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Mai

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»In der Einschätzung meiner Lage scheinen wir ja übereinzustimmen – also müssten wir uns leicht über ihre Liquidation einigen können.« Wenn R. sich an die Erfahrung der Ostertage hält, muss er den Satz als Arbeitsergebnis des ganzen Tages einschätzen.

Spät in der Nacht, nachdem Achim, der seine Tasche in einem Taxi vergessen und weder Geld noch Hausschlüssel zur Verfügung hat, gekommen und gegangen ist mit Leihgeld und seinen Ersatzschlüsseln – spät in der Nacht entsteht das zweite Arbeitsergebnis, der Gedanke, dass das Gespräch mit der Herausgeberin keinesfalls beim Mittagessen, womöglich im Tivoli stattfinden dürfe.

Der bayerische Ministerpräsident besucht Afghanistan. In dem Flüchtlingslager Nasir Bagh hält ihm der Pathanen-Häuptling Hadji Abdullah Whab eine Rede, in der er den unbedingten Willen seines Stammes, die Besatzer zu besiegen und zu vertreiben, bekräftigt. »Wir haben nicht bekommen, was wir brauchen, gebt uns bessere militärische Ausrüstungen, und wir werden der Welt zeigen, dass wir sie zu benutzen verstehen.« Der bayerische Ministerpräsident, in einen grünen Safari-Anzug gekleidet, schwitzt stark. Er reagiert verhalten auf die Mahnungen des Häuptlings, der mit den Sätzen schließt: »Als ich im letzten Krieg von Deutschlands Niederlage hörte, habe ich geweint und war verzweifelt, denn die Deutschen hatten auch gegen unsere Feinde gefochten.«

So viel gab es am Haus Bonner Straße 29 (gegenüber) heute zu sehen. Der junge Mann und die junge Frau, die R. in einem Fenster des obersten Stockwerks mal beim Geschlechtsverkehr beobachtet zu haben meint, schleppen Kartons mit nichtidentifizierbarem Inhalt – Plastikflaschen? Klopapierrollen? – zu einem vor dem Haus geparkten gelben Audi und verstauen sie darin. Von oben, aus einem anderen Fenster dieses Stockwerks, sieht ihnen ein älteres, grauhaariges Paar zu und scheint Instruktionen zu geben. Später kommt der Mann nach unten und berät beim Verstauen der Kartons. Dann erscheint eine braunhaarige Frau von Mitte 40 oben am Fenster und schaut ebenfalls zu. Abfahren sah R. den Audi aber nicht.

Welche Ideen sind entstanden? Großeltern, Eltern und Kinder in ein und derselben Wohnung? Oder Sohn und Schwiegertochter? Und diese sind mitten im Auszug begriffen, um ihr eigenes Leben anzufangen?

Gerade versank R., wie gewöhnlich, in der zerstreuten Lektüre des Spiegel, als die Hand nach dem Telefon greift und 13 wählt. »Rutschky. Wie ist es, wann kommen Sie herüber?«

Sie gibt sich ganz weich und zugänglich. Morgen vielleicht, gewiss aber übermorgen, leider okkupieren sie immer noch diese Holländer, Sie wissen schon … Zwar zitterten R. die Hände ein wenig, aber seine Stimme klang wohl fest und geradezu streng.

Sie sind mit Kurt Scheel verabredet; um zehn schauen sie sich auf seinem Farbfernseher »Hier hast du dein Leben« von Jan Troell an. Auch Achim will kommen

Aber schon um halb neun ist R. so erschöpft und gelähmt, dass er nur noch Gin Tonic trinken und fernsehen möchte, was gerade kommt. Trotzdem steigen sie ins Auto und fahren in die Klenzestraße. Doch will sich einfach kein Parkplatz auftun. Sie kurven um die Ecken des Quartiers, mehrfach dieselben, und diese Bewegung schleift sich allmählich so gründlich ein, dass R. sie gar nicht mehr unterbrechen könnte, selbst wenn da plötzlich ein freier Parkplatz wäre.

Also fährt er wieder nach Hause, der Wunsch nach Gin Tonic und Fernsehen hat gesiegt. »Quincy«, eine blöde US-Serie mit einem Gerichtsmediziner als Held (Jack Klugman). Um zehn schaltet Kathrin um auf Jan Troell – sowieso kein Farbfilm; und Kathrin erklärt nach den ersten Bildern: »Das kann ich jetzt unmöglich sehen.«

Gestern Nacht musste sie zwei Stunden mit Sigrid Hacker telefonieren und ihre wirren Selbsterklärungen anhören, wie sie jetzt ihr Leben revolutioniert; gestern Abend musste sie mit N. zum Tierarzt, eine Harnleiterentzündung, Eiter trat aus.

Mittags hatte sich Michel von Goetz und R. verabschiedet, er fahre nach Frankfurt und werde Goetz’ Manuskript, wenn es fertig ist, am Montag begutachten. Aber gegen vier Uhr kommt er wieder herein, er sei einfach zu neugierig.

Sie geben ihm die ersten Seiten. Goetz ängstigt sich so gründlich, dass er kaum sprechen kann; auch R. erfüllt Unbehagen. »Diese Situation hat mich immer gequält. Aber wie soll man es machen? Die Manuskripte müssen doch gelesen werden von den Verantwortlichen.« Sie beruhigen sich, arbeiten weiter und reden über anderes; R. bringt den Rest des Manuskripts in Michels Zimmer.

Dann kommt Michel in das Zimmer von R. und bittet sie hinüber. Enzensberger ist im Prinzip einverstanden; was ihn stört, das ist die Beschreibung von Transatlantik auf der Buchmesse. Es gibt die Regel, Transatlantik kommt in Transatlantik nicht vor. Sie gilt auch für das mehrfache Auftreten des Schriftstellers E. in dem Text.

Aber Goetz gerät so außer sich, dass er trotzig den Text zurückzuziehen droht, wenn er nicht genauso kommt, wie R. und er ihn geschrieben haben. Was wiederum E. enerviert.

Unterdessen einigt R. sich mit Michel auf kleinere Veränderungen – und ihm fällt das entscheidende Argument ein: Der Auftritt von Transatlantik bildete für das Feuilleton das zentrale Ereignis der Buchmesse, also muss die Zeitschrift an dieser Stelle von Goetz’ Bericht über seine Reise durch das Feuilleton vorkommen. »Da haben Sie Recht«, gibt E. nach, »auch wenn’s mir nicht passt.«

Goetz und R. trinken noch ein Bier zusammen; dann fährt er mit seinem alten Mercedes-Diesel zu einem Punkfest in der Nähe von Nürnberg.

Kathrin bringt aus dem Briefkasten eine Todesanzeige mit. Dieter Garbrecht, am 29. April auf einer Urlaubsreise in New York verstorben (»der Tag, an dem wir die elektrische Schreibmaschine kauften«). Schockhaft entsteht ein Gefühl der Leere, des Unglaubens, der Unwirklichkeit; »das also nennt man fassungslos«.

R. will Genaueres wissen; Kathrin hält es, was den Schock angeht, für wirkungslos. Nachmittags versucht R. Michael Schröter zu erreichen, er ist aber nicht da. Dann ruft R. doch Annette Garbrecht an: Dieter Garbrecht erlitt einen Gehirnschlag und stürzte unglücklich. Er zog sich so schwere Schädelverletzungen zu, dass er drei Wochen bewusstlos im Krankenhaus lag.

Es ist gut, dass er starb, denn die Hirnschäden wären irreparabel gewesen.

Mittags bricht Kathrin überstürzt nach Frankfurt auf: um Margarete Freudenthal (Gred Sallis) zu interviewen, die schon nächste Woche nach Israel zurückkehrt. Außerdem wird heute der Juttavater operiert, und sie hat versprochen, danach eine Woche in Kassel zu verbringen.

Abends fährt R. mit M. und dem Hund nach Schleißheim, um ihren Geburtstag mit einem Essen zu feiern. Aber die Schlosswirtschaft hat heute geschlossen – was R. irgendwie ahnte. Bleibt der Frankenhof in der Karl-Theodor-Straße; M. isst mit Appetit – »nur dass das Artischockengemüse zu salzig ist« – trotzdem fühlt R. sich irgendwie impotent, weil er ihr nicht mehr bieten konnte.

Um 22 Uhr – sie sehen im österreichischen Fernsehen einen schlechten französischen Krimi mit Romy Schneider und Maurice Ronet – ruft nicht, wie verabredet, Kathrin an, sondern der Juttabruder. Sie sei nicht bei ihnen eingetroffen, ob sie sich bei R. gemeldet habe?

Um 22.30 Uhr ruft sie dann endlich selber an, manisch erregt, und startet einen Redeschwall. Wie sie mit der alten Dame sofort in ein intensives Gespräch geraten sei. Dass Margarete Freudenthal im Frankfurter Bahnhofsviertel in einem Hotel mit haut gôut untergekommen sei. Dass ihr zweiter Mann vor wenigen Jahren mit 94 gestorben sei. Dass das Opfer offensichtlich der Sohn sei, der, von Depressionen gelähmt, in Australien vegetiere, und so weiter.

Dieter Garbrechts Mutter fragt Annette Garbrechts Vater, ob sie noch ein Valium nehmen dürfe. Sie habe bereits ein anderes Beruhigungsmittel geschluckt – bei der Übermittlung von dessen Namen entstehen Schwierigkeiten. Annette Garbrechts Mutter gibt Dieter Garbrechts Mutter das Valium, das diese mit einem Schluck Wasser hinunterspült, bevor Annettes Vater auf die Frage hat antworten können (er ist gar kein Arzt). »Was hast du da geschluckt?«, fragt ihr Ehemann (sie ließ sich von ihm heiraten nach dem Tod seines Vaters, pflegte Dieter Garbrecht zu spotten, weil der Mann schon glücklich wäre, wenn er ihr bloß die Füße küssen dürfte). »Was hast du da eben genommen?« – »Valium.« – »Was?« – »Valium.« – »Hat nicht der Arzt gesagt, du darfst nicht …?« – »Ach was. Es hat mir schon damals, als Dieters Bruder starb, sehr geholfen. Ich will hier doch keine Szene machen.«

Das ist die Szene. Sie spielt im Restaurant Krohn, dem Eingang zum Hamburger Friedhof Ohlsdorf gegenüber, kurz vor der Beerdigung.

Trotz der Szene mit seiner Mutter will R. das Lächerliche, Gezierte, manchmal geradezu Tuntenhafte von Dieter Garbrecht nicht richtig vorstellbar werden. Dass er tot ist und – in welcher Haltung? mit welchem Gesicht? – in dem Sarg da liegt, das lässt sich mit keinem Bild des lebendigen Mannes verknüpfen.

»Ich habe gestern Abend noch mit Goetz telefoniert«, erzählt R., »er hat es schwer bereut.«

Er habe sowohl Enzensberger als auch Salvatore, erzählt Michel, telefonisch die Leviten gelesen wegen ihres Auftritts am Mittwoch; Enzensberger sei einverstanden mit seinem, Michels, Vorschlag, die Buchmessen-Passage so zu fiktionalisieren, dass die Redaktion unerkennbar bleibt, eine Prozedur, der Goetz bereits zugestimmt hat.

Im Übrigen, so Michel, habe er Goetz’ Argumente genauso schlecht gefunden wie die aller anderen, aber ihm habe die Haltung gefallen: die Reportage über das Feuilleton lieber zurückzuziehen, als eine wichtige Passage daraus zu streichen.

Von Salzburg kommend, sind sie wieder über die »Deutsche Alpenstraße« nach Reit im Winkl gefahren.

M. erinnert sich, wie befriedigend sie seinerzeit die Weihnachtsferien fand, welche die Familie hier, statt zu Hause, verbrachte; wie sie während der Anreise im Zug die Frauen mit den vollen Einkaufstaschen betrachtete und sich freute, dass sie dies Jahr nicht dazu gehöre. Dass Vater und Sohn unter dem Aufenthalt litten, habe ihr nichts ausgemacht.

Sie sitzen im Hotel zur Post, und R. erinnert sich, hier an verschiedenen Abenden mit dem Vater Bier getrunken zu haben, während M. sich anderswo amüsierte – gewiss ist das Phantasie: Es wird nur ein einziger Abend gewesen sein, an dem sie, womöglich, ein Bauerntheater besuchte, das Vater und Sohn verschmähten in ihrer depressiven Verstimmung.

Dann telefoniert R. mit Kathrin: Dem Juttavater geht es schlecht, weil die Leber nicht arbeitet; zwar sprach sie heute länger mit ihm, aber die Vergiftung machte ihn konfus: Er weinte, weil er seiner Frau so schwer unrecht getan habe – Kathrin und Jutta konnten ihn nicht davon überzeugen, dass er phantasiere.

Gestern lag eine Ansichtskarte im Kasten. Ein junger Mann mit platinblonder Perücke, ausgestopften Brüsten, einer Schärpe »Miss America« quer über dem grellbunten Kleid, hält ein Schild hoch: »Not Every Boy Dreams of Being a Marine.«

Abgestempelt ist die Karte: »Boulder, Mar 27‚ 81, Colo«. Der Text: »Von der großen US-Tour Grüße. Ich finde es unglaublich aufregend. In NY könnte ich wohl leben. Herzlich Dieter.«

Vor drei Wochen starb er in der Stadt, von der jetzt zu lesen ist, dass er dort gern leben würde.

Warum Achim nicht schreibe in der Zeitschrift? Sie sind von der Schlosswirtschaft, Schleißheim, ins Rolandseck, Schwabing, gewechselt, was mehr Alkohol ermöglicht, weil Autofahren unnötig ist.

Achim erklärt, wie er jeden Tag mehr Zeit in der Redaktion verbringt, als er eigentlich müsste; wie ihm daraus das Gefühl entsteht, er habe sich »ohnehin schon viel zu weit eingelassen«. Wie er abends vor allem lesen muss (was er schon den ganzen Tag getan hat): Er macht sich ein Abendessen aus belegten Broten und liest bereits, während er es verzehrt, »wenn es nichts mehr zu lesen gäbe, müsste ich sterben«. Wie soll er da zum Schreiben kommen?

Während er das nächste Kapitel schreibt, plagen R. wieder einmal tiefe Zweifel an dem Buch. Was ihn freilich nicht vom Schreiben abhält. Er pflegt diese Art von Zweifeln zu den »masochistischen Phantasien« zu rechnen, die ihn oft heimsuchen (wie neulich die Flugangst, als es von Frankfurt zurück nach München ging). Den ganzen Tag ist Musik zu hören, Purcell, »Dido und Aeneas«; Satie, frühe Klavierstücke; Mahler, dritte, vierte, fünfte Symphonie, »Das Lied von der Erde«, »Kindertotenlieder«. Abends hat R. das Kapitel fertig; es fühlt sich, wie immer, roh und misslungen an. Aber merkwürdigerweise kann er sich gleich daranmachen, das nächste zu präparieren, bis, nach 22 Uhr, das Fernsehprogramm eingeschaltet werden darf.

Gegen halb sieben Uhr morgens holt Achim ein Exemplar seiner Schlüssel ab, das er am Samstag für den Notfall hier erneut deponiert hatte – Kathrin händigt ihm die Schlüssel aus, R. verharrt im Halbschlaf.

Er verlor, wie er später erzählt, sein ganzes Schlüsselbund bei einem Zug um die Häuser – wovon er am Samstag proklamiert hatte, dass es nie wieder vorkommen werde.

Am Nachmittag ruft R. ihn zu Hause an: Ja, er sei nicht ins Büro gegangen, wegen des Katers, insbesondere des moralischen.

Gestern Abend habe er alte Freunde besucht, und beim Nachhausekommen sei ihm ein schwerer Fehler unterlaufen: Er habe den Fernseher eingeschaltet und sich bei Szenen aus »That’s Entertainment« wiedergefunden. Die tanzenden Paare erinnerten ihn schmerzhaft an sein immer noch und immer wieder ungeklärtes Verhältnis zu Iris, so schön und harmonisch tanzen sie eben gerade nicht zusammen – äußerst schmerzhaft, der Gedanke. Da habe er sich auf eine Kneipentour machen müssen, bis in den Morgen hinein.

Wie und unter welchen Umständen ihm das Schlüsselbund abhanden kam, er weiß es einfach nicht mehr – alles andere, Geld, Papiere usw. befanden sich noch in seiner Umhängetasche.

Michel fehlt, ebenso Frau K. Den ganzen Tag beschäftigt R. sich damit, ein neues Adressbuch einzurichten. Kathrin hat es ihm zum Geburtstag geschenkt. Wichtige Regel: Name, Adresse und Telefonnummer werden mit Bleistift geschrieben, damit man sie jederzeit ausradieren und die neuen, die anfallen, eintragen kann.

Als R. ein Drittel des Buches fertiggestellt hat, kommt er auf eine andere, bessere Regel: Name, Adresse und Telefonnummer nicht unter-, sondern nebeneinander, über die Breite von zwei Seiten des Buches zu schreiben – aber R. will nicht noch einmal von vorn anfangen.

Das letzte Adressbuch, vor ungefähr zwei Jahren eingeführt, organisierte der Vordruck von vornherein in dieser Manier. Aber R. beherrschte ein solcher Zustand der Verwirrung, dass er es nicht bemerkte und mit dem Untereinander von Name, Adresse und Telefonnummer anfing, wodurch er die sinnreiche Vorgabe des Büchleins zerstörte, was, weil er mit Tinte statt Bleistift schrieb, nicht rückgängig zu machen war.

Schöner Wolkenhimmel, »nächstes Jahr«, verkündet R., »wenn ich wieder in Freiheit lebe, fahren wir nach England.«

Im Olympiapark liegt nur ein einziges Paar in der Sonne, die beiden mit dem Rauhaardackel, »schöne junge Menschen«, die R. im letzten Jahr deutlich auffielen, weil sie sich, während sie bronzebraun brieten, fortlaufend zankten.

Auch dies Jahr waren sie schon einige Male zu beobachten – Regelmäßigkeit im Bräunen wie im Zanken – dann aber schien die Frau ein neuer Kerl zu begleiten, mit dem sie zwar gleichfalls briet, aber nicht zankte.

Falsch, heute lagen sie wieder in der alten Besetzung da, wobei es R., wegen ihrer nackten Brüste, die sofort seinen Blick fixierten, schwer fiel, die Frau auf Anhieb zu identifizieren als diejenige, welche er wegen des Bräunens und Zankens schon so lange kannte.

Mit Burkhard Mueller im Frankenhof, Karl-Theodor-Straße. R. weiß nicht genau, was Mueller von ihm will; jedenfalls sitzen sie lange zusammen.

R. erklärt ihm, dass er gern schaut, seine Augen gebraucht – und betrachtet währenddessen ein älteres Ehepaar. Der Mann beschwert sich bei der Kellnerin, dass die Speisekarte sein Gericht (welches, hat sich R. nicht eingeprägt) mit Kartoffelpüree als Beilage ankündigt, er aber Bratkartoffeln erhalten habe. Die Kellnerin zuckt bedauernd die Achseln, aber der Mann insistiert. Ob sie ihm, fragt die Kellnerin schließlich, noch Kartoffelpüree bringen solle? »Ja, bitte, das wäre sehr liebenswürdig.« Schwer verständlich findet das nicht nur die Kellnerin, sondern auch R.: Das Püree liegt im Mund als ein unangenehm künstlicher Brei, die Bratkartoffeln dagegen kauen sich reell.

Unterdessen erklärt ihm Burkhard Mueller, dass er – im Unterschied zu R. – vor allem dem Hören mit Leidenschaft nachgeht, Musik, Geräusche, Text. Er besucht sehr selten das Kino, Galerien, das Museum.

Für den Abend ist Peter Sloterdijk eingeladen. Er kommt zu spät und isst kaum von den Salaten, die Kathrin zubereitet hat. Später betrachtet R. länger ein Käsebrot, das auf Sloterdijks Teller liegt und das er in Zeitlupe verzehrt.

Das Gespräch bewirkt – wie Kathrin später vermerkt – Regression. »Keiner von uns beiden hat einen Satz gesagt, den er nicht schon tausendmal von sich gegeben hätte.« Dialektik der Aufklärung, das Desinteresse an Allgemeinbegriffen, Literarisierung der Wissenschaft et cetera.

Sloterdijk appliziert eine spezielle Diskussionstechnik: Er übergeht jeden Widerspruch zu seinen Ideen und Argumenten, er beginnt einfach eine neue Kette von Ideen und Argumenten. Bewusstseinsstrom, unbeeinflussbar.

Spät, nach 24 Uhr, entsteht doch noch ein Fight: um Freud. Sloterdijk hat eine sogenannte Primärtherapie hinter sich und plädiert für therapeutischen Eklektizismus, Urschrei, Bioenergetik, was immer du magst. R. hat viel zu viel Wein getrunken, um dem scharfen Austausch zwischen Kathrin und Sloterdijk noch folgen zu können. Zum Schluss zeigt Sloterdijk sich hilflos: Sie sei so aggressiv, das sei ihm neulich schon aufgefallen, im Frankenhof, als sie Elias’ Wissenschaftstheorie attackierte, warum so aggressiv?

»Der kommt mir nicht mehr ins Haus«, resümiert Kathrin, als er die Treppe zum Ausgang hinuntergeht und sie ihm nachschauen.

Mitgeschrieben

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