetz steigt nach hinten um. Beim Weiterfahren liegt er also auf der Rückbank und schläft. Er hat die halbe Nacht mit Lernen verbracht, zur Vorbereitung auf das medizinische Staatsexamen, dessen schriftlichen Teil er heute Morgen noch einmal hinter sich zu bringen versucht hat.
Jetzt fahren sie zur Buchmesse in Frankfurt.
Bei dem Suhrkamp-Fest, erzählt Goetz, habe sich Frau K. dicht zu ihm gestellt und ihre Brüste an ihm gerieben. Zur Antwort habe er sie angelacht, unsicher, verlegen – sie habe zurückgelacht und das Reiben gleich noch einmal wiederholt.
»Marianne«, sagt R. und fasst sie leicht am Oberarm, »Sie kennen wohl unseren Autor Bodo Kirchhoff noch nicht.« – »Nein«, sagt sie und wendet sich ihm zu. Sie geben sich die Hand, und er mustert sie männlich. »Wir haben wohl einmal miteinander telefoniert«, sagt er. – »Ja«, sagt sie, »wegen Geld – ich bin ja ohnehin nur die Geldkuh.«
R. hört nicht weiter hin und redet weiter mit Sperling über die Buchmesse einst und jetzt.
Nach dem Geschlechtsverkehr am Nachmittag konnte er keine Arbeit mehr in Angriff nehmen. Er konnte sich nur noch die Fingernägel schneiden.
Beim Spaziergang auf dem Flaucher setzt sich schließlich ein durchdringender Unwille durch, schlechte Laune. Eine Zeitlang flottiert sie frei, dann konzentriert sie sich allmählich auf den Hund: weil er, wo immer sie sich befinden, mit äußerstem Eigensinn in Richtung des Wassers strebt, unbeeinflussbar durch Rufe und Befehle. Bevor es bei R. zu einem richtigen Wutanfall kommt, sagt er sich: Es sei die selbständige Beweglichkeit des Tiers, sein eigener Wille, die ihn empört. Das beruhigt ein wenig.
Jetzt ist Freyermuth regulär da. Er sitzt in Michels Zimmer, der noch in Frankfurt weilt – »ich habe ihm«, sagt Frau K., ganz Chefin, »das Horx-Manuskript gegeben, zum Auszeichnen. Damit er es mal lernt.«
Am Nachmittag kommt er in das Büro von R. und trägt ihm artig eine Reihe klitzekleiner Probleme vor. Die in Zukunft selber zu lösen R. ihn ermutigt.
Nachdem Gaston Salvatore und Enzensberger eine Reihe von Projekten dargestellt haben, teils begonnene, teils phantasierte, macht Freyermuth zwei Vorschläge. Eine Geschichte über Friedhöfe; eine über Soraya, die ehemalige Kaiserin von Persien.
Die Vorschläge werden nicht abgelehnt; eher zergehen sie in der Diskussion, unvermerkt, so kennt R. es ja, sie lösen sich diskret auf. Als R. am Nachmittag zurückkommt, sitzt Freyermuth an der Schreibmaschine und tippt, Frau K. gibt ihm irgendwelche Ratschläge (»aber das ist doch ein philosophisches Problem«).
Ebenso reagierte R. am Anfang auf die Konferenzen, mit Schreiben. Aber die Texte machten ihn nicht besser präsent, im Gegenteil, seine Hilflosigkeit und Abwesenheit wuchsen an.
R. wacht auf, weil er gerade hingerichtet werden soll, und zwar geköpft, mit einem Gerät, das teils einer Guillotine, teils einer Kreissäge ähnelt. Es war ihm durchaus freundschaftlich eröffnet worden, von Leuten, die nicht nach Polizei oder Justiz aussahen, und in einem Gebäude, das in nichts einem Gefängnis ähnelte.
Es schien bei der Hinrichtung auch weniger um eine Strafe als um eine Art Experiment zu gehen, im Geiste des Kinderspiels durchgeführt: wie man vom Leben zum Tod kommt.
Doch wollte R. daran letzten Endes nicht teilnehmen und wachte auf – vielleicht war eben dies gerade als »Übergang vom Leben zum Tode« dargestellt worden.
Im Bayerischen Hof hängen auf der Empore, die als Fortsetzung der Halle fungiert, Ölbilder prominenter Gäste, Sophia Loren, Roger Moore, Elizabeth Taylor, Farrah Fawcett-Majors.
Die Bilder sind aber nicht im Stil des Fotorealismus gemalt, sondern mit Handschrift, was sie dilettantisch aussehen macht – als wollte das noble Hotel seine prominenten Gäste gut sichtbar veralbern.
»Ich habe gar nicht bemerkt«, so R., in das Zimmer von Michel tretend, »dass Sie wieder da sind.« – »Ich schon«, antwortet er mit dem gewohnten Ausdruck ironischen Leidens.
Schlosscafé Goldegg. »Der Mensch ist die Heimat des Menschen.« – »Ich möchte jetzt häufiger bei mir selbst zu Gast sein.« – »Ich könnte nicht in einem Raum essen, in dem Katzen sind.«
Ein älterer Herr in Begleitung einer Dame, die er womöglich gerade kennenlernt. Philosoph; macht sich seine eigenen Gedanken. Vielleicht ehemals Studienrat – er redet lange darüber, dass er sich jetzt (nach der Pensionierung) nicht mehr in alles einspannen lasse.
Braune Cordhose, weißes Hemd mit feinen blauen Karos, hellgrüner Schlips, Freizeitjacke aus heller Popeline. Später zieht er sich einen Cordmantel mit Gürtel und Schulterklappen an, dazu eine Ledermütze.
Reinhard Hübner, erzählt M. am Telefon, habe in Brasilien erst einen einzigen Auftrag eingeholt; alle anderen Aufträge seien aus der Bundesrepublik, also über seinen Vater gekommen.
Außerdem habe er eine Unmenge Seide gekauft, um einen Ballon zu bauen, der durch einen Tretmotor bewegt werden solle – wie das funktioniert, weiß M. nicht zu sagen, es soll ja auch bedeuten, dass Reinhard Hübner spinnt. Irgendjemand bemerkte neulich, Reinhard Hübner habe seinen Beruf verfehlt.
Eigentlich, erzählt Freyermuth, habe er geplant, mit 21 zu promovieren – wie Adorno. Als er kurz vor dem entsprechenden Geburtstag einsah, dass daraus nichts würde, habe er umdisponiert: mit 30 müsse er auf jeden Fall habilitiert sein. Ein Tutorium über Schnitzler im Hinblick auf Peter Szondis Theorie des modernen Dramas habe er von Professor Lämmert bloß deshalb erhalten, weil der gerade Szondis Nachfolger geworden war. Er, Lämmert, habe es ihm, Freyermuth, geben müssen, weil die alten Szondi-Schüler den Kopf schüttelten über so viel Hybris eines so jungen Mannes. Der Tutor Freyermuth signalisierte ihnen den Anbruch einer neuen Herrschaft. Und so weiter.
Kathrin, Scheel und R. gehen die Treppe hinunter; Gabi Dürr und Goetz schauen ihnen nach, dann gehen sie zusammen in seine Wohnung zurück. In diesem Augenblick weiß R. genau, dass sie regelmäßig miteinander schlafen.
»Und grüßen Sie die Katharina!«, strahlt Frau K. heiter, als R. sich verabschiedet. Das wagte sie noch nie.
Es erklärt sich daraus, dass eine amerikanische Journalistin die Redaktion besuchte, der R., als der am besten Englisch Sprechende, Absichten und Machart der Zeitschrift so erklärte, dass Frau K. zufrieden war, in sich nichts verspürte, was sie als Stellvertreterin Enzensbergers hätte einwenden müssen (Michel ist am Nachmittag nach Frankfurt gereist).
Den Ton, in dem Frau K. den Gruß an Kathrin bestellt, nannte man früher »leutselig«.