Читать книгу Verfassungsprozessrecht - Michael Sachs - Страница 12

|6|III. Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit

Оглавление

15Aus der Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit sollen hier nur wenige Eckpunkte angesprochen werden. Im weitesten Sinne sind als Vorläufer des BVerfG das Reichskammergericht und der Reichshofrat zu nennen, die allerdings nicht speziell mit der Entscheidung von Verfassungsfragen befasst waren. Daneben wurden in der Zeit des alten Deutschen Reiches bis 1806 Verfassungsstreitigkeiten vielfach durch sogenannte Austrägal-Instanzen entschieden, die aus konkretem Anlass eingesetzt wurden.

16Im 1815 begründeten Deutschen Bund, der noch keinen Bundesstaat, sondern einen völkerrechtlichen Staatenbund darstellte, konnten Streitigkeiten entweder durch die Bundesversammlung oder durch ein besonderes Schiedsgericht entschieden werden (vgl. Art. 11 Abs. 4 Deutsche Bundesakte von 1815 und Art. 21–24 Wiener Schlussakte von 1820). In der Reichsverfassung von 1849 (der sog. Paulskirchenverfassung) waren dem dort vorgesehenen Reichsgericht im Rahmen seiner umfassenden Zuständigkeiten nach Art. 126 auch verfassungsrechtliche Fragen zur Entscheidung zugewiesen; wegen des frühzeitigen Scheiterns dieser Verfassung ist dies indes nicht praktisch bedeutsam geworden. In der bundesstaatlichen Reichsverfassung von 1871 war nach Art. 76, 77 der damalige Bundesrat namentlich für Entscheidungen über verfassungsrechtliche Streitigkeiten zwischen den Ländern sowie innerhalb der Länder berufen.

17Schon früher als auf der gesamtstaatlichen Ebene hatte sich die Verfassungsgerichtsbarkeit in Einzelstaaten des Deutschen Bundes von 1815 entwickelt. Solche Staatsgerichtshöfe konnten insbesondere über Streitigkeiten zwischen den Ständeversammlungen und den Monarchen entscheiden; daneben war die Ministeranklage verbreitet, über die die Verantwortlichkeit der Regierung sichergestellt werden sollte (→ Rn. 439).

18Eine echte Verfassungsgerichtsbarkeit wurde auf Reichsebene erstmalig in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 verwirklicht. Vorgesehen war insbesondere ein Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, der vor allem über Streitigkeiten bundesstaatlichen Ursprungs zu entscheiden hatte (vgl. etwa Art. 15 Abs. 3 und Art. 19 WRV). Außerdem war eine Anklage des Reichspräsidenten beim Staatsgerichtshof vorgesehen (s. Art. 59 WRV). Unabhängig von dieser spezifischen Verfassungsgerichtsbarkeit war aber auch das Reichsgericht mit Aufgaben betraut, die heute von den Verfassungsgerichten erledigt werden. Dies gilt namentlich für die in Art. 13 Abs. 2 WRV vorgesehene Möglichkeit, in einem Normenkontrollverfahren die Vereinbarkeit von Landesrecht mit dem Reichsrecht zu überprüfen. Eine Kontrolle der Reichsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit war hingegen nicht geregelt. Die Frage, ob die Gerichte allgemein berechtigt waren, im Rahmen eines „richterlichen Prüfungsrechts“ über die Verfassungsmäßigkeit der von ihnen anzuwendenden Gesetze zu befinden, blieb während der kurzen Lebensdauer der Weimarer Verfassung im Streit. Der österreichische Verfassungsgerichtshof kannte demgegenüber schon seit der Bundes-Verfassung von 1920 ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle bezogen auf die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen.

19|7|Daran konnte nach dem Zweiten Weltkrieg die Verfassung des Freistaates Bayern von 1946 anknüpfen, die dem Bayerischen VerfGH u.a. Zuständigkeiten für den Organstreit, die abstrakte Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde zuwies. Dieses Vorbild ist über bayerische Vorschläge im Rahmen des Herrenchiemseer-Konvents für die Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz prägend geworden.

20Die dort vorgesehene Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit entsprach von Anfang an weitgehend ihrer heutigen Form, kannte allerdings noch keine Verfassungsbeschwerde. Diese wurde aber bereits mit dem BVerfGG von 1951 geschaffen und 1969 dann ins GG übernommen. Das BVerfGG hat seinerseits seit 1951 vielfältige Änderungen erfahren. Hervorzuheben sind dabei:

 die Abschaffung des Gutachten-Verfahrens,

 die Änderungen im Zusammenhang mit Zahl und Amtsdauer der Richter sowie zuletzt im Hinblick auf die Richterwahl durch den Bundestag,

 die wiederholt umgestaltete Vorprüfung von Verfassungsbeschwerden bis hin zur aktuell geltenden Möglichkeit der Entscheidung durch Kammern des BVerfG, die inzwischen auch bei Richtervorlagen vorgesehen ist,

 die Ergänzungen im Hinblick auf die Zuständigkeiten nach dem Untersuchungsausschussgesetz,

 die Regelung des Kompetenzfreigabe-Ersetzungsverfahrens

 sowie zuletzt die Einführung der wahlrechtlichen Nichtanerkennungsbeschwerde und der Verzögerungsbeschwerde.

Verfassungsprozessrecht

Подняться наверх