Читать книгу Mitgeschrieben - Michael Rutschky - Страница 5
EINS März
ОглавлениеAbendroth, der traurige Cheflayouter, feiert seinen 53. Geburtstag. Es gibt Matjesfilets mit Pellkartoffeln und einem Kräuterquark, der rasch verzehrt ist. Dazu Bier. Man steht herum auf einem Gang im Hauptgebäude, man lächelt einander stumm an, oder man wechselt Worte, die nicht weiterführen.
Endlich kommt der Verleger und versammelt in konzentrischen Kreisen Zuhörer um sich. Er erzählt nämlich, wie er letzte Nacht so betrunken war, dass er nicht mehr wusste, wo er sich befand – mit Abendroths Freundin in ihrer Wohnung?
»Ich habe ihr erklärt, dass im Allgemeinen Abendroth der Richtige für sie ist – im Detail aber ich.« Forciertes Berlinern; er lacht dramatisch vorneweg, aber die Angestellten folgen nur zögernd.1
Bei einer kleinen Feier in der Staatskanzlei überreichen die bayerischen Zimmerleute dem Ministerpräsidenten einen Ehrenhut. »Glück wünschen wir dem Mann im Lande, dem höchstes Amt ist anvertraut, der gefährliche Entwicklung sofort erkannte und stets auf Recht und Ordnung schaut.« 2
Mehrere Anrufe von Rosi Cieslak, die bei der Reportage von Janet Flanner über den Kunstraub der Nazis Korrektur liest; mehrere kleine Kontroversen. Schließlich: »Das kann man natürlich nicht sagen, ›diese Gebäude dominieren den Königsplatz‹.« – »Warum kann man das nicht sagen?« – »Das geht einfach nicht.«
Rosi Cieslak fühlt sich deklassiert als Korrektorin (sie sei von Beruf Historikerin, betonte sie während einer anderen Kontroverse), und sie äußert sich gern apodiktisch.
R. fährt in Richtung Marmorhaus, Leopoldstraße. Er will Kinokarten besorgen. Aber es findet sich kein Parkplatz – eigentlich verlangt es R. auch nicht wirklich nach »Flash Gordon« – dafür legt er sich den Gedanken zurecht:
Es sei typisch für das gegenwärtige Leben in den Städten, dass man den angemessenen Vergnügungen nicht souverän nachgehen könne; das Parkplatzproblem deute darauf, ebenso die Notwendigkeit, Kinokarten im Voraus persönlich zu kaufen; denn telefonische Vorbestellungen nehme ein Kino wie das Marmorhaus nicht an. –
Sie gingen dann zu Fuß, kauften die Karten an der Kasse und verbrachten noch eine Stunde im Leopold an der Leopoldstraße. Ein Paar am Nebentisch lud zur genaueren Beobachtung ein:
Beide jung, mager und exquisit hässlich – das Prinzip ihrer Selbstinszenierung. So fährt sich der junge Mann zuweilen mit der Hand durch die kurzgeschnittenen Haare am Hinterkopf und bringt sie wieder durcheinander. Außerdem seltsame Verrenkungen – so kann man eine Zeitlang denken, dem Mädchen fehle der rechte Arm, weil sie ihn hartnäckig unter dem Tisch verbirgt.
Immer wieder verrenken sie sich gegeneinander, bringen dem anderen die jeweilige Hässlichkeit nahe und küssen sich – der junge Mann berührt mit den Lippen die graue Haut auf der Wange des Mädchens.
Ebenso wie im Verliebtheitszustand mochten sie sich in einer extremen Krise ihres Verhältnisses befinden – einmal legt das Mädchen den Kopf auf den Tisch, auf die verschränkten Arme, was den jungen Mann zu einer besonders geschraubten Verrenkung provoziert – ebenso in einer Liebeskrise wie im Zustand ausgezeichneten Wohlbefindens.
An der Tankstelle, gegen elf Uhr, wirft ein Mittvierziger, der getankt hat und zum Bezahlen geht, R. einen Blick zu, der R. bekannt vorkommt, weil auch er ihn an einem Sonntagvormittag an der Tankstelle auszusenden pflegt.
Es ist ein stolzer Blick, wie der von Seefahrern oder weitreisenden Kaufleuten, die sich im Hafen oder in der Karawanserei begegnen. Vielleicht werden sie einander nie wiedersehen, denn unendliche Räume voller Lebensgefahren liegen vor ihnen.
Dabei geht es an einem solchen Sonntagmorgen bloß um eine Fahrt nach Landshut oder an den Chiemsee.
Christel Doppler, die Redaktionssekretärin, müsste jetzt ein weiteres Manuskript abtippen; aber sie sitzt über ihrem Lehrbuch des Italienischen. Sicher, sie könnte sich rechtfertigen: Italienisch zu sprechen, das trage bei zu ihrer Qualifikation als Redaktionssekretärin.
Aber das ist nicht der Punkt. Es geht darum, während des Arbeitstages etwas für sich selber zu tun und für niemanden sonst. Die Selbstbehauptung des Angestellten.
R. ruft die Herausgeberin an, wegen des Honorars, das Hans Platschek für seine Reportage über die holländische Kunstförderung angeboten werden solle. »Warum flüstern Sie eigentlich immer so?« Das stimmt, R. pflegt seinen Namen zu flüstern, wenn er die Herausgeberin anruft.
Wenig später ruft sie zurück. Ob R. ihr zufällig helfen könne, wie nämlich der Autor von »A Taste of Honey« heiße? – »Shelagh Delaney.« – »Ich wusste doch, dass Sie so etwas wissen!«
So etwas passierte heute zum ersten Mal.
Die Herausgeberin misst einige Zentimeter mehr als R. Freilich sind sie gleichaltrig – wenn die Herausgeberin nicht sogar ein paar Jahre jünger ist. Doch erscheint sie ihm zuweilen von einer schweren Monumentalität – die sich aus ihrer Rolle (die Herausgeberin) herleitet.
Während sie sich, wie sie mal erzählte, immer noch danach sehnt, ein kleines zartes Mädchen zu sein.
Enzensbergers Essay wider die Konsequenz beginnt mit einigen wörtlichen Reden. Sie verschwanden aber im Satz; die Apostrophe am Satzanfang, sagt Dirk Bickel, hätten die Herausgeberin gestört, Augenpulver.
Doch muss man die wörtliche Rede markieren, sonst verwirrt sich der Text. Im Vollgefühl dieser Wahrheit ruft R. die Herausgeberin an – und ist plötzlich heiser. Worauf sie sich räuspert.
Das Lokal in Bad Tölz heißt Hubertus-Stuben. An den Nebentisch setzen sich zwei ältere Damen, beide ganz in Rot; die eine führt einen Schäferhund mit sich, Probleme der Friedfertigkeit zwischen ihm und N.
Die eine rote Dame bestellt ein Cordon bleu, die andere russische Eier. Sie unterhalten sich. Kathrin hört sie über Königin Silvia von Schweden sprechen; R. hört die andere sinnieren: »Ja, und dann bekam er ja Berufsverbot …«
Für bürgerliche Damen unterdessen ein ganz normales Wort!, erörtern sie auf der Heimfahrt.
Morgens steht am Auto die rechte Vordertür offen. Jemand hat den Baedeker zerrissen, den Innenspiegel abgebrochen, ein paar Hebel am Armaturenbrett herausgerissen.
Kathrin entwickelt die Idee: Ein Jugendlicher, tagsüber artiger Gymnasiast, wollte sich beweisen, dass er nachts nichtsdestotrotz zum Punk taugt, der zu vandalieren vermag – so wie unsereins als Student mal Bücher oder Lebensmittel geklaut haben musste.
»Ich bin krank, ich habe Fieber«, erklärt R. – »Ich bin auch krank«, repliziert Karl Markus Michel, »aber Fieber bekomme ich leider nie.«
Dann betritt Frau K. den Raum und bringt Michel die unzusammenhängende, teilweise unverständliche Waldemar-Müller-Kolumne. »Mach ihn halt heute Abend fertig«, rät sie Michel heiter, »und telefoniere mit Gaston. Magnus muss ihn ja auch immer umschreiben.«
Der bayerische Ministerpräsident wiederholt bei einer Vorstandssitzung seiner Partei und bei einer anschließenden Pressekonferenz in München seine Einschätzung, dass der militante Kern der Hausbesetzer mit dem Terrorismus sympathisiere, woraus eine neue terroristische Bewegung entstehen könnte. In Nürnberg kam es kürzlich zu 140 Festnahmen unter Hausbesetzern.
Auf der Couch liegend, im Bademantel, leicht fiebrig, zerstreut einen Roman lesend: da wird man von der Frage, »wer bin ich?«, auf das angenehmste erschüttert.
Die Regeln des Anredens bleiben anhaltend ungeklärt – und R. glaubt, dass vor allem er es sei, der zu der Unklarheit beiträgt.
Im Allgemeinen gilt – das hatte wohl Enzensberger eingeführt – Vorname und »Sie«, der angloamerikanische Brauch. Frau K. freilich hat dafür gesorgt, dass sie sich mit allen duzt – außer mit R. –, auch mit der Herausgeberin, dem Verleger und Elli Ettlich, der Redakteurin von Photo. Ausgenommen ist Jürgen Felz (ebenfalls Photo), mit dem Frau K. ausdauernd einen Kabbelflirt unterhält; und Christel Doppler, die Redaktionssekretärin, bei der sie sich, wie bei R., an die Grundregel hält.
Daran hält sich auch Karl Markus Michel – ausgenommen bei Frau K. und, natürlich, bei seinem alten Freund Enzensberger – Michel, den wie diese »Carlos« zu nennen R. strikt vermeidet. Dirk Bickel sagt »Herr Michel« und »Herr Rutschky« – bis R. einmal »Dirk« sagte, was ihn gleich darauf »Michael« verwenden ließ.
Und wieso trägt R. zur Verunklarung bei? Indem er sich sowohl gegenüber Frau K. als auch gegenüber Michel weigert, von »Magnus« zu sprechen – wie der Usus gebietet –, und anhaltend »Enzensberger« sagt.
R. fährt mit einem Taxi in die Redaktion. Auf der Leopoldstraße steht ein schwer beschädigter Citroën; Polizisten vermessen Strecken und protokollieren die Abläufe, soweit sie zu erschließen sind.
Sein Taxifahrer entwickelt eine Theorie des deutschen Unfalls: »Wir haben uns wieder mal übernommen.« Er sei in Afrika, in den USA und sonstwo Auto gefahren, aber nirgends habe er solche Unfälle wie in Deutschland gesehen. »Kein Wunder, die Deutschen haben sich wieder mal übernommen«, wiederholt der Taxifahrer genüsslich.
Ein Bekannter habe ein Haus am Ammersee gekauft, an dem er noch 16 Jahre bezahlen müsse; um halb sechs Uhr morgens stehe er auf, fahre mit dem Auto zum Westfriedhof, um es dort zu parken. Dann mit der Straßenbahn zum Harras und mit der U-Bahn bis zum Odeonsplatz, wo ein Büro mit anstrengender Arbeit ihn erwarte. Und abends die ganze Strecke zurück.
»Ich sehe es den Leuten an, die am Steuer sitzen; die sind mit ihren Gedanken ganz woanders.«
Der Juttabruder steht im Schlafanzug da, und Kathrin piekt ihn mit dem Zeigefinger: »Du hast ja schon einen Bauch!« – »Ich komme jetzt in die Jahre«, repliziert er zeremoniös, »wo ein Mann sich einen Bauch zulegen darf.«
Er wird dies Jahr 33. Am Nachmittag versinkt Kathrin seinetwegen in traurige Gedanken, sein Schweigen, sein Ungeschick. Als er abends aus dem Tierpark zurückkommt, kocht sie für ihn – er studiert unterdessen den Zoo-Prospekt, den er dort eingesteckt hat – sie isst mit ihm gemeinsam an dem Tisch im Studio, und sie plaudern. »Wusstest du«, fragt sie R. später begeistert, »dass ein Pinguin 100 Minuten unter Wasser bleiben kann?«
Dann gehen sie zusammen ins Kino, David Lynch, »Der Elefantenmensch«, der Kathrin tief berührt und ausführlich beschäftigt. Wie das Monster immer verständlicher und sympathischer wird im Lauf der Geschichte, sie muss es immer wieder nacherzählen.
Wieder einmal wirkt sich die Unlust, das Gefühl, das Ausland nicht nur zu besuchen, sondern in ihm leben zu müssen, stark aus. Warum? Morgens sah R. am Straßenrand Gaston Salvatores BMW stehen – vom Verlag gestellt, soweit er weiß – : Einer der »hohen Herren«, wie Michel zu spotten pflegt, beehrte also die Redaktion und bedrohte das friedliche Handwerk. Dabei gibt sich Gaston Salvatore immer freundlich und umgänglich.
Allerdings stärkt er die Position von Frau K. »Und was gibt es bei euch Neues?«, fragte sie morgens beim Hereinkommen chefhaft herausfordernd. »Der Brief aus Kairo war ja sehr schön.« Sie meinte Michel und R., die Einheimischen; denn Wilhelm Genazinos Text kam über Michel hierher – sie haben also ihre Arbeit gut getan, wofür Frau K. sie lobt.
Regelmäßig könnte man in ihre Tagebücher die Kränkungen eintragen, die alle Teilnehmer im Kreis herum erleiden.
So fragte die Herausgeberin nach der Konferenz am Morgen Gaston Salvatore, ob er um eins zum Mittagessen mitkomme. Sie fragte unsicher und ängstlich. Dass sie weder Michel noch Dirk Bickel, die wie R. herumstanden, fragte, wäre in deren Kränkungstagebücher zu schreiben. In ihres aber: dass Gaston Salvatore prompt ablehnte.
Freilich: als R. mittags ins Büro zurückkehrt, steht sein BMW vor dem Tivoli. Er hat es sich anders überlegt und der Herausgeberin die Kränkung erspart.
Gaston Salvatore sitzt herum, telefoniert ein bisschen, blättert in Zeitschriften, plaudert mit Frau K., raucht, seufzt, geht nach oben in das Zimmer von Elli Ettlich, trinkt dort Kaffee, plaudert, seufzt, raucht, blättert in Zeitschriften.
Dann dasselbe wieder unten. Am Nachmittag, Elli Ettlich bringt R. sein Englisch-Wörterbuch zurück, kommt er in dessen Zimmer, legt Elli Ettlich den Arm um die Schultern und fragt weich-gequält: »Elli? Gehen wir nach oben? Kaffee trinken?«
Auch Christel Doppler hat nichts zu tun und blättert in einer Illustrierten. Als R. vorbeikommt, auf dem Weg zum Klo, amüsiert sie sich gerade über eine Ratgeber-Rubrik: Eine Frau leidet unter Zwangsideen, was sie dagegen tun soll; immer wieder muss sie nachschauen, ob sie wirklich das Gas abgestellt hat. Dann sieht sich Christel Doppler einer Reklame für Schokolade gegenüber: »Die möchte ich jetzt essen.«
Später geht R. in eine Konditorei, kauft 200 Gramm Mini-Florentiner (von der Größe eines Fünfmarkstücks) und isst sie in einem Zug auf.
Es klingelt, und jemand kommt zur Vordertür herein. R. meint Enzensbergers Stimme zu hören und versucht sich zu beruhigen: Das könne gar nicht sein, Enzensberger weile doch noch in Australien.
Aber was R. dann näher hört, lässt keinen Zweifel zu: Er ist es. Freilich kommt er nicht in das Zimmer von R. Und R. geht nur in das Zimmer von Frau K., erkundigt sich nach ihrem Auto; dessen Beschädigung durch den Unfall gestern, wiegelt sie ab, sei harmlos; R. vermeidet es, sich umzudrehen und in das Zimmer von Michel zu schauen, wo Enzensberger sitzt und liest.
Als R. am Nachmittag zurückkommt, ist er weg, und R. kann sich wieder frei durch alle Räume bewegen.
Um vier Uhr, zum Kaffeetrinken am Samstagnachmittag, kommt Hartmut Eggert. Er ist bei Jane Gerhardt und Bernd Hepp ausgezogen und logiert jetzt bei Kurt Scheel.
Die halbe Nacht musste er gestern Bernd Hepps Klagen anhören: Jane leide an einer Torschlusspanik und halte sich einen neuen, jüngeren Freund – Andeutung: mit größerer sexueller Leistungsfähigkeit. Am Mittwoch freilich aß Kathrin mit Jane Gerhardt zu Abend und hörte eine ganz andere Geschichte: Beim Besuch ihrer Schwester habe Bernd Hepp diese zu verführen versucht, die Schwester habe es ihr aber gleich angezeigt, und Bernd leugnete lauthals: Er als Busenfetischist würde doch niemals, niemals mit einer Frau schlafen wollen, die nur noch eine einzelne Brust hat (die Schwester leidet an Krebs – unsichere Überlebenschancen). Eine derart geschmacklose Verteidigung, dass sie ihn erst recht verdächtig machte.
Von hier aus habe sie, Jane, herausgefunden (erzählte sie Kathrin), wie er, Bernd, jede Menge weiterer Liebschaften unterhalte, so mit einer Apothekerin in Berlin – die ihm, wie er sich verteidigte, bloß von Nutzen sei, weil sie ihm kostenlose Beruhigungsmittel gegen seine Angstzustände beschaffe.
Insbesondere belaste es sie, Jane, dass sie letzten Dezember eine Bürgschaft über 250000 Mark für seine neue Fernsehfirma unterschrieben habe. Deshalb dringt sie jetzt auf den Verkauf des gemeinsamen Hauses.
Das alles erzählt Kathrin Hartmut Eggert aber nicht. Er wird demnächst mit Jane Gerhardt zu Abend essen und es von ihr selbst erfahren.
Nach dem Kino, »Außer Atem«, mit Rainald Goetz (und ohne Kathrin) in einer Szenekneipe gleich um die Ecke.
Ein Mädchen kommt an ihren Tisch: »Kann ich ein paar Blättchen von dir haben?« Sie hat beobachtet, dass R. die Zigaretten selber dreht – sie nimmt sich gleich mehrere aus der Packung. »Ich hab dir noch ein paar drin gelassen«, Gelächter: Tatsächlich hat sie die Packung so gut wie leer gemacht.
»Das hasse ich an dieser Szene«, erklärt Goetz, »den Sozialismus, dass sie so tun, als ob alles allen gehört.« – »Wieso?«, wiegelt R. ab, »ich hätte doch nein sagen können. Weil nur noch so wenig Zigarettenpapier übrig sei.«