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Kapitel 5 Seegang
ОглавлениеDie R.M.S. Celeste stampfte in der See und Friederike hörte das erbarmungswürdige Stöhnen ihrer Mutter, während sie die Kabine verließ und die Tür hinter sich zuzog. Ihr Vater bemühte sich rührend und zugleich eher erfolglos, Karolina beizustehen und die feuchten Kompressen auf ihrer Stirn waren ein Zeichen seiner Hilflosigkeit. Schon mehrfach hatte Karolina sich übergeben. Inzwischen war ihr Magen leer, doch das auf und ab des Schiffes rief wieder und wieder ein krampfartiges Würgen hervor. Der Schiffsarzt hatte bereits nach ihr gesehen und ihr zwei Tabletten gegeben, doch sie schienen nicht zu helfen.
„Gehe du nur an Deck, mein Liebes“, hatte Josef seufzend zu seiner Tochter gesagt. „Ich werde schon ein Auge auf deine Mutter halten. Ich glaube, es wird ihr erst besser, wenn wir wieder an Land sind.“
Friederike hatte genickt und war erleichtert, die enge Kabine verlassen zu können. Sicher, sie hatten eine Passage erster Klasse und ihre Kabine war geräumiger und sichtlich luxuriöser, als die Unterbringung der zweiten Klasse oder gar des Zwischendecks. Aber hier draußen, auf dem Atlantik, genoss sie es an Deck spazieren zu gehen. Hier roch sie jene Seeluft, die man ihr in Büchern beschrieben hatte und es gab keinen fauligen Gestank, der ihre romantischen Vorstellungen beeinträchtigen konnte. Oh, sie hätte gerne einmal das Postschiff unter vollen Segeln erlebt, doch Lieutenant Arguilles Ankündigung, die Maschinen würden es schon schaffen, hatte sich bislang bewahrheitet.
„Wir haben Ihnen eine Kabine in der Schiffmitte zugewiesen“, hatte der nette Leutnant mitgeteilt. „Zwar sind dort die Maschinen etwas lauter zu hören, aber das auf und ab des Schiffes ist nicht so stark zu spüren, wie an Bug oder Heck. Anbeträchtlich der bedauerlichen Verfassung Ihrer werten Frau Mutter, haben wir dies für angemessen erachtet.“
Ursprünglich hatten sie eine Kabine weiter vorne erhalten sollen, aber der Kapitän des Schiffes, Captain Helms, hatte wohl schon beim Anbordgehen der Familie eingeschätzt, das zumindest Karolina keine Seebeine bekommen würde. Friederike hingegen genoss die Bewegungen des Schiffes, die ihr merkwürdig lebendig schienen. Wann immer sie die Möglichkeit fand, ging sie aufs Deck hinauf und gelegentlich, wenn ihre Mutter keiner Einwände erhob oder zu schwach war, diese vorzubringen, tat sie dies auch in der Nacht. Der Sternenhimmel über dem Meer war beeindruckend und wirkte grenzenlos, ganz anders als in Frankfurt, wo das Firmament durch die Landschaft und die Stadt begrenzt worden war. Nein, hier boten das Meer und die Sterne unendliche Weiten.
Friederike ging den holzvertäfelten Gang der ersten Klasse entlang, der vom Licht der elektrischen Lampen erhellt wurde. Die Erfindung Edisons fand die junge Frau immer wieder beeindruckend. Ein sauberes und helles Licht, welches sicher seinen Weg in alle Haushalte finden würde. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie in einer Nebenstraße einmal ein Haus gebrannt hatte, als die Gasleitung explodiert war. Es war schrecklich gewesen und ihr Vater hatte zu jenen gehört, die der Not leidenden Familie danach unter die Arme griffen. Selbst Karolina hatte sich engagiert und einen Basar ausgerichtet, dessen Erlös der Familie zugute gekommen war.
Das Schiff rollte leicht zur Seite und Friederike stützte sich ab, bis die Celeste sich wieder aufrichtete. Sie erreichte den Niedergang, wie die Treppen auf den Schiffen seltsamerweise hießen, und trat auf das Deck hinaus. Vor sich sah sie den Großmast, den mittleren Mast des Schiffes. Friederike stellte sich die im Wind geblähten Segel vor und seufzte entsagungsvoll. Sie blickte hinter sich und sah die zwischen den großen Schaufelrädern aufragende Brücke des Postschiffes. Es war heller Tag, doch der Himmel war grau und die weißen Schiffsaufbauten bildeten einen harten Kontrast zum trüben Hintergrund. Friederike sah Captain Helms auf der Brücke, der sich mit seinem zweiten Offizier, Timothy Arguille unterhielt. Helms bemerkte sie und grüßte freundlich. Für Friederike war er das Urbild des Seemannes, tief gebräunt und mit einem vom Wetter und der See gegerbten Gesicht. Dazu strahlten zwei blaue Augen aus einem Gesicht, das von einem dichten, grauen Bart eingerahmt war. Wie üblich hatte der Kapitän seine geliebte Pfeife im Mundwinkel. Eigentlich sah man ihn nur im Speisesaal ohne die Pfeife, die ähnlich verwittert schien, wie ihr Besitzer.
Eine ganze Reihe von Seeleuten kniete mit Scheuersteinen auf den Planken und schrubbte sie. Seemännische Bordroutine, ebenso wie die Arbeiten in der Takelage und an den Segeln, denn auch wenn die Celeste unter Dampf fuhr, hielt Captain Helms sie jederzeit bereit, auf die Windkraft zurückzugreifen. Der Seewind bauschte Friederikes Röcke, während sie an den Matrosen vorbei zum Bug des Schiffes ging. Hier ragte der Bugspriet wie ein mächtiger Stoßzahn nach vorne und schien dem Schiff den Weg zu weisen. Friederike beugte sich ein wenig über die Reling, um einen Blick auf die Galionsfigur zu werfen, die eine barbusige Meerjungfrau darstellte.
„Sie sollten Vorsicht walten lassen, gnädiges Fräulein“, erklang Timothy Arguilles Stimme hinter ihr. „Wenn eine stärkere Welle kommt und wir überlegen, könnte es gefährlich werden.“
Wie um die Worte des Seeoffiziers zu untermauern, legte sich die Celeste erneut über und Arguille griff hastig an Friederikes Arm und hielt sie fest. Für einen Moment erschrak sie, während der Leutnant sie hielt. Nach ein paar Sekunden ließ er ihren Arm los und trat zurück. „Verzeihung, gnädiges Fräulein.“
„Nein, es gibt nichts zu verzeihen“, sagte sie rasch und bemerkte sein Erröten. Ihre Gegenwart schien den jungen Offizier verlegen zu machen. Irgendwie fand sie es süß, wie er unter seiner Bräune errötete. „Es war mein Fehler und sie haben mich möglicherweise vor einem schrecklichen Sturz ins Meer bewahrt.“
Arguilles Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln, das zwei Grübchen auf seine Wangen zauberte. Für einen Moment sahen sie sich schweigend an und eher unbewusst verglich Friederike den Schiffsoffizier mit ihrem Friedrich. Friedrich war ein gestandener Bursche, sicherlich ein guter Landwirt, wenn er einmal einen Hof führte. Ganz anders als dieser junge Offizier, der so mit dem Meer verwachsen schien und zugleich gute Manieren zeigte. Dennoch war da eine seltsame Gemeinsamkeit zwischen Timothy Arguille und Friedrich Baumgart, die Friederike zunächst nicht einordnen konnte.
Der Schiffsoffizier räusperte sich und wies mit dem Arm hinter sie. „Die liegen fest.“
„Wie?“ Sie wandte sich um und sah verschwommen ein entferntes Schiff.
Arguille reichte ihr sein Fernglas und wies zu dem Schiff hinüber. „Einer der Großsegler. Eine Vier-Mast-Bark. Wahrscheinlich einer der großen Tee-Clipper, die zwischen den Kontinenten unterwegs sind. Hat noch keine Dampfmaschine und ist auf die Windkraft angewiesen. Sehen sie seine großen Segel? Wenn er guten Wind hat, lässt er uns weit hinter sich, aber jetzt liegt er in einer Flaute.“
Friederike betrachtete interessiert den Clipper, dessen große Segeltuchflächen schlaff an den Rahen hingen und kaum bewegt wurden. Timothy Arguille beugte sich neben ihr über die Reling und sie spürte seine Nähe. Es war ein angenehmes Gefühl, das sie lange vermisst hatte und einen wohligen Schauder über ihren Rücken jagte.
„Fräulein Ganzweiler, gestatten Sie mir eine Frage?“
„Sicher.“ Sie wandte den Blick nicht von dem anderen Schiff, da sie sich scheute, den jungen Offizier anzusehen.
„Heute Abend, äh, ist doch der kleine Empfang im Salon“, sagte Arguille und räusperte sich verlegen. „Würden Sie mir die Ehre geben, mich zu begleiten?“
Friederike spürte die Unsicherheit in seiner Stimme. Sie überlegte. Warum sollte sie nicht mit ihm zu dem kleinen Empfang gehen, welcher der Unterhaltung der Passagiere auf der wochenlangen Überfahrt diente? Es tat ihr sicherlich gut, etwas Abwechslung zu erleben. „Es wäre mir nicht unangenehm, Herr Leutnant Arguille.“
„Dann, äh, dann darf ich Sie gegen Acht Uhr abholen, gnädiges Fräulein?“
Sie senkte das Fernglas, drehte sich zu ihm um und reichte es ihm. „Sie dürfen, Herr Leutnant.“
Er sah süß aus, wie er abermals die Grübchen bekam. Timothy Arguille räusperte sich erneut und grüßte Friederike verlegen, bevor er sich wieder seinen Dienstgeschäften zuwandte. Friederike sah ihm einen Moment nach und lächelte. Er war wirklich ein netter Kerl. Sie dachte an ihre Mutter Karolina. Auch wenn sie ihrer Mutter nichts Schlechtes wünschen wollte, so hoffte sie doch, dass ihre Unpässlichkeit auch an diesem Abend anhalten würde. Es wäre bedauerlich, wenn die Übervorsicht ihrer Mutter ihr diese kleine Abwechslung verdarb. Warum sollte sie nicht ein wenig flirten? Es würde ihr gut tun und Leutnant Arguille sicherlich auch. Arguille, was war das eigentlich für ein Name? Es klang schottisch, aber er sprach ein akzentfreies Deutsch. Friederike lächelte. Sie hatte sich im vergangenen Jahr ausgiebig auf die neue Heimat vorbereitet und sprach nun neben dem Französisch, welches sie ohnehin beherrschte, auch ein ausgezeichnetes Englisch.
Spielerisch strich sie über die Reling des Schiffes. Ja, sie freute sich auf den Abend. Ihr Blick fiel auf die Brücke und ihre Augen begegneten denen von Arguille, der dort neben dem Steuermann stand. Dahinter erkannte sie Captain Helms und für einen Moment hatte Friederike das Gefühl, dessen freundlichen Augen zeigten einen besorgten Schimmer.
Sie ahnte, was in dem erfahrenen Seemann vorging, doch seine Sorgen waren unbegründet. Sie würde die Gesellschaft Arguilles genießen, doch sie würde ihm nichts zugestehen, was einem anderen versprochen war. Ihre Gedanken glitten zu Friedrich Baumgart. Sie hatten sich nun schon lange nicht mehr gesehen und nichts voneinander gehört. Sie wusste nicht einmal, ob er tatsächlich in Amerika angekommen war. Sie machte sich Sorgen um ihn. Große Sorgen. Doch während sie so über das Meer blickte, da fragte sie sich, ob diese Sorgen auch mit ihren Sehnsüchten einhergingen.
Sie hatte so vieles mit Friedrich gemeinsam. Aber waren dies wirklich Gemeinsamkeiten oder war es nur eine Schwärmerei, die sie aneinander band? Alles war so klar für sie gewesen, als sie sich in der Frankfurter Paulskirche begegneten und als sie gemeinsam für die Demokratie einstanden. Doch das war in der Heimat gewesen. Der Heimat, in der die demokratische Bewegung gescheitert war und die nun hinter dem Heck der Celeste immer weiter in die Vergangenheit glitt.
Die Zukunft lag vor ihr. Die große Demokratie in Amerika. Ein Präsident, der vom Volk gewählt worden war. Vor ihr lag eine neue Heimat und Friederike fragte sich, welche Gemeinsamkeit sie noch mit Friedrich verband.