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3. Die Sichtung
ОглавлениеDie Landmark, an der süd-westlichen Landspitze
Der Mann ritt ein Stück vor der kleinen Kolonne, die ihm folgte. Nun zügelte er sein Pferd und wandte sich den anderen zu. „Hochlord, dies scheint mir eine gute Stelle zu sein.“
Ein zweiter Reiter löste sich von der Gruppe und trabte an seine Seite. Nebeneinander saßen sie auf ihren kräftigen braunen Pferden und blickten sich um. Sie befanden sich auf einer Steilküste und gute hundert Längen unter ihnen lagen das schmale Ufer und das Meer. So weit das Auge reichte, ragte die Küste wie eine unüberwindliche Mauer empor.
Der als Hochlord bezeichnete Mann nickte schließlich. „Ich stimme Euch zu, Lord Antarim. Es ist eine gute Stelle. Befehlt den Halt. Die Kartenzeichner sollen den Küstenstreifen vermessen und seinen Verlauf säuberlich in die Karte eintragen.“
Knappe Befehle waren zu hören, als die Gruppe anhielt. Die Reiter saßen ab und versorgten die Pferde. Die beiden Wagenführer kümmerten sich um ihre Gespanne, während vier nicht uniformierte Männer von den Fahrzeugen stiegen und mit ihrem Handwerkszeug zum Rand der Küste gingen. Hölzerne Stäbe wurden in die Erde gesteckt, fein gearbeitete Instrumente benutzt, um die Maße des umgebenden Landes zu nehmen.
Der Hochlord deutete um sich. „Dieser Bereich der Küste scheint mir sicher. Sie ist steil, hoch, besteht aus Fels und ist nahezu unüberwindlich. Keine Stelle, die ein Feind wählen würde, um in unser Land einzufallen. Dafür sind andere Abschnitte der Küste weit besser geeignet, denn sie sind flach.“
Antarim nahm ein paar Schlucke aus seiner Feldflasche. „Es ist kein leichtes Unterfangen, die Grenzen unserer Landmark zu schützen. Sie sind einfach zu lang und wir sind zu wenige.“
„Dennoch muss und wird es uns gelingen“, erwiderte der Hochlord. „Wir dürfen unsere Macht nicht ausschließlich am großen Wall der Nordgrenze konzentrieren. Das macht uns verwundbar, wenn ein Feind von See auftaucht.“
Sie waren nun seit fast sieben Wochen unterwegs und folgten dem Verlauf der süd-westlichen Küste. Jetzt näherten sie sich der Bucht von Llaranea und der dortigen Hafenstadt, dem vorläufigen Ziel der Reise.
Die Reiter waren einheitlich gekleidet. Himmelblaue Hosen, dunkelblaue Waffenröcke und knöchellange grüne Umhänge, die vorne mit einer hufeisenförmigen Spange geschlossen waren. Die goldene Spange endete in den stilisierten Köpfen zweier Pferde, die einander abgewandt waren. Dieses Symbol wiederholte sich auf den silbrig schimmernden Brustharnischen. Arme und Beine wurden durch metallene Schienen geschützt. Der Schimmer der Rüstungsteile rührte daher, dass sie mit kleinen Plättchen aus dünnem Klarstein beklebt waren. An den metallenen Helmen mit dem langen Nackenschutz waren die gelb eingefärbten Schweife von Pferden befestigt. Ein durchsichtiges Visier aus Klarstein schützte die Gesichtspartie, war derzeit jedoch nach oben geklappt. Lange schwarze Reitstiefel und cremefarbene Stulpenhandschuhe vervollständigten die Uniformen.
Zwei der Reiter hielten lange Lanzen, an denen fein bestickte, grüne Tücher auswehten. Eines war rechteckig und knapp eine Quadratlänge groß. Es war das Banner des Hochlords und zeigte ebenfalls das hufeisenförmige Symbol des Pferdevolkes. Das andere war dreieckig, an der Lanze eine halbe Länge hoch und zwei Längen lang. Es war gelb gesäumt. Weißer Turm und weißes Zahnrad waren das Zeichen der Stadt Newam.
Die Sorge der Männer war nur zu begründet. Das Land war riesig. Es war reich an Tieren, weite Ebenen und ausgedehnte Wälder lösten einander ab. Es gab Berge und Hügel, große Flüsse, eine Vielzahl an Bachläufen sowie einen fruchtbaren Boden. Ein ideal erscheinendes Gebiet, um eine Gemeinschaft wachsen zu lassen, doch das Land war nur sehr dünn besiedelt. Das konnte kaum verwundern, denn die ersten Angehörigen des Pferdevolkes hatten ihren Fuß erst vor rund zweihundertfünfzig Jahren auf seinen Boden gesetzt.
Man war in der Bucht von Llaranea gelandet und hatte dort die erste Siedlung gegründet. Im Verlauf der Jahre hatte man das Land erkundet und festgestellt, dass es im Grunde eine Halbinsel war. Eine schmale Landbrücke verband sie im Norden mit dem Hauptkontinent. Eine schmale Landbrücke, die von gewaltigen Bergen gesäumt und nur an einer einzigen Stelle passierbar war. Eine natürliche Engstelle, die rund zwanzig Tausendlängen maß. Zwanzig Tausendlängen, die über Leben und Tod entscheiden konnten, denn der Kontinent im Norden wurde von barbarischen Horden bevölkert.
Die menschenähnlichen Barbaren nannten sich Walven. Schon bei der ersten Begegnung war Blut geflossen. Jahre später war es sogar zu einer großen Schlacht gekommen. Nun schützte ein gemauerter Wall die nördliche Grenze, damit die Barbaren nicht in die Landmark einfallen konnten.
Die Begegnung mit den Walven erforderte ein Umdenken in der Besiedlung des Landes. Nun galt es, strategische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Walven im Norden mochten der einzige Feind sein, der die Mark vom Land aus bedrohte, doch die Küsten und das Handelszentrum Llaranea, tief im Süden, mussten ebenfalls geschützt werden.
Ursprünglich hatte sich die Besiedlung allmählich von Llaranea ausgehend entwickeln sollen. Um den Norden zu schützen, sah man sichgezwungen, die Siedlungen weit über das Land zu verteilen. Die Entfernungen zwischen Weilern und Städten waren entsprechend groß.
Ungefähr in der Mitte der Halbinsel war die neue Hauptstadt Newam am Zulauf zweier Flüsse entstanden. Unmittelbar hinter dem Wall der nördlichen Grenze war der große Wall-Weiler gegründet worden. Dieser diente der Versorgung der Fußtruppen, die an der Nordgrenze wachten. In einer Reihe weiterer und kleinerer Weiler siedelten Bauern und Viehzüchter, trieben untereinander und mit den Städten Handel.
Der Hochlord Nedeam, Herr der Landmark, war mit seinen Begleitern unterwegs, um sich einen persönlichen Eindruck von den aktuellen Gegebenheiten zu verschaffen. Es mussten weitreichende Entscheidungen gefällt werden, die über die Zukunft der Mark und ihrer Bewohner entschieden.
Nedeam war ein hochgewachsener und schlanker Mann. Das tiefschwarze Haar und den Vollbart trug er gleichermaßen kurz. Graublaue Augen blickten aus einem fein modellierten Gesicht, dessen ebenmäßige Züge jungenhaft wirkten. Nedeam schien noch nicht einmal die Mitte seines Lebens erreicht zu haben, doch dieser Eindruck täuschte. Als junger Schwertmann hatte er einst gegen einen mächtigen Zauberer gekämpft und diesen besiegt. Im Todeskampf hatte das unheimliche Wesen einen Teil seiner Kräfte unabsichtlich auf Nedeam übertragen. Dieser hätte nicht mit Bestimmtheit zu sagen vermocht, ob diese neuen Gaben Fluch oder Segen für ihn waren. Da war die Langlebigkeit, die ihn seit der Begegnung mit dem Zauberer äußerlich nicht mehr altern ließ. Seine Wunden verheilten weitaus besser und schneller, als bei jedem anderen Menschen und er besaß die Gabe der Aura. Die Aura befähigte ihn, ein anderes Lebewesen anzusehen und dessen Gefühlsstimmung in Form eines farbigen Lichtscheins zu sehen, welche die Gestalt umgab. Dies war sicherlich eine nützliche Fähigkeit, um Freund oder Feind erkennen zu können, doch leider konnte Nedeam sie nicht kontrollieren. Es war dem Zufall überlassen, ob er sie nutzen konnte.
Vor allem die Langlebigkeit empfand Nedeam als Fluch, denn er war nun über dreihundert Jahre alt und hatte nicht nur manchen Feind bezwungen, sondern auch viel zu viele Freunde dahingehen sehen. Besonders schwer trug er an jenem Schicksal, welches im Bewusstsein der meisten Bewohner der Landmark zunehmend verblasste: Das alte Land, in dem Nedeams Pferdevolk einst gemeinsam mit anderen Völkern gelebt hatte, war in einem mächtigen Vulkanausbruch untergegangen. Nur ein kleiner Teil hatte sich auf die Schiffe der Evakuierungsflotte retten können. Ein tagelanger mächtiger Sturm hatte die Flotte auseinandergetrieben und Familien und Freunde auseinandergerissen. So war es auch Nedeam ergangen, der auf diese Weise Frau und Tochter verlor. Als die See sich wieder glättete, waren sie, und mit ihnen so viele andere, verschwunden. Jede Suche war vergebens gewesen. So waren die wenigen Schiffe mit Nedeam weiter über das Meer gefahren, auf der Suche nach den Vermissten und einer neuen Heimat. Ein anderer Sturm, der weitere Verluste brachte, warf die Überlebenden schließlich an die Südküste des neuen Landes.
Mit dem Pragmatismus des Pferdevolkes und dem festen Willen zu überleben, hatte man sich daran gemacht, sich mit der Landmark einen neuen Lebensraum zu schaffen. Nun, nach gut zweihundertfünfzig Jahren, war vieles vollbracht worden. Die Bevölkerung wuchs, doch die Bedrohung durch die Walven war allgegenwärtig.
Beide Seiten bereiteten sich vor. Nedeam wusste, dass sich die Zahl der Menschen weitaus langsamer vermehrte als die der Walven. Doch die Kampfkraft des Pferdevolkes beruhte nicht nur auf seiner Anzahl, sondern auch auf der Stärke und Ausdauer seiner Pferde. Zudem hatte sich das Wissen in den vergangenen Jahren gemehrt. Die Kräfte des Dampfes, des Windes und der Sonne wurden in vielen Bereichen genutzt. Neue und wirkungsvollere Waffen waren entwickelt worden, die nun neben traditionellem Schwert, Bogen und Lanze die Macht der Landmark stärkten.
Dennoch war man nicht nur zahlenmäßig im Nachteil.
„Stärke, Erfahrung und Geschicklichkeit entscheiden über das Schicksal eines Kämpfers“, hatte Nedeam seinem ersten Schwertmann, Lord Antarim, immer wieder eingeschärft. „Stärke können wir entwickeln, Geschicklichkeit erlernen, doch an Erfahrung fehlt es uns. Die erste große Schlacht gegen die Barbaren fand vor hundertfünfzig Jahren statt. Nur zwei der damaligen Kämpfer, mich eingeschlossen, leben noch. Keiner unserer Kämpfer ist dem Feind jemals begegnet. Stärke und Geschicklichkeit mögen noch so hoch sein, aber im Kampf wird ihr Herz über die Zukunft der Mark entscheiden. Der Feind wird in großer Übermacht auftreten und wenn unsere Männer bei diesem Anblick ihren Mut verlieren, dann ist alles verloren.“
„Keine Sorge, Hochlord, jedweder Mann, jede Frau und jedes Kind weiß um die Gefahr und wird tapfer kämpfen.“
Nedeam sah seinen Freund und Stellvertreter ernst an. „Antarim, mein Freund, viele Bewohner unserer Mark halten den Feind inzwischen für eine Legende. Vergiss nicht, dass der letzte Kontakt nun schon mehrere Generationen zurückliegt. Inzwischen erzählt man Geschichten über die Barbaren, um die kleinen Kinder zu erschrecken. Ja, man übt sich im Kampf, weil ich dies vom Volk verlange, doch selbst unsere Kämpfer glauben kaum noch an eine ernsthafte Bedrohung.“ Nedeam seufzte vernehmlich. „In solcher Situation muss ich abwägen, damit die Gefahr durch die Walven nicht zu einem reinen Schreckgespenst verkommt und dennoch ernst genommen wird. Daher habe ich manche Wehrübung nun als Wettbewerb gestaltet. Es braucht Raum für Freiheit und Vergnügen.“
„Darum habe ich keine Sorge.“ Antarim lachte unbeschwert. „In Städten und Weilern gibt es genug Entspannung und Grund zum Feiern. Unser Volk weiß das Leben zu nehmen.“
„Hm, ja, das tut es wohl.“ Nedeam stimmte in das Lachen ein.
Sie nannten sich das Pferdevolk, obwohl die Menschen der Landmark ursprünglich aus dem einstigen Königreich von Alnoa, den Marken des Pferdevolkes und den Sandclans der Wüste abstammten. Die Not hatte sie alle vereint und obwohl man die Bräuche der verschiedenen Ursprungsgruppen pflegte, hatten diese sich inzwischen so vermischt, dass sie sich als einziges Volk, dem der Pferde, empfanden.
„Übermorgen sollten wir Llaranea erreichen“, meinte Nedeam und dachte für einen Moment wehmütig an seine verschollene Tochter und seine geliebte Ehefrau Llaranya, deren Namen die Stadt ihr zur Erinnerung trug. „Vielleicht war dort inzwischen der Händler eines anderen Landes und es gibt Neuigkeiten zu erfahren. Ich bin froh, dass wir wenigstens mit dem Wasservolk der Antari unseren Frieden haben.“
„Nun, sie sind beinahe Menschen“, sagte Antarim und ließ damit erkennen, dass er, wie einige andere auch, gewisse Vorbehalte gegen die Wasserbewohner hegte. „Von ihren Kiemen und Schwimmhäuten einmal abgesehen.“
„Mein Freund, die Antari sind menschlich. Ich habe in meinem langen Leben gelernt, dass Äußerlichkeiten nicht über die inneren Werte entscheiden dürfen. Denkt an unseren Freund DanPharant, der im Augenblick über unsere Stadt Newam wacht, und an die Völker, die einst an unserer Seite kämpften, als die alte Heimat unterging.“
„Jene Völker, von denen die alten Legenden erzählen, habe ich nie kennengelernt. Der letzte Händler eines fremden Volkes fand vor einem halben Jahr zu unserem Hafen.“ Antarim blickte erneut aufs Meer hinaus. „Er berichtete, wir lägen fernab der Handelsrouten und wir schicken keine eigenen Schiffe hinaus, um das Meer und andere Länder zu erkunden.“
„Eines nicht so fernen Tages werden auch wir Schiffe aussenden“, versicherte Nedeam. „Doch die Sicherheit der Mark hat Vorrang. Was ist, mein Freund?“
Nedeam hatte bemerkt, dass der erste Schwertmann die Augen beschattete und in den Himmel starrte, während sich seine Haltung anspannte.
„Da ist etwas am Himmel, Hochlord. Ein großes Objekt, welches langsam näherzukommen scheint.“ Er warf Nedeam einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ein fliegendes Objekt. Von Händen erschaffen.“
Nedeam folgte der Blickrichtung. „Bei den finsteren Abgründen, Ihr habt recht.“
Der Herr der Landmark wandte sich um und rief einem der Männer einen Befehl zu, die mit Vermessungsarbeiten befasst waren. Rasch eilte dieser herbei und überreichte Nedeam ein Langauge. Der zog das Teleskop auseinander und stellte es scharf.
„Eine Wolkenstadt“, murmelte der Herr der Landmark überrascht. „Es muss eine dieser fliegenden Städte der Zwerge sein. Wir haben noch nie eine zu Gesicht bekommen, doch der Händler aus dem fernen Reich Telan behauptete, dass es sie geben würde.“
„Ja, ich erinnere mich an seine Geschichte.“ Antarim grinste. „Allerdings nahm ich sie nicht ernst. Händler erzählen gerne aufregende Geschichten, um vom Preis des Handels abzulenken.“
„Hier, nehmt das Langauge, dann könnt Ihr sie selber sehen.“ Nedeam reichte die Sehhilfe an den Freund. „Die Zwerge werden Llaranea erkennen. Sie werden die Stadt zum Ziel nehmen, denn Zwerge wollen immer Handel treiben.“
„Dann sollten wir uns hier beeilen und möglichst bald aufbrechen“, schlug Antarim vor. „Ich bin neugierig, denn es wird meine erste Begegnung mit leibhaftigen Zwergen sein.“