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1. Leriana

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Wolken, Land und Wasser

Fantasy

von

Michael H. Schenk

© 2021

An-Nerriva, Handelsschiff der Antari, im Besitz der Handelsfamilie Leri

„Da kommt etwas auf uns zu … Zwei Tausendlängen voraus.“ Lerianas Stimme klang angespannt. „Es ist groß und fest.“

„Du redest Unsinn, Kind. Es kommt nicht auf uns zu, sondern wir schwimmen ihm entgegen. Konzentriere dich. Es ist wichtig, dass du das richtig deutest. Käme es auf uns zu, wäre es ein lebendes Objekt. Da wir ihm uns nähern, handelt es sich jedoch wahrscheinlich um kein lebendes Wesen.“

„Das ist jetzt nicht hilfreich, Vater“, seufzte sie, obwohl sie sich eingestehen musste, dass er natürlich recht hatte.

„Entspanne und konzentriere dich“, schaltete sich nun Meistermagier Donberon ein. „Du weißt, was davon abhängt. Und manövriere nicht aus der Bewegung, sondern aus dem Halt.“

Leriana nickte und dachte an das, was man sie seit Kindesbeinen gelehrt hatte. Den Geist von der eigenen Person freizumachen, ihn auszuschicken und mit seiner Hilfe zu erkennen, was sich außerhalb des Unterwasserschiffes tat. „1.800 Längen voraus. Ein großes und massives Objekt. Es dehnt sich zu den Seiten und in der Höhe aus.“ Sie lächelte unwillkürlich. „Es ist die Steilküste der flachen Gewässer.“

Ihr Vater und der Hochmagier schwiegen und Leriana wusste, dass sie recht hatte. Diese Gewissheit half ihr, sich tatsächlich zu entspannen, trotz der Bedeutung, welche diese Fahrt für sie besaß. Am heutigen Tage prüfte Donberon ihre Fähigkeit des Geistsehens und ob sie künftig in der Lage sein würde, ein Unterwasserschiff, auch in der Finsternis des tieferen Meeres, zu führen.

Leriana war noch sehr jung und stand gerade an der Schwelle, an der ein weibliches Wesen des Wasservolkes zur Frau wurde. Die langen roten Haare waren zu einem Nackenzopf geflochten und das hübsche Gesicht wurde von grünen Augen dominiert. Sie besaß jene weiblichen Formen, die auch einem Mann der Landmenschen gefallen konnten, solange er die Kiemen an den Seiten ihres schlanken Halses ignorierte. An Land bedeckte Leriana diese mit einem verzierten Halsband, denn bei manchen Landbewohnern riefen die Kiemen ungute Empfindungen hervor. Sie trug die eng anliegende Kleidung der Händler des Wasservolkes: rote wadenlange Hosen und eine grüne Jacke, deren Ärmel bis zu den Ellbogen reichten.

Schiff und Besatzung gehörten zu den Antari, einem der Clans des Wasservolkes, die in den seichten Gewässern der Küsten lebten. Die Kiemen erlaubten ihnen das Atmen im Wasser und die Lungen wiederum, sich uneingeschränkt an Land zu bewegen. Der Wechsel zwischen Wasser- und Luftatmung war unkompliziert, jedoch von einem kurzen, schmerzhaften Brennen begleitet.

An diesem Tag führte sie die An-Nerriva. Das Unterwasserschiff war alt und vor vielen Generationen von einem anderen Clan erbaut worden. Damals war sein Rumpf aus Keramik, Klarstein und Stahl das Neueste in der Schiffsbautechnik gewesen. Inzwischen war das Schiff veraltet, da es nicht in mehrere Kammern unterteilt war und es keine metallenen Sprechrohre gab, die eine Verständigung zwischen Bug und Heck erleichterten. Die An-Nerriva maß rund neunzig Längen, war fünfundzwanzig breit und zehn hoch. Von vorne glich sie einer flachen Ellipse, von der Seite einem schlanken Finger. Die Hülle wirkte glatt, wenn man von den flachen Rillen absah, an denen die Keramikplatten der Panzerung aneinanderstießen. Das einst makellose Beige war an vielen Stellen von Grün bedeckt, wo Algen wuchsen. Sie mussten immer wieder mühsam von Hand abgeschabt werden, da sie die Strömungseigenschaften des Schiffes beeinflussten und es langsamer machten. Vorne, am Bug, befand sich die Brücke, die fast rundum mit Klarstein verglast war. Sie bot freie Sicht, sofern das Licht der Sonne bis in jene Tiefe reichte, in der sich die An-Nerriva bewegte. Hinten, am Heck, drehte sich der mächtige Propeller, der das Schiff antrieb und hinter dem die kreuzförmig angeordneten Ruderblätter der Seiten- und Tiefensteuerung montiert waren.

Ja, die besten Jahre der An-Nerriva waren vorbei. Sie hatte ihre Karriere als Flaggschiff eines Clans begonnen und nun, nach so vielen Jahren, diente sie dem Handelshaus Leri. Lerianas Vater Lerimont hatte sie günstig erstanden und ihr Rumpf bot genügend Raum, um Handelswaren und andere Güter zu transportieren.

Die Antari des Wasservolkes handelten mit anderen Clans ihrer Art und mit dem Landvolk des nahen Kontinents. Die weiten Wege führten oft durch die ewig finsteren Tiefen des Meeres, in welche das Licht der Sonne nicht reichte. Dann war es überlebenswichtig, dass der Führer eines Schiffes, der Sanari, die Fähigkeit des Geistsehens in Perfektion beherrschte. Dieser Tag sollte zeigen, ob sich Leriana dafür eignete.

Ihr Vater Lerimont war entsprechend nervös. Die grauen Haare und tiefen Falten in seinem Gesicht verrieten sein hohes Alter. Er wollte die Geschicke seines Schiffes möglichst bald in jüngere Hände übergeben und das Handelshaus künftig von der Stadt aus leiten. Er trug die gleiche Kleidung seiner Tochter, doch als Handelsherr stand ihm zusätzlich eine rote Schärpe zu, die um die Taille getragen wurde und deren beide Quasten an der rechten Hüfte herabhingen. Die Blicke von Lerimont pendelten unruhig zwischen der Tochter und jenem Mann, der über ihr Schicksal entscheiden würde.

Hochmagier Donberon war noch deutlich älter als der Handelsherr. Sein Haupthaar und der Vollbart schimmerten silbrig. Er trug die weiße Kappe, Jacke und Hose der Magier und, als Zeichen seines hohen Ranges, eine blaue Schärpe mit goldenen Symbolen. Im Augenblick zeigte sein Gesicht ein sanftes Lächeln, was Lerimont ein wenig beruhigte. Der höchste Magier der Antari schien mit den Leistungen der jungen Leriana durchaus zufrieden.

„Entfernung noch eine Tausendlänge.“ Leriana hätte gerne die Augenbinde abgenommen, die ihr helfen sollte, sich auf das Geistsehen zu konzentrieren. Doch der Blick auf die Instrumente der Brücke oder hinaus ins Meer blieb ihr verwehrt. „Tiefe zweihundert Längen. Kurzarm zurück. Wir müssen langsamer werden.“

Das Schiff war nicht mit Wasser geflutet, obwohl die Kiemenatmung dies zugelassen hätte. Dies war dem Antrieb der An-Nerriva geschuldet, der aus einer langen Antriebswelle bestand, die eine ungewöhnliche Form aufwies. Obwohl sie prinzipiell einer zentralen Achse folgte, ähnelte sie in gewisser Weise einer Ziehharmonika, denn sie wies Ausbuchtungen auf, die einander gegenüberlagen. Diese waren nichts anderes als eingearbeitete Handgriffe. Die Schnelligkeit des Schiffes beruhte auf der Muskelkraft jener Seemänner, die rechts und links der Welle auf ihren Bänken saßen und durch ihre Kurbelei die Drehrichtung und die Geschwindigkeit bestimmten.

Koros, der Steuermann der An-Nerriva, wiederholte Lerianas Befehl. „Kurzarm zurück! Wollos, ich kann deine Armmuskeln genau sehen. Entweder legst du dich in die Welle oder ich schneide dir den Zopf! Verdiene dir dein Armgeld. Kurzarm ist befohlen!“

Der gescholtene Seemann errötete und straffte hastig seine Haltung.

Die Männer stoppten die Bewegung der Welle und drehten sie dann langsam in Gegenrichtung. Die An-Nerriva wurde langsamer, bis sie schließlich zum Stillstand kam.

Der Hochmagier hatte verlangt, dass Leriana das Schiff nicht in der Bewegung steuerte, sondern aus dem Halt. Sie musste die An-Nerriva somit für jede Änderung von Richtung oder Tiefe zum Stillstand bringen. Ein umständliches und zeitraubendes Verfahren, doch auch dies diente dem Magier dazu, die Fähigkeit des Geistsehens zu prüfen. Ein Schiff stand nicht einfach still. Strömungen beeinflussten es. War zudem das Gewicht nicht exakt ausgeglichen, so konnte es absinken oder aufsteigen. Auch diese Bewegungen musste ein fähiger Sanari spüren.

„Wir haben Auftrieb“, stellte Leriana nach kurzer Zeit fest. „Soll ich aufsteigen, Hochmagier, oder ausgleichen?“ Sie konnten Wasser in die Ballasttanks aufnehmen oder dieses mit Pressluft entfernen.

Donberon schüttelte den Kopf. „Du kannst nun frei manövrieren, Leriana, denn du hast ohne Zweifel die Befähigung des Geistsehens und der Rat der Antari wird dir sicherlich die Führung jedweden Schiffes anvertrauen. Steuere die An-Nerriva nun ins flache Gewässer, nahe der Küste“, entschied er.

Lerianas Freude war kaum zu übersehen, obwohl sie sich auf ein Lächeln und eine knappe Verbeugung beschränkte. „Ich danke dir, Hochmagier.“

Dieser sah Lerimont an. „Wo wir schon einmal hier sind, da können wir uns auch umsehen, ob sich lohnendes Handelsgut finden lässt.“

Lerimont nickte. „Dem stimme ich zu. So haben wir doppelten Nutzen aus der Armkraft der Männer. Die Prüfung meiner Tochter und vielleicht lohnende Fracht. An diesem Küstenabschnitt waren wir noch nicht.“

Donberon lachte leise. „Nur fremde Gewässer taugen für die Überprüfung der Gabe.“

„Nimm die Binde ab, mein Kind, und bringe uns näher zur Küste. Wir wollen einmal sehen, welche Schätze diese Wasser zu bieten haben.“

Während Leriana erleichtert die Augenbinde entfernte und ihre Anweisungen gab, entspannte sich nun auch ihre Vater endgültig. „Nun, Hochmagier, was meinst du?“

„Die Magie des Geistsehens ist stark in deiner Leriana, Handelsmeister. Sie wird eine ausgezeichnete Sanari sein.“

Ein solches Lob aus dem Mund des Meistermagiers war eher selten. Lerimont selbst hatte einst von Donberon nur ein „akzeptabel“ als Bewertung erhalten. Umso mehr freute ihn dessen Urteil über seine Tochter.

Leises Knacken war im stählernen Spantenwerk der An-Nerriva zu vernehmen, als sich der Wasserdruck veränderte. Langsam stieg das Handelsschiff auf ebenem Kiel nach oben. Der Bug war auf die Felsen der Steilküste gerichtet. Sie lag noch im ewigen Dunkel, doch je höher das Schiff stieg, desto mehr Sonnenlicht gelangte bis in ihre Tiefe. Zunächst schemenhaft, dann mit aller Deutlichkeit, wurden die schroffen Felszacken vor dem Klarstein des Bugs sichtbar. Das zunehmende Sonnenlicht schien mit seinen goldenen Strahlen gegen die Dunkelheit anzukämpfen und sie immer stärker zu bezwingen, bis die Pracht der Unterwasserwelt in all ihrer Vielfalt sichtbar war.

Die Gewässer vor der Küste dieser großen Insel waren flach. Bis zu zwanzig Tausendlängen vom Ufer entfernt, betrug sie kaum mehr als fünfzig Längen, bis sie an der Steilküste jäh abfiel und der Meeresgrund ins Bodenlose zu stürzen schien.

Die An-Nerriva hob sich über die Kante des Abgrundes und fuhr langsam in das seichte Wasser.

Hier war der Meeresboden mit feinem weißem Sand bedeckt. Felsen ragten aus ihm empor, dazwischen Korallenbänke. Die Zahl an Pflanzen und Fischen war ebenso atemberaubend wie ihre Vielfalt. Jede Farbe war vertreten. Während mancher Fisch ein Einzelgänger zu sein schien, gab es andere, die in dichten Schwärmen lebten und in ihren Bewegungen nach einer unhörbaren Melodie zu tanzen schienen. Obwohl die Unterwasserwelt für Leriana ein gewohnter Anblick war, konnte sie sich noch immer daran erfreuen.

Ein Stück voraus wurden zwei dicht beieinanderliegende Wracks sichtbar. Die gedrungenen Rümpfe waren aus Holz und die geborstenen Planken zeigten, welchen Gewalten die Schiffe zum Opfer gefallen waren. Eines war ein Segler mit drei Masten gewesen. Am Heck des anderen waren die verbogenen Reste eines Propellers zu sehen.

„Alte Schiffe der Landmenschen“, stellte Donberon fest. „Ich glaube, sie stammen aus der Zeit der ersten Landung und der Gründung ihrer Landmark.“

„So fern von den Gewässern der Landmark?“ Lerimont war skeptisch. Ein wenig schaudernd sah er skelettierte, menschliche Überreste an den Wracks.

Donberon nickte. „Ja, so weit von ihrer Mark entfernt. Denke an die Geschichte, die uns ihr Hochlord Nedeam erzählte … Dass sein Volk aus einem anderen Land floh, welches unterging, und dass die große Flotte in einem gewaltigen Sturm auseinandergetrieben wurde. Die Menschen der Landmark erreichten ihre neuen Gestade nur mit Mühe. In geringer Zahl und mit nur wenigen Mitteln. Das ist nun über zweihundertfünfzig Jahre her. Sie wissen noch immer nicht, wohin es die anderen ihres Volkes getrieben hat und ob diese überhaupt überlebt haben. Vielleicht sind sie die Letzten ihrer Art.“

Lerimont seufzte schwer. „Hätten sie Kiemen, so wären sie damals im Sturm nicht ertrunken.“

„So mag es sein, Handelsherr, doch jedes Volk folgt seiner eigenen Bestimmung.“

Sie ließen die Wracks hinter sich und einige Male tauchten Felsen auf, deren Farbe auf ihren Metallgehalt hinwies. Dann schimmerte es golden.

Lerimont trat näher an die Bugverglasung und blickte auf einen beachtlichen Klumpen Gold hinunter. „Ein ziemlicher Brocken“, sinnierte er. „Vielleicht lohnt es sich, ihn zu bergen.“

Der Steuermann trat neben ihn. „Ein enormes Gewicht bei niedrigem Ertrag, Herr. Es wird sich kaum lohnen.“

„Für uns Antari nicht“, gab der Handelsherr zu. „Für uns liegt der Wert in einzelnen Schmuckstücken und darin, dass es luft-, wasser- und säurebeständig ist. Nur ein ganz besonderes Ätzwasser kann es auflösen. Daher haben wir es einst verwendet, um unsere Schiffe gegen Pflanzenbewuchs zu schützen. Es eignet sich auch als Ballast. Aber bei den Landmenschen ist das anders, Koros. Für sie ist das Gold von Wert. Sie pressen es zu goldenen Schüsselchen und benutzen es als Zahlungsmittel.“

„Landmenschen sind verrückt, Herr.“

„Ganz ohne Frage sind sie das“, stimmte Lerimont ohne Zögern zu. „Aber sie sind auch gute Handelspartner. Wir handeln Mehl und Fleisch bei ihnen, dazu Stoffe und viele andere Dinge. So, wie sie auch manche Dinge von uns zu schätzen wissen. Es lässt sich gut mit den Menschen der Landmark Geschäfte machen. Nun, ich denke, wir sollten den Klumpen an Bord nehmen.“ Er wandte sich zu Leriana um. „Wir bergen das Gold, mein Kind. Während kräftige Arme den Klumpen holen, sollten wir ein paar Schwimmer ausschicken. Vielleicht lässt sich hier noch etwas wirklich Wertvolles finden.“

Jetzt, wo etwas Gewinn für das Handelshaus Leri in Aussicht stand, wandelte sich Lerimont wieder vom Vater zum geschäftstüchtigen Handelsherrn.

„Wir gehen über dem Gold auf Anker“, entschied Leriana. „Dann können wir die Winde nutzen, um das Gewicht aufzunehmen. Steuermann Koros, du wirst das überwachen. Stelle drei Seemänner ab. Sie und ich werden uns hier umsehen, während du die Fracht an Bord holst.“

Hier hatten sie Licht und klare Sicht. Leriana konnte auf die Magie des Geistsehens verzichten. Jeder Antari besaß diese Fähigkeit, doch sie war sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bei ihr war sie früh erkannt und gefördert worden, so dass sie inzwischen besser darin war, als ihr Vater oder Steuermann Koros.

Von langsamen Armbewegungen vorangetrieben, schwamm die An-Nerriva zur Position des großen Goldklumpens und kam über ihm erneut zum Stillstand. Die große Frachtluke an der Unterseite wurde aufgekurbelt. In der großen Öffnung schimmerte das klare Wasser des Meeres.

„Fallen Anker“, befahl Leriana.

Am Bug und Heck lösten sich die pilzförmigen Anker aus Stahl und schlugen auf dem Boden auf. Zwei Seemänner strafften die haltenden Ketten, bis sich das Schiff nicht mehr bewegte. Während Koros die meisten Männer darin anleitete, die Winde in Position zu bringen, betrachtete Lerimont den beachtlichen Brocken mit wachsender Unsicherheit.

Lag dieser Batzen Gold nur lose auf dem Meeresgrund auf, so war er zwar schwer, konnte jedoch geborgen werden. War er hingegen nur die Spitze einer Ader und fest mit dieser verbunden, dann würde man ihn mühevoll abtrennen müssen. Mit dem an Bord verfügbaren Werkzeug würde dies eine schwere und zeitraubende Arbeit werden.

Leriana kümmerte sich nicht um das Gold. Sie akzeptierte es als Handelsware mit den Landmenschen. Ansonsten hatte sie nur in sofern Verwendung für das glänzende Zeug, wie es Schiffspropeller und Ruderblätter zuverlässig gegen Bewuchs schützte.

Leriana bevorzugte es, wie alle Antari nackt zu schwimmen, doch in diesem Fall ließ sie ihre Kleidung an. Auch wenn das Land unter Wasser meist friedvoll wirkte, so fand in Wahrheit jedoch ein steter Kampf ums Überleben statt. In der Regel fraßen die Großen die Kleinen, doch es gab Ausnahmen, bei denen es umgekehrt war. Dabei brauchte man keine Zähne oder Kieferplatten, um die Beute zu töten. Manches potenzielle Opfer schützte sich durch giftigen Schleim auf der Haut, um nicht als Mahlzeit zu enden. Gifte und Säuren waren auch bei den Pflanzen weit verbreitet und so wollte Leriana sich, so weit es ging, bei einer unachtsamen Berührung schützen.

„Sanari.“ Einer der drei ausgewählten Seemänner benutzte die Anrede des Schiffsführers und dies machte Leriana erst richtig bewusst, was sie an diesem Tag erreicht hatte. Auch wenn man ihr offiziell noch kein Schiff anvertraut hatte, so besaß sie nun das Anrecht auf den Ehrentitel. Der Mann hielt ihr ein unterarmlanges Rohr entgegen. „Das hier wirst du vielleicht benötigen.“

„Du hast recht“, dankte sie ihm. „Wir wissen nicht, was hier herumschwimmt. So, wie sich die Schwärme im Augenblick verhalten, befindet sich kein Räuber in der Nähe, doch das kann sich schnell ändern.“

Jeder von ihnen war nun mit einem sogenannten Pfeilspeer bewaffnet. Vorne am sehr schlanken und nur armlangen Rohr war eine geschmiedete Spitze befestigt, in deren Mitte eine Bohrung sichtbar war. Das Ende des Speers war etwas dicker und ein kleiner Hebel ragte aus ihm hervor. Im Endstück befand sich eine wieder aufladbare Pressluftpatrone. Wenn man den Auslöser betätigte, so wurde ein metallener Pfeil abgeschossen, der auf einer Entfernung von bis zu fünfzig Längen tödlich wirken konnte. Verfehlte man das Ziel, so blieb noch die metallene Speerspitze, um anzugreifen oder um sich zu verteidigen.

Kein Angehöriger des Wasservolkes nahm leichtfertig ein Leben, doch die Liebe zu den verschiedensten Bewohnern der Meere ging nicht so weit, auf eine Mahlzeit zu verzichten oder selber zu einer zu werden. Abgesehen von Tieren, Fischen und Pflanzen existierten außerdem noch intelligente Lebensformen, die einander nach dem Leben trachteten. Leriana schätzte sich glücklich, im Schutz des Wassers zu leben. Ihr Vater erzählte ihr immer wieder, dass die Wesen an Land oft Kriege gegeneinander führten, und wie gefährlich es sei, den Fuß auf den Boden einer Insel oder eines Kontinents zu setzen.

Leriana wies den drei Seemännern die Richtungen an, in denen sie das Flachwasser erkunden sollten. Sie selbst wählte die Richtung zum Ufer der Insel, vor der die An-Nerriva nun ankerte. Dann ließ sie sich als Letzte durch die Luke ins Wasser gleiten.

Der Schmerz war kurz, als die Kiemen auf die Berührung des Wassers reagierten und sich die Atmung auf sie umstellte. Leriana nahm die sanften Bewegungen der Kiemendeckel kaum wahr, während sie die ersten Schwimmbewegungen machte. Hier, in diesem Teil des Meeres, befand man sich in Süßwasser. Ein Antari brauchte es nicht erst zu kosten, um das zu wissen. Das anfängliche Brennen von Salzwasser in den Kiemen fehlte, die Berührung an der Haut war sanfter, die Augen brannten nicht so schnell und man brauchte etwas mehr Kraft für die Bewegungen, denn salziges Wasser trug einen Körper leichter.

Die alten Legenden besagten, das Wasservolk habe einst an Land gelebt und keine Kiemen besessen. Leriana hielt dies für ein Schauermärchen, wie man sie gerne erzählte, um kleine Kinder zu erschrecken. Ihr Körper war jedenfalls ausgezeichnet an das Leben auf dem Land und im Wasser angepasst und die junge Frau benutzte die Schwimmhäute, die sich ansatzweise zwischen den Fingern und den Zehen befanden.

Leriana kam rasch voran, genoss den Anblick der Umgebung und achtete zugleich darauf, ob sich eine Gefahr zeigte oder ein wertvoller Fund lockte.

Die Schwärme verhielten sich normal und zeigten keine Furcht vor einem Raubfisch. Einzelne Fische und kleine Gruppen suchten am Boden oder zwischen den Korallenstöcken nach Fressbarem. Gelegentlich gab es Streitigkeiten und einmal beobachtete Leriana, wie ein eingegrabener Berobarsch versuchte, einen kleineren Fisch zu fressen, der ahnungslos an dem riesigen Maul vorbeischwamm.

Sie sah eine Vielzahl verschiedener Muscheln, ein paar Seesterne und Krabben, und dann sah sie den Lichtputzer.

Es war ein alter Lichtputzer. Er war sicher so lang und breit wie ein ausgewachsener Antari, jedoch so dünn wie ein Finger. Der mit braunem Chitin gepanzerte Leib bestand aus einer Vielzahl hintereinander angeordneter Glieder. Die Bewegungen des Lebewesens ähnelten denen einer Schlange, nur dass sie nicht seitlich, sondern im Auf und Ab erfolgten. Die an den Außenseiten der Segmente angeordneten Beine ruderten dabei durch das Wasser. Die Bewegungen des Lichtputzers waren nicht elegant und wirkten schwerfällig, doch das Wesen kam voran.

Für Leriana stellte sich sofort die Frage, wohin dieser Meeresbewohner wollte. Die Bezeichnung Lichtputzer rührte von der Eigenheit des Wesens her, alles Schimmernde und Glänzende zu suchen, sich darauf niederzulassen und es zu putzen, in dem es die darauf angesiedelten Pflanzenteile und Kleinstlebewesen verspeiste. Oftmals fand der Lichtputzer seine gedeckte Speisekarte an einem Objekt, welches bei fast allen Völkern begehrt war: jenen Kristallsäulen, die nur im Meer heranwuchsen.

Kurz entschlossen folgte Leriana dem Wesen. Eigentlich war nicht zu erwarten, dass sie hier, in den flachen und küstennahen Gewässern, auf Kristall stoßen würde, doch der Lichtputzer war alt und sicher erfahren. Er trieb sich nicht ohne Grund hier herum.

Sie sah sich aufmerksam um, ohne das Wesen aus den Augen zu lassen, und führte sachte Schwimmbewegungen aus. Der Meeresbewohner war langsam und so konnte sie sich beinahe treiben lassen. Glücklicherweise waren Lichtputzer nicht gerade schmackhaft und wurden daher von den meisten Raubfischen ignoriert. Er fühlte sich daher sicher und würde auch Leriana nicht als Gefahr sehen, wenn er sie vor die zwei Dutzend Augen bekam, die sich vorne am Kopfsegment befanden.

Leriana schätzte, dass sie ungefähr die Hälfte der Strecke zum Ufer zurückgelegt hatten. Das Wasser war kaum noch dreißig Längen tief. Es würde schwierig sein, die An-Nerriva hier zu manövrieren. Am besten fuhr sie aufgetaucht. Natürlich nur, wenn sich die Fahrt überhaupt lohnte.

„Was will der verdammte Lichtputzer hier?“, dachte sie mit zunehmender Enttäuschung. „Will der an Land ein Sonnenbad nehmen?“ Die Vorstellung belustigte sie.

Dann war der Lichtputzer plötzlich verschwunden.

Leriana verharrte überrascht. Eben hatte sie ihn noch gesehen und nun, von einem Moment zum anderen, war er fort.

Sie leckte sich über die Lippen und schwamm langsam auf die Stelle zu, an der sie den Lichtputzer noch im Blick gehabt hatte. Da war ein heller Fleck am Boden, von einem Ring aus Dunkelheit umgeben. Was mochte das sein?

Als sie näher kam, erkannte sie, wohin der Lichtputzer geschwommen war. Ihr Gefühl, dass er sie zu einem lohnenden Ziel führen könnte, hatte sie nicht getrogen.

Da war eine kleine, aber tiefe Senke zwischen den Korallenbänken. Inmitten der Vertiefung stand das, was als Handelsware begehrt wurde: einer der seltenen Kristallstöcke. Die sechskantigen, als Säule wachsenden Strukturen, hatten verschiedene Eigenschaften, die von den Völkern auf unterschiedliche Weise genutzt wurden. Einige verarbeiteten den Blaukristall als Schmuck, andere nutzten seine Fähigkeit, das Licht zu leiten oder dessen Energie zu sammeln. Am wertvollsten war er wahrscheinlich für die Magier, da Blaukristall ihre Fähigkeiten angeblich verstärken konnte.

Leriana sah eine zentrale Säule von rund einer Länge Durchmesser und vier Längen Höhe, umgeben von der „Blüte“, einer Gruppe von fünf Kristallen, die wesentlich kleiner waren. Ihr war sofort bewusst, welchen Wert dieser Fund darstellte.

Sie war so fasziniert von der Entdeckung, dass sie für einen Moment nicht auf ihre Umgebung achtete.

In diesem Augenblick der Unachtsamkeit griff der Dornfisch an.

Zu ihrem Glück suchte sich der Räuber den Lichtputzer als Beute aus, da dessen dunkler Leib sich deutlich von der schimmernden Zentralsäule abhob, während Leriana halb von den umgebenden Korallen verdeckt war.

Der Dornfisch war ein ausgewachsenes Exemplar und sicher doppelt so groß wie Leriana. Fast ein Drittel des schlanken, stromlinienförmigen Körpers wurde von dem, nun weit geöffneten, Maul eingenommen. Drei Reihen scharfer Zähne waren eine tödliche Waffe, doch als am gefährlichsten galt das gut eine Länge messende Horn. Es stellte eine Verlängerung des Oberkiefers dar und wurde als Dorn bezeichnet. Es war schlank, spitz und in sich gedreht, so dass es furchtbare Wunden riss, wenn es in einen Körper eindrang.

Leriana sah den silbern schimmernden Leib des Raubfisches aus den Augenwinkeln. Wie ein Schemen huschte er auf den Lichtputzer zu, der eifrig über die Kristallsäule huschte und den Angreifer wohl erst bemerkte, als es bereits viel zu spät war.

Der Dornfisch spießte die Beute nicht auf, sondern nutzte die günstige Gelegenheit, sie direkt zwischen die Kiefer zu nehmen und diese zu schließen. Die sich im Wasser ausbreitenden Schallwellen ließen Leriana ein dumpfes Knacken hören, als der Chitinpanzer zerbrach.

Der Leib eines Lichtputzers enthielt kaum Körperflüssigkeit und Leriana war erleichtert, als sich keine Wolke aus Blut im Wasser ausbreitete. Wo ein Dornfisch war, da befanden sich normalerweise auch andere in der Nähe. Blut lockte sie unwiderstehlich an. Vielleicht konnte man einem einzelnen Räuber entkommen, doch niemals einer ganzen Jagdgruppe.

Leriana duckte sich tiefer zwischen die Korallen, welche die Senke umgaben. Instinktiv packte sie den Pfeilspeer fester und beobachtete den Gegner. Der Dornfisch zerlegte seine Beute nun in mundgerechte Portionen und schlang sie hinunter. Einzelne Beine und Panzerteile des Lichtputzers sanken auf den Meeresboden.

Die Gedanken von Leriana überschlugen sich.

Sie war nach ihrer Schätzung gute zwei Tausendlängen von der An-Nerriva entfernt. Keine Chance, den Schutz des Schiffes zu erreichen und dabei dem viel schnelleren Jäger zu entkommen. Natürlich konnte sie versuchen, ihn mit dem Speer zu töten, doch im Gegensatz zum Lichtputzer enthielt der Dornfisch eine Menge Körperflüssigkeit. Dornfische konnten kleinste Mengen an Blut über viele Tausendlängen Entfernung wittern. Der Tod ihres Gegners würde zahlreiche weitere anlocken.

Eine weitere Möglichkeit für sie war es, die kleine Signalpfeife zu benutzen, die jeder Schwimmer bei sich trug. Der im Wasser weit tragende Ton würde die An-Nerriva alarmieren, allerdings auch die Aufmerksamkeit der Dornfische auf Leriana ziehen.

Letztlich konnte sie versuchen, sich weiterhin zwischen den Korallen versteckt zu halten, und darauf hoffen, dass sich der Dornfisch nach vollendeter Mahlzeit davon machte.

Leriana entschied sich dafür, zurück zum Unterwasserschiff zu schwimmen und nach Möglichkeit eine direkte Auseinandersetzung mit dem Raubfisch zu meiden.

Dieser trieb noch immer an der zentralen Kristallsäule. Von seinem Opfer waren nur ein paar unverdauliche Überreste geblieben, die verstreut am Meeresboden in der Mulde lagen.

Sie drehte sich vorsichtig und wählte ihren Weg zwischen den Korallenbänken.

Das Leben in der unmittelbaren Umgebung hatte inzwischen auf die Anwesenheit des Räubers reagiert. Einige Schwärme hatten sich zusammengeballt und vollführten komplizierte Bewegungsmuster, andere waren verschwunden. Größere Fische verbargen sich nun zwischen Pflanzen und Felsen. Nur die Kleinen ignorierten die potenzielle Gefahr, denn sie waren normalerweise keine lohnende Beute für den Jäger der Tiefe.

Leriana hielt sich dicht über den Korallen und achtete darauf, keine der wenigen abgestorbenen zu berühren, da deren scharfe Kanten sie hätten verletzen können. Sie verließ die Korallenbank, die den Blick auf die Mulde verborgen hatte und hielt sich dicht über dem feinen weißen Sand des Meeresgrundes. Sie konzentrierte sich auf eine ruhige und gleichmäßige Atmung und vermied hektische Schwimmbewegungen. Immer wieder blickte sie über die Schulter zurück.

Von dem Dornfisch war nichts zu sehen.

Leriana wäre gerne in Rückenlage geschwommen, um die Umgebung hinter sich besser im Auge behalten zu können, doch sie war zu dicht über dem Grund, um das riskieren zu können. Die Gefahr, mit einem Hindernis zu kollidieren, erschien ihr zu hoch. Jetzt, in der Aufregung, konnte sie sich zudem nicht auf ihre Fähigkeit des Geistsehens verlassen.

Dann sah sie den silbrigen Schemen aus den Augenwinkeln.

Der Dornfisch musste sie schon eine ganze Weile beobachtet haben, denn er hatte sie seitlich passiert und griff, für Leriana unerwartet, von vorne an. Diese konnte sich gerade noch durch eine blitzschnelle Rolle retten. Dennoch wurde sie von der Seitenflosse gestreift. Ein schmerzhafter Schlag, der jedoch keine blutende Wunde verursachte.

Nun blieb ihr keine Wahl. Sie konnte dem Angreifer nicht davonschwimmen und musste sich zum Kampf stellen. Einem ungleichen Kampf, da sie es noch immer nicht riskieren wollte, den Gegner mit dem Pfeilspeer zu töten.

Leriana ließ sich in aufrechter Haltung auf den Meeresboden sinken und beobachtete den Feind, der sie nun langsam umkreiste. Die Begegnungen zwischen Dornfisch und Kiemenmensch waren selten und in der Regel kam einer von beiden dabei ums Leben. Meist war es der Fisch, der dabei den Kürzeren zog und, falls es eine Kommunikation zwischen den Dornfischen gab, nicht mehr von seiner Erfahrung berichten konnte. Für den Gegner war Leriana also eine unbekannte Größe und es machte ganz den Eindruck, als überlege der Raubfisch, was er von ihr zu halten habe.

Leriana glaubte seine Gedanken förmlich zu hören. War die Beute fressbar? Höchstwahrscheinlich. War sie gefährlich? Möglicherweise. Auf einen Probehappen verzichten? Niemals.

Der Dornfisch griff erneut und mit der für seine Art typischen Schnelligkeit an.

Leriana stand still und schien es ihm leicht machen zu wollen. Der Räuber drehte sich ein wenig und seine Haltung verriet, dass er seine Beute nicht ins aufgerissene Maul nehmen, sondern mit dem Dorn aufspießen wollte.

Sie konzentrierte sich und verdrängte die Panik, die in ihr aufkommen wollte. Im genau richtigen Moment stieß sie sich ab, glitt im Wasser nach oben und stieß mit dem stumpfen Ende des Speers zu. Sie traf genau jene Stelle, von der man musste, wie empfindlich ein Dornfisch dort war. Direkt über dem Maul und dem Ansatz des langen Dorns. Dort befanden sich das Schallorgan und ein großer Nervenknoten.

Der Pfeilspeer traf diesen Punkt mit großer Wucht und wurde Leriana beinahe aus der Hand gerissen. Die Wirkung auf den Angreifer war beeindruckend.

Er krümmte sich auf unglaubliche Weise und der gesamte Körper begann zu zucken. Der Raubfisch schien jede Kontrolle über seine Bewegungen verloren zu haben. Er torkelte zu Boden, stieß sich ab, sank wieder auf den Grund. Dann schoss er förmlich in die Höhe.

Leriana sah mit verengten Augen zu, wie er erneut zuckte und dann mit hastigen Flossenschlägen davon schwamm, immer wieder unkontrolliert zuckend.

Wahrscheinlich würde er sich von dem Schlag erholen, doch für den Augenblick hatte der Angreifer genug und zog sich zurück.

Leriana machte sich wieder auf den Rückweg zur An-Nerriva. Sie war erleichtert, als der langgestreckte beige Rumpf vor ihr erschien.

Koros und eine Reihe von Seemännern waren gerade dabei, das Ladegeschirr des kleinen Krans an dem Goldbrocken zu befestigen. Als der Steuermann sie sah, winkte er lächelnd. Das Wasser verzerrte seine Stimme ein wenig. „Wir haben Glück, Sanari Leriana. Es ist nur ein einzelner Klumpen, der lose auf dem Grund aufliegt.“

„Lasst ihn liegen“, befahl sie zur Überraschung der anderen. „Ich habe eine weit wertvollere Fracht für uns entdeckt. Einen Kristallstock. Ungefähr zwei Tausendlängen von hier entfernt, in Richtung auf das Ufer.“

Ihr Vater hatte die Worte vernommen. Er saß mit baumelnden Beinen in der offenen Luke und ließ sich nun ins Wasser gleiten. „Was sagst du da, Kind? Ein Kristallstock? Hier, in diesem flachen Gewässer.“

„Und was für einer.“ Leriana schilderte, was sie entdeckt hatte und sah das gierige Aufleuchten in seinen Augen. „So einen Fund macht man nur selten, Vater. Doch wir müssen vorsichtig sein. Ich bin einem Dornfisch begegnet. Es könnte sich ein Schwarm in der Nähe befinden.“

Inzwischen ließ sich auch Hochmagier Donberon ins Wasser sinken. „Ein ganzer Stock Blaukristall mit einer ungewöhnlich großen Zentralsäule? Kein Schwarm Dornfische darf uns davon abhalten, die Kristalle zu ernten. Sie sind zu wichtig. Für uns selbst und für den Handel.“

Lerimont nickte und man sah die Zustimmung in den Gesichtern von Koros und den anderen Seemännern. Sie waren an den Gewinnen des Handelshauses Leri beteiligt, da der Handelsherr zu recht davon ausging, dass dies die Motivation steigere, sich für den Erfolg deines Geschäftes einzusetzen.

Leriana deutete in Richtung der Mulde. „Drei Tausendlängen vom Ufer und die Tiefe beträgt dort kaum dreißig Längen. Noch weniger, da die Korallenbänke in die Höhe ragen.“

Lerimont lächelte. „Du bist nun die Führerin des Schiffes und du entscheidest. Was ist dein Wille, Kind?“

Leriana fand es ein wenig unpassend, dass der Vater sie, praktisch im gleichen Atemzug, als Schiffsführerin und als Kind ansprach, auch wenn dies den Tatsachen entsprach. Doch für den Vater würde sie stets das Kind bleiben, gleichgültig, in welchem Alter und in welcher Funktion sie sich befand. „Wir fahren aufgetaucht, ankern über der Mulde und ernten den Kristallstock.“

Koros klatschte in die Hände, was innerhalb des Wassers eher gemächlich wirkte und einen dumpfen Laut verursachte. „Ihr habt Sanari Leriana gehört, Seemänner der An-Nerriva. Löst das Geschirr und dann alles an Bord. Wollos, betätige das Schallhorn. Drei unserer Männern sind noch draußen und sollen wissen, dass sie nun zum Schiff zurückkehren müssen.“

Während das Ladegeschirr gelöst wurde, betätigte Wollos das Unterwasserschallhorn. Der seltsam quäkende Laut trug sehr weit und als alles Arbeitsgerät wieder an Bord war, trafen die anderen drei Schwimmer ein, deren Erkundungen erfolglos geblieben waren. Umso größer war deren Freude, als sie von Lerianas Entdeckung erfuhren.

Die Antriebswelle wurde bemannt, die Anker eingeholt und dann ließ Leriana langsam Pressluft in die Ballasttanks blasen. Gemächlich stieg die An-Nerriva zur Oberfläche empor.

Das Wasser reichte nun noch zur Hälfte der Bugverglasung und man konnte im oberen Teil die nahe Insel sehen. Leriana hatte nur selten festes Land betreten und sah neugierig hinüber. Ein langer weißer Sandstrand, gesäumt von üppigem Grün hoher Urwaldriesen. Im Hintergrund ragte die Spitze eines Berges auf. Zwischen der An-Nerriva und dem Ufer erstreckte sich das Wasser, aus dem an einigen Stellen Felsen aufragten.

Die See war ruhig und es gab kaum Wellengang, was die Arbeiten sehr erleichtern würde. Der Himmel war klar. Gegen das Sonnenlicht hob sich kaum eine Wolke ab. In der Ferne war ein Schwarm von Vögeln zu sehen, die immer wieder auf das Wasser hinabstießen, um einen Fisch zu erbeuten.

„Kurzarm“, befahl Leriana. „Langsame Fahrt voraus. Koros, achte mir auf die Felsklippen.“

Dieser Anweisung hätte es bei dem erfahrenen Steuermann nicht bedurft und seine Bestätigung klang ein wenig beleidigt. „Selbstverständlich, Sanari.“

Leriana hatte, wie alle Angehörigen des Wasservolkes, einen ausgezeichneten Orientierungssinn und dirigierte das alte Handelsschiff mühelos an die richtige Position. Als die beiden Anker auf den Grund sanken, versammelten sich alle um die offene Ladeluke in der Unterseite des Schiffes und starrten andächtig in die Mulde mit den Kristallen hinunter.

„Es ist wahr“, seufzte Donberon, als habe er an Lerianas Schilderung gezweifelt. „Was für ein Fund. Welche Macht an Magie die Blaukristalle bedeuten, lässt sich kaum abschätzen.“

„Seht euch nur die Größe der Mittelsäule an“, kam es von Koros. „Und dann die Blüte um sie herum. Die Händler werden sich um die Kristalle reißen.“

„Erst müssen wir sie ernten“, brachte Lerimont in Erinnerung. „Und denkt daran, es ist nicht damit getan, die Säulen zu fällen.“

Man wusste immer noch nicht, was diese Kristalle nun wirklich waren. Sicher war eigentlich nur, dass ihre äußere Struktur rein mineralisch war, jedoch der Kern in ihrem Inneren aus biologischem Material bestand. Das Innere lebte und es gab Vermutungen, dass dieses biologische Innere im Verlauf der Jahre einen mineralischen Panzer um sich herum erschuf, um sich damit zu schützen. Andere behaupteten, das biologische Leben würde sich in die Kristalle hineinfressen und sich so einen Bau erschaffen. Ähnlich jener ungepanzerten Krebstiere, die eine Muschel als Heim erwählten.

Doch in jedem Fall war sicher, dass das biologische Leben im Inneren der Kristalle starb, sobald die Säulen von der Kristallblüte getrennt wurden. Innerhalb weniger Stunden wurden die Kristalle dann stumpf und nutzlos. Wollte man ihre verschiedenen Fähigkeiten erhalten, so war man gezwungen, das biologische Innere aus ihnen zu entfernen, bevor es sich zu zersetzen begann. Es war keine besonders schwierige, aber eine sehr unangenehme Arbeit, denn das absterbende biologische Material stank bestialisch.

„Wir brauchen Kristallsägen, Kernzieher und Putzstöcke.“ Koros wies auf einzelne Seemänner und teilte sie ein. „Wenn der Handelsherr zustimmt, so werde ich die trennenden Schnitte vornehmen.“

Lerimont nickte. „Du hast die größte Erfahrung und sicherste Hand beim Trennen der Kristalle. Du wirst die Arbeit zum Erfolg führen, Koros.“

Kristalle ließen sich immer wieder finden, vor allem in tieferen Gewässern, doch immer in Bereichen, in die noch ein klein wenig Sonnenlicht einfiel. In der ewigen Finsternis der Tiefe schienen sie nicht zu gedeihen. Meist stieß man auf wesentlich kleinere Säulen. Es gab blauen und weißen Kristall. Der Weiße war ein hervorragender Lichtspeicher, doch nur der Blaue besaß die Fähigkeit, magische Kräfte zu verstärken. Er war daher vor allem bei jenen Völkern begehrt, die über eigene Magier verfügten. Sie alle waren auf jene Wenigen angewiesen, die in der Lage waren, die Kristallblüten zu finden und sie abzubauen. Hauptsächlich war dies das Wasservolk, doch es sollten im nördlichen Meer schwimmende Städte von Zwergen existieren, die in der Lage waren, mit Anzügen in die Tiefe zu tauchen, und die ebenfalls mit Kristall handelten. Ob es diese Wesen tatsächlich gab, wusste keiner der Antari zu sagen. Manche hielten die Zwerge der Meere für eine jener Geschichten, mit denen fremde Reisende gelegentlich gerne prahlten.

Auch Handelsherr Lerimont hatte schon Kristalle geerntet, doch jetzt, im hohen Alter, verfügten seine Hände nicht mehr über die Ruhe jüngerer Jahre. Auch die Sehkraft seiner Augen hatte nachgelassen. So war Koros die erste Wahl, wenn es darum ging, die Kristallsäulen abzutrennen und ohne Schaden zu bergen.

Die riesige An-Nerriva schwebte, von ihren Ankern gehalten, scheinbar reglos über der Mulde. Ihr Anblick würde wohl jeden Schwarm von Dornfischen von einem Angriff abhalten, denn die Jäger mussten das Unterwasserschiff für ein unbekanntes Ungetüm aus der Tiefe halten. Dennoch postierte Lerimont vorsichtshalber ein Dutzend Seemänner mit Pfeilspeeren rund um das begehrte Objekt, während Koros und drei Helfer hinabschwammen und sich an die Arbeit machten.

Der Steuermann begutachtete die Hauptsäule und die kleineren der Blüte, klopfte gegen das Kristall und lauschte dem hell singenden Laut, den dieser von sich gab. Schließlich nickte Koros zufrieden und markierte für jede der Säulen die Stelle, an welcher der Trennschnitt gesetzt werden musste.

Während sich die Säge durch die erste Säule fraß, bereitete Leriana die danach anfallenden Arbeiten vor. Zusätzliche Leinen wurden neben den Ketten des Ladegeschirrs angeschlagen, Kernzieher und Putzstöcke bereitgelegt. Die ganze Zeit sah Donberon den Vorbereitungen mit wachsender Nervosität zu. Unruhig knetete er die Finger und stieß immer wieder leise Seufzer hervor. Diese Unrast rief immer wieder belustigte oder auch verärgerte Blicke der Männer hervor, die Leriana zur Hand gingen.

„Vielleicht sollten wir das Schiff mit Wasser fluten“, schlug Donberon schließlich vor. „Das würde das Kristall schonen, wenn wir das Innere ausräumen.“

Der Magier wollte wohl kaum an Bord bleiben, wenn die biologische Masse aus dem Kern gekratzt wurde, denn der Gestank würde mörderisch sein. Leriana verstand die Erregung des Hochmagiers und lächelte besänftigend. „Meister Donberon, wir können das Schiff nicht fluten. Im Wasser würden sich die Duftstoffe der Zersetzung noch sehr viel schneller verbreiten.“

„Ein ungeheuerlich verlockender Gestank für Dornfische“, fügte ein Seemann hinzu. „So verlockend, dass sie nicht einmal die An-Nerriva von einem Angriff abhalten wird. Die Fressgier dieser Bestien ist ja nur zu bekannt.“

„Hm, ja, das ist sie wohl“, murmelte Donberon.

Leriana war versucht, ihm mitfühlend den Arm um die Schulter zu legen, doch sie wahrte den erforderlichen Respekt, auch wenn der Magier ihr im Augenblick wie ein hilfloses Kind vorkam. „Meister, wir alle wissen um die Bedeutung des Kristalls. Er wird unbeschadet an Bord gelangen und ich werde ihn persönlich säubern.“

Eigentlich hatte sie kein Verlangen danach, sich freiwillig dem Gestank auszusetzen, doch auf seltsame Weise fühlte sie sich verpflichtet, Donberon beizustehen. Immerhin war er ihr Mentor, hatte die Entwicklung ihrer magischen Gaben von Kindesbeinen an gefördert und ihr an diesem Tag die Befähigung zum Führen eines Schiffes zuerkannt.

„Du wirst es selber tun, Sanari Leriana?“, vergewisserte er sich.

Sie nickte ergeben. „Und ich werde kein Fitzelchen der biologischen Masse übersehen. Die Kristalle werden in reinstem Licht erstrahlen.“

Koros tauchte aus dem Wasser auf und schob den Kopf ins Innere des Schiffes. „Es ist so weit. Die zentrale Säule ist frei. Nun liegt es an dir, Sanari.“

Leriana drückte ihm das Bündel der Ketten und Gurte in die Hände. „Dann mache sie gut fest, Steuermann, und gib ein Zeichen, wenn alles bereit ist.“

Koros tauchte wieder hinab. Leriana sah die Gesichter der anderen Seemänner. „Wir ziehen die Säulen herauf und ich säubere sie. Verschließt eure Nasen und bringt mir eine Kiste für die Bio-Masse.“

Sie brachten rasch eine Kiste, die aus Metall gefertigt war und aus einem Handel mit den Landmenschen stammte. Man konnte sie luftdicht verschließen, was die Dauer der Geruchsbelästigung zeitlich begrenzen würde. Rasch wurden Nasenstöpsel aus Tang oder Stofffetzen improvisiert. Der Anblick der Männer, die sich auf diese Weise vor dem Gestank schützen wollten, ließ Leriana lächeln, dabei hoffte sie selbst inbrünstig, dass die Provisorien etwas Linderung brachten.

Die mittlere Kette klirrte leise.

Gemeinsam zogen sie die erste Säule an Bord und schwenkten sie über den festen Boden des Rumpfes. Rasch wurden Ketten und Leinen wieder ins Wasser hinabgelassen, während sich Leriana an das untere Ende der Säule kniete, eine rasche Bitte an die Götter der Meere schickte, was niemals schaden konnte, und dann den korkenzieherartigen Kernzieher ansetzte.

Schon breitete sich übler Gestank aus, der noch intensiver wurde, als sich das Gerät immer tiefer in den Kern der Säule fraß. Immer wieder zog Leriana es ein Stück zurück und holte so die gelöste Masse heraus, bevor sie mit weiteren Bewegungen tiefer drang.

Ein Seemann nahm die gelösten Fragmente mit angehaltenem Atem und stopfte sie in die Kiste, deren Deckel ein anderer sofort wieder verschloss.

Als der letzte Rest der biologischen Masse aus dem Kern gelöst war, nahm Leriana den Putzstock. Mit raschen Bewegungen rieb sie die Reste aus dem Inneren der nun hohlen Säule, säuberte den Schwamm und achtete akribisch darauf, auch nicht den kleinsten Rest zu übersehen.

Sie war gerade mit der ersten Säule fertig, als auch schon die zweite an Deck gehievt wurde.

Alle arbeiteten konzentriert und schnell und die Mühe war nicht vergebens. Schließlich lagen eine große und fünf kleinere Kristallsäulen in ihrem hellen blauen Schimmer im Inneren der An-Nerriva.

Hochmagier Donberon saß auf der größten und strich mit den Händen immer wieder über das Kristall. Sein breites Lächeln zeigte seine Zufriedenheit und mit seinen Worten sparte er nicht mit Lob für die gute Arbeit des Handelshauses Leri.

Steuermann Koros wies auf die Kiste mit der ausgeschabten Bio-Masse. „Wenigstens wird das stinkende Zeug die Farmer auf unseren Pflanzenfeldern erfreuen. Einen besseren Dünger findet man nicht.“

Leriana nickte. „Es ist vor allem für die Zierpflanzen in unseren Wohnkuppeln wertvoll. Der Gestank verfliegt ja nach einiger Zeit.“

Kurz darauf lichtete das Unterwasserschiff seine Anker. „Volle Wende“, befahl Leriana, „mit kurzem Arm. Sobald wir tieferes Gewässer erreichen, werden wir tauchen und mit langem Arm nach Hause fahren.“

Noch immer hing etwas übler Geruch in der Luft und die Männer trugen noch immer die Nasenstöpsel. Doch ihre Gesichter lachten, während sie in die Antriebswelle griffen und die An-Nerriva vorantrieben. Leriana war nun die Führerin des Schiffes und jeder von ihnen würde einen stattlichen Anteil am Gewinn der Fracht einstreichen. Für sie alle war es ein guter Tag gewesen.

Wolken, Land und Wasser

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