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September

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Mit Konni, erzählt Marianne Katz, sei es sehr schön gewesen. »Ich habe 20 Jahre auf ihn gewartet, und jetzt ist er gekommen.«

Konni ist ihr Neffe. Zu Zeiten seiner Taufe wurde sie gerade konfirmiert. Stets habe sie sich irgendwie mit ihm verknüpft, verglichen. Und eben »auf ihn gewartet«, was immer das heißt. Wie deutlich »jetzt ist er gekommen« sich auch anhört, es hat gerade nichts damit zu tun.

Kathrin machen diese, wie sie sagt, »sozial-astrologischen Kalkulationen« ganz krank, wieder einmal, an diesem Abend. »Und dabei mag ich Frau Katz gern.«

Weil sie die Entscheidungsfragen bald geklärt hat, wird die Konferenz gemütlich. Es beginnt ein Plaudern, das nicht enden will; keiner nimmt eine Pause zum Anlass, aufzustehen und »so!« zu sagen (R. täte es wohl gern).

Enzensberger macht Schüttelreime: »Das Schwein an seinem Trog erwägt, / Wie lange es noch Vogue erträgt.« Die Herausgeberin schaut R. fest an und erzählt, dass der Subchefredakteur von Vogue 150000 Mark im Jahr verdiene.

Später erzählt sie von einer Sekretärin namens Gabi und von Rosi Cieslak, der Korrektorin, dass sie die beiden regelmäßig beim Plaudern erwischt – und Bernd Bexte weist darauf hin, dass jeder, der sie hier sähe, schließen würde: »Die haben wohl nichts zu tun.«

Gelächter.

Schließlich muss einmal festgehalten werden, wie es mit dem Händeschütteln steht. Frau K. und R.: keinesfalls. Dirk Bickel und R.: ebenso wenig; freilich hat das keine polemische Bedeutung. Dass Michel und R. einander nicht die Hand schütteln, möchte R. als Ausdruck der gegenseitigen Wertschätzung deuten.

Anders ist es bei den Außenstehenden. Gaston Salvatore gibt R. grundsätzlich die Hand, ebenso Bernd Bexte. Enzensberger und R. tauschen in der Regel leicht zeremonielle Verbeugungen aus, doch besteht er manchmal – so gestern zum Abschied – auf dem Händedruck. Die Herausgeberin pflegte früher bei Konferenzen – wenn sie schon da war und R. hinzukam – aufzustehen und ihm die Hand zu geben, doch hatte R. ihr das irgendwann abgewöhnt.

Frau K., Salvatore, Enzensberger und die Herausgeberin pflegen zuweilen einander mit Wangenküssen zu begrüßen bzw. zu verabschieden. Einmal, ganz am Anfang, versuchte Frau K. das auch mit Michel – doch er wurde rot und machte eine ironische Abwehrgeste, und sie wiederholte es nie wieder.

An der Grenze zwischen Schwimmer- und Nichtschwimmer-Bereich steht ein runder älterer Mann in der Hocke, der sich ruhig und regelmäßig nach rechts und links, vorn und hinten umblickt.

Er trägt eine Schwimmbrille. Ebenso ruhig und regelmäßig taucht er unter Wasser, wo man ihn sich wiederum umblicken sieht –: Offenbar besichtigt er aus der Nähe die Genitalzonen von Kindern, die er sich oben ausgeguckt hat.

Alles beginnt in einem Hotel, bei einer Konferenz, die sich gerade auflöst. Am Rande nimmt Franz Josef Strauß – bemerkenswert schüchtern und unbeholfen – R. beiseite und fordert ihn auf, doch noch etwas Grundsätzliches über die Lektüregewohnheiten der Jugend zu sagen. Aber R. muss zum Bahnhof und will vorher noch einen Film sehen. Obwohl in dem Kino gut sichtbar eine Art Bahnhofsuhr hängt, findet R. nicht richtig heraus, ob noch genug Zeit für den ganzen Film bleibt – als er das Kino vorzeitig verlässt, ist es trotzdem schon zu spät.

Eine Art Rikschafahrer will ihn zum Bahnhof bringen. In seinem Gefährt gibt es freilich keinen Sitz, und R. hockt unbequem zwischen Geräten für Gartenarbeit. Es dauert nur kurz, bis R. herausfindet, dass sie gar nicht durch die Stadt, vielmehr durch einen Film fahren, einen Zeichentrickfilm. Der Fahrer hat kein Gesicht, sondern eine Maske, die, an den Ohren befestigt, im Rhythmus der Fahrbewegungen auf und ab schaukelt.

Plötzlich geht es quer durch eine Sanddüne. Schwer geängstigt sucht R. dies zweite Kino zu verlassen, er findet in seinen Vorzimmern, die gerade geräumt werden (wie am Anfang das Hotel), einen Hinweis auf Theodore White und identifiziert sogar einen Mann, der ein wenig wie Allen Ginsberg ausschaut, als denselben, der sich darüber wundert.

Er sollte R. Auskunft geben über den ganzen Zusammenhang und ihn zum Bahnhof geleiten. Doch ist nicht er es, der das dann tut, sondern Konrad Ehlich, der alte Schulfreund. Als sie endlich in der Bahnhofshalle stehen, bemerkt R., dass Konrad Ehlich der Kopf fehlt – ja, bestätigt der, den Kopf habe er bei einem Autounfall verloren. Während er spricht, fixiert R. statt der Augen seinen obersten Kragenknopf.

Aufgewacht, ist R. immer noch voller Angst, die nur langsam schwindet.

Goetz kommt R. auf der Straße entgegen, und sie gehen nach oben, in die Wohnung. »Wir haben uns vorhin schon gesehen«, bemerkt Kathrin kurz. Es ist nicht viel Zeit, R. muss gleich wieder ins Büro, Goetz geht zur U-Bahn, und R. fährt Kathrin noch zur Staatsbibliothek.

Sie habe, erzählt sie, den Hund ausführend, Goetz auf der Straße getroffen, habe ihm erklärt, dass R. noch im Büro sei, aber gleich kommen werde – »gut«, habe er geantwortet, »dann warte ich so lange da drüben«.

Er wollte also nicht mit ihr allein in die Wohnung kommen. Warum? – »Weil er es auf dich abgesehen hat, weil er eifersüchtig ist.« Zuerst kommt ein schlechter amerikanischer Film von 1977. Auf einem Passagierdampfer, der von den Philippinen nach San Francisco fährt, bricht eine Viruserkrankung aus; kurz vor seinem Tod gesteht der Schiffsarzt ein, dass er nur ein schlechter Mediziner war; der Erste Offizier erklärt seiner Reisebekanntschaft, dass er mit ihr die erste große Liebe seines Lebens erfahren hat; das flatterhafte junge Ding verlobt sich mit dem ernsthaften Chirurgen.

Danach kommt ein berühmter amerikanischer Film von 1958. Ein schwarzer und ein weißer Sträfling fliehen, mit einer Kette aneinander gefesselt; auf der Flucht gehen ihnen sozusagen die Menschenrechte auf.

»Herrlich«, sagt Kathrin hinterher, »wie Meeresrauschen; als ob man im Strandkorb sitzt und auf die Brandung schaut.«

Zwar geht R. diesmal in ein anderes Friseurgeschäft. Aber auch hier gelingt es ihm nicht, dem Mädchen klarzumachen, dass sie die Haare im Nacken »anschneiden« soll (so hieß das in seiner Kindheit). Um den Wunsch zu äußern, steht ihm nur dies eine Wort zur Verfügung – er versucht es gar nicht erst mit anderen Worten, mit Umschreibungen. Und die Hoffnung, in diesem Laden werde man automatisch wissen, was ihm vorschwebt, bleibt unerfüllt.

Zum Ritual gehört, dass R. pünktlich um fünf Uhr nachmittags nach oben geht und sich im ehemaligen Badezimmer der Bogenhausen-Villa, wo die Getränke lagern, eine Flasche Bier holt.

Mit dieser Flasche in der Hand die Treppe hinuntergehend, weiß R. regelmäßig mit Sicherheit, wer gerade da ist, schaue auf diese Flasche und erkenne ihn als Alkoholiker.

»Merkwürdige Stadt, dies Frankfurt«, sagt R. zu dem Mädchen, das ihn im Taxi zum Flughafen fährt, »ich habe Anfang der Sechziger mal hier studiert.« – »Ach ja. Und was?« – »Germanistik, Philosophie, Soziologie – all that jazz.« – »Und was macht man später als Germanist? Ich studiere nämlich auch Germanistik und weiß immer nichts zu sagen, wenn die Leute fragen, was ich später damit machen will.«

R. erklärt ihr, er sei geworden, wovon viele Germanistikstudenten träumen, nämlich Redakteur, R. beschreibt ihr die Redakteursarbeit, und sie scheint angetan – von einem Job also, der R. tief missfällt, ihn unglücklich macht; alles andere als die Einlösung eines Jugendtraumes bietet.

Am Flughafen dann bestaunt er ihren Kofferraumdeckel, der sich vom Armaturenbrett aus mit einem Knopfdruck öffnen und schließen lässt.

Mittags geht R. mit N. im Olympiapark spazieren (Kathrin studiert in der Bibliothek). Der Wind weht frisch, ein dramatischer Wolkenhimmel mit immer wieder durchbrechendem Sonnenlicht – R. quält sich mit Erinnerungen an das Fest am Samstag, an den Frankfurter Aufenthalt insgesamt, der Alkohol, was er geredet habe, was zu ihm geredet wurde.

Das Unbehagen hat keine Gestalt; ein undeutlicher Lärm; R. könnte nicht sagen, was er falsch gemacht hat. Unterdessen läuft der Hund am Wasser entlang und setzt sich immer wieder hin, damit R. endlich den Tennisball hineinwirft und er hinterherschwimmen kann.

Doch R. weigert sich; es sei zu kalt, sagt er sich, allmählich müssten sie das Schwimmen des Hundes einschränken. Doch überzeugt ihn das immer weniger während des Spaziergangs; der Gedanke gerät in den Strudel der Selbstbeschuldigungen – genau jetzt mache er etwas falsch, indem er nämlich N. sein gewohntes Wasservergnügen verweigere.

Er habe sich zurückmelden wollen, erzählt Goetz. Er habe Kathrin mit dem Hund auf der Straße getroffen und gefragt, wie es gehe. Nicht besonders, habe sie erwidert; vor allem gingen ihr in der letzten Zeit die Leute auf die Nerven – aber R. werde gleich zurück sein aus dem Büro.

Da habe er, erklärt Goetz, selbstverständlich angenommen, Kathrins Unwille gegen »die Leute« beziehe sich auch auf ihn; deshalb habe er unten auf der Straße gewartet, bis R. käme – als R. endlich eintraf, habe er Kathrin gerade Bescheid sagen wollen, dass er jetzt verschwinde.

»Niemand hätte das gedacht«, erzählt die Herausgeberin. »Die Druckerei hatte die besten Referenzen – im Frühjahr prüften sie noch ausführlich unsere Bücher, ob mit denen alles in Ordnung ist. Jetzt muss nur noch geklärt werden, ob sie richtig bankrott sind oder ob sie bloß liquidiert werden.« – »Das ist immer so«, erklärt Enzensberger überlegen. »So wird es auch laufen, wenn die Chase Manhattan Bank am Ende ist.«

Später erhält die Herausgeberin einen Anruf, »ich muss jetzt rüber; anscheinend sind sie doch bankrott.« Unzweifelhaft belebt so etwas wie Freude den Raum.

»Das ist ja scheußlich«, so Kathrin. – »Unglaublich«, so M. – »Das sieht ja aus wie Bebra«, so R.

Sie befinden sich in Vaduz, Liechtenstein. Der Gedanke an das winzigkleine Fürstentum muss allerlei zauberhafte Phantasien geweckt haben; M. erinnerte sich bei der Herfahrt an das arme, aber anmutige Fürstentum Grimmburg in Thomas Manns »Königliche Hoheit«. Hier jedoch schaut es tatsächlich aus wie Bebra; nur dass es von einer mittelalterlichen Burg überragt wird, die man nicht besichtigen kann und in der die Fürstenfamilie residiert. Vielleicht versammelt sich dort alles Zauberhafte von Liechtenstein.

Kempten. Im Restaurant Fürstenhof sitzt am Nebentisch ein Mann, allein, und liest Die Welt. Er trägt einen cognacfarbenen, leicht glänzenden Rollkragenpullover. Er hat eine ganze Flasche Weißherbst bestellt, mit der er den Abend verbringen will. Freilich kann er sich nicht selber nachgießen: Die Flasche ist in einem silberfarbenen Eiskübel deponiert, der auf einer gleichfalls silberfarbenen Säule so weit vom Tisch entfernt steht, dass jedesmal der Kellner für das Nachgießen herbeigewinkt werden muss. Kontrolliert das feine Restaurant so den Alkoholismus seiner Gäste?

Um 15 Uhr findet eine Art Betriebsversammlung statt, der Verleger erklärt, dass die Druckerei pleite sei, dass man aber eine neue finden werde, dass die Lage nicht einmal ernst sei, dass vor allem strikter Termingehorsam gefordert werde.

Durch das Fenster sieht man Klaus Kunkel aus dem Haus gehen. »Ich bin«, flüstert Michel, »einfach nicht Ratte genug, um das sinkende Schiff zu verlassen.«

R. kommt in Michels Zimmer. »Ich habe keine Lust mehr«, klagt er. Den ganzen Nachmittag hat er mit Enzensberger, Frau K. und Gaston Salvatore in dessen Kellerquartier (das Michel Führerbunker nennt) zugebracht, Projekte machen. »Das sind doch alles Kinder.«

Er leidet wieder an Kopfschmerzen; »Manuskripte lesen, das geht noch. Aber schon, wenn ich Sie ansehe« – er tut es – »sticht es richtig in die Augen.« Er ist geradezu herzlich, und R. wird geradezu fröhlich.

Den ganzen Nachmittag grübelte er, ob er gleichfalls in den Führerbunker gehen und sich an der Konferenz beteiligen sollte. Doch wäre es wieder dasselbe gewesen wie von Anfang an: Dabeisitzen, lächeln, ein bis zwei belanglose Sätze sagen in das Phantasieren der Chefs hinein.

R. kommt in das Zimmer von Frau K., wo sie sich mit Michel unterhält. »Der arme Gundolf.« – »Was ist denn?« – »Das können Sie sich doch denken.«

Sein »Waldemar Müller« und nicht der von Gaston Salvatore steht im nächsten Heft, weil Gaston Salvatore zahllose Sachfehler unterlaufen sind, Fehler im Hinblick auf die Prozeduren einer Bundestagswahl, Rosi Cieslak hat sie im Einzelnen aufgelistet.

Und überhaupt stört Gaston Salvatore die Produktivität von Gundolf Freyermuth – er habe sich schon mit der Herausgeberin darauf verständigt, dass das nicht der geeignete Nachfolger für R. sei.

»Sie müssen es doch wissen, Michael«, sagt Michel und legt R. die Hand auf die Schulter, »dass in diesem Hause Sündenböcke gebraucht werden.« – »Wenn das so weitergeht«, sagt Frau K., »sage ich dem Gundolf Bescheid, dass er sich lieber einen anderen Job sucht.«

»Ich bin mir böse«, erklärt R. weinerlich, mehrmals während des Tages, immer wenn Kathrin fragt, wie er sich fühle. Er nimmt es sich übel, dass er gestern Abend, bei dem Fest zum einjährigen Bestehen der Zeitschrift, plötzlich sturzbetrunken war. Es muss damit angefangen haben, dass Elli Ettlich nach seinem Geburtsdatum fragte zum Zweck astrologischer Spekulationen, eine Angabe, die er ihr verweigerte. Dann saß er lange auf dem Klo, mit geschlossenen Augen, den Kopf in die Hände gestützt, und hörte den Alkohol singen. Dann kam er – so Kathrin, R. weiß gar nichts mehr davon – zurück und terrorisierte sie, Kathrin, sie müssten jetzt unbedingt nach Hause, sofort. Dann Blackout und heute nur den ganzen Tag lang ein Gefühl, das sich nicht richtig ausschöpfen lässt, als hätte er während des Blackouts ungeheuerliche Schandtaten begangen. Dabei schmerzt sein Nasenbein; er muss irgendwo heftig angestoßen sein.

Frau K. hat augenscheinlich Geburtstag: auf ihrem Schreibtisch stehen Blumensträuße und eingewickelte Flaschen mit Wein oder Likör. Doch ist sie noch nicht da, R. geht in sein Zimmer zurück und schließt die Tür, wie gewöhnlich.

Dann kommt sie, R. hört Dirk Bickel und Christel Doppler ihr gratulieren. R. zögert einen Augenblick, dann geht er hinaus und auf sie zu, »herzlichen Glückwunsch.« – »Ach, Sie auch! Danke!« – Vielleicht hat sie es sich ausgemalt während der Herfahrt, dass R. ihr gewiss nicht gratulieren werde zum Geburtstag.

»Wie alt werden Sie denn?«, fragt R. mit einem Grinsen, das ausdrückt: so etwas fragt man eine Frau nicht. – »Zweiunddreißig«, antwortet sie mit einem anderen Grinsen, das ausdrückt, dass sie nicht zu den Frauen gehört, die man so etwas nicht fragt.

J. R. Ewing interessiert sich für eine aufstrebende Country-Sängerin, die eigentlich Ray, dem Verwalter der Southfork-Ranch angehört. J. R. verschafft ihr einen Schallplattenvertrag; mit der Sonderklausel, dass sie beim Inkrafttreten nur noch ihm zur Verfügung stehe. Mit Ray unter Vorwänden Schluss zu machen bleibt ihr erspart, weil er die beiden in ihrer Wohnung im Bett ertappt.

»Die Leute sind wirklich aus Styropor«, erklärt Kathrin. – »Und man könnte nicht sagen, dass sie vögeln oder gar ficken, nein, allenfalls pimpern sie.«

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