Читать книгу Zwielicht 11 - Michael Schmidt - Страница 10

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Ich möchte mit Leuten sprechen, denen das Böse schon einmal begegnet ist. Wir alle wissen, das Böse kann einem begegnen in Form eines Menschen; eines Menschen, der einem viel Leid angetan hat. Sei es körperliche Gewalt oder psychologische Stigmatisierung. Hat euer Daddy euch verprügelt oder in den Keller gesperrt? Das Böse kann einem aber auch begegnen in einer übernatürlichen Form. Reden wir hier von Dämonen oder Satan selbst? Glaubt ihr an böse Geister? Ist euch der Leibhaftige schon mal begegnet? Darüber möchte ich gerne mit euch sprechen, also ruft an.

Und die Leute riefen an. Gerade hatte er eine betagte Frau in der Leitung, die ihm von ihrer unheimlichen Begegnung mit dem Bösen erzählte.

„Okay, also wie darf ich das deuten? Sie sind also wirklich einem … Gespenst begegnet?“, fragte McMillan die Dame, deren Unsicherheit man zunehmend heraushörte.

„Ich kann nur schildern, was ich gesehen habe. Die weiße Gestalt einer alten Frau – älter als ich – die nachts vor meinem Bett stand. Sie sprach kein Wort, kein einziges. Aber sie starrte mich an …“

„Ein kleiner Break, Charlotte“, unterbrach der Moderator sie. „Wir haben jetzt nach Mitternacht. Rufst du gerade aus deinem Schlafzimmer an?“

„Nein, nein, das Telefon ist im Wohnzimmer“, beteuerte sie.

„Guck doch mal ins Schlafzimmer, ob du die Gestalt mit den roten Augen wieder siehst“, sagte McMillan.

„Nun, das ist es ja. Ich traue mich nicht mehr ins Schlafzimmer. Die Gestalt erschien mir nur dort, … selbst meine Katze macht einen Bogen darum. Ich schlafe seitdem auf meiner kleinen Couch.“

„Wieso ziehst du dann nicht einfach aus? Mich würden da keine zehn Pferde mehr halten!“

„Will ich ja, aber ich kann mir keinen Umzug leisten bei meiner knappen Rente. Ich beziehe ja schon zusätzlich Stütze. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich stehe Todesängste aus!“

„Hast du schon mal einen Exorzisten gerufen?“, fragte McMillan abschätzig.

„Wie bitte?“

„Das denk’ ich mir auch. Tja, Charlotte, ich an deiner Stelle würde schnell die Pillen absetzen, die du gerade eingeworfen hast. Vielleicht verschwinden die Gestalten dann ja von ganz alleine. Danke, dass du angerufen hast und süße Träume. Grüß deine unerwünschte Untermieterin von mir. Bye-bye.“

Die Frau versuchte noch etwas zu erwidern, aber ein Klick von McMillan auf den Button seines Armaturenbretts und die Dame verschwand, als hätte es sie nie gegeben. McMillan holte kurz Luft und sprach in sein Mikrofon, welches an einem silbernen Stativ von der Decke herabhing. Wenn die Feder mächtiger war als das Schwert, wie stand es dann mit dem Mikrofon?

„Ja, das war die gute Charlotte, die einen Geist in ihrem Schlafzimmer vermutet. Was haben die Untoten in unseren Gemächern zu suchen? Ist es ihnen nicht mehr kuschelig genug in der Hölle? Falls ihr auch eine unheimliche Begegnung mit dem Bösen überlebt habt – sei es der Spuk in eurem Kleiderschrank oder einfach nur der Hund, der mal wieder prophylaktisch eure Hausaufgaben gefressen hat – dann ruft an, die Leitungen sind frei und ich habe ein Ohr für euch. Wir machen sofort weiter nach einer kurzen Pause. Bis gleich.“

Noch während er sprach, wanderte seine Hand mit der Maus über den Desktop seines Rechners, wo er nahtlos auf die Trackliste überleitete und daraufhin den Moderationsregler langsam herunter drehte. Zwei Songs wurden gespielt: The Blues Are Brewin’ von Billie Holiday und Thunder Road von Robert Mitchum. Um so eine späte Uhrzeit spulte man immer Oldies ab, weil die Tantiemen dafür günstig zu beziehen waren und man es sich nicht leisten wollte, teure Hits aus den Charts zur Geisterstunde einzukaufen. Wer so lange aufblieb, um McMillan zu hören, tat dies schließlich nicht wegen der Musik. Neben den Songs quetschten sich ein paar Werbespots über den üblichen Schrott in den Block. Milde Kaffeebohnen, die das Temperament Südamerikas einfingen. Die 2mach1-Rabattaktion beim örtlichen Elektronik-Großhändler. Neue Anzahlungsmodalitäten beim Autoverkäufer. Schlagen Sie jetzt zu, bevor es zu spät ist! Als Zugabe die Ansage für das Freeze-Festival am Wochenende, wo der Sender zwei Tickets in der ersten Reihe verloste.

McMillan zog unbekümmert die Kopfhörer ab und begab sich zur Regie, die hinter einer isolierten Glasscheibe im Nebenzimmer lauerte. Um diese Uhrzeit standen ihm nur Thomas Lee und stets ein armer Praktikant zur Seite, den man zur Nachtschicht verdonnert hatte, ohne ihm einen Penny dafür zu zahlen. Keine Ahnung, wie der Knabe hieß. McMillan gab sich nie Mühe, die Namen der Hospitanten zu merken, da sie genauso schnell verschwanden, wie sie gekommen waren. Immerhin gaben die meisten einen Ausstand mit Kuchen und ließen so wenigstens etwas Brauchbares zurück. Thomas Lee dagegen war ein gängiger Kollege und für die Aufnahmeleitung sowie den technischen Support zuständig. Er sorgte für den reibungslosen Ablauf der Sendung und arbeitete nebenher auch als Rechercheur und Realisator. Lee filterte die Anrufer mithilfe des Praktikanten aus, um nur die interessanten Fälle zum Moderator vorzulassen. Dies geschah stets durch Vorgespräche, in denen die Anrufer ihr Anliegen erläutern konnten, wobei Lee auch die akustische Qualität der Verbindung ins Auswahlkriterium einfließen ließ. Daher hatte er zwischen den Pausen nur wenig Zeit, sich mit McMillan zu unterhalten. Auch jetzt führte er gerade eines jener Vertiefungsgespräche mit einem potenziellen Kandidaten. Wie abgesprochen hatte der Praktikant den Tee für McMillan bereits gekocht. Ohne eine Geste des Dankes griff der Moderator nach der heißen Tasse. In dem Augenblick setzte Lee den Anrufer kurz in die Schleife und wandte sich an McMillan.

„Henry, das war gut grad eben, aber du hättest die alte Lady ruhig noch ein bisschen zappeln lassen können“, dozierte er.

„Ach, wie oft hatten wir das schon? Geister und Geistererscheinungen. Diese Typen sind doch reif fürs Irrenhaus“, monierte der Moderator. „Zugegeben, zuerst war es ja noch lustig, aber als sie dann mit dem Kram anfing, dass sie nicht weiß, wohin mit sich und dass sie niemanden hätte … mickrige Rente und Sozialdramen, interessiert doch keinen Pferdeschwanz. Was hätte ich ihr sagen sollen? Dass am Ende alles wieder gut wird, wenn sie diesen und jenen Kräutertrank braut?“

„Vielleicht hab’ ich hier etwas, das dir besser gefällt, Ringo“, erklärte Lee und deutete auf sein Mischpult. „Da ist ‘ne Tussi, die nicht behauptet mit dem Bösen konfrontiert worden zu sein, sondern selbst das Böse zu personifizieren.“ Anders als von seinem Aufnahmeleiter erwartet, hing McMillans süffisantes Lächeln nur noch an einem Faden, der vor dem Zerreißen stand. Seine Augäpfel verdrehten sich.

„Good Lord, so ‘ne Satansbraut? Wahrscheinlich Gothic-Look, Emo-Gewäsch und das Pentagramm noch dazu, was?“ spottete er.

„Das glaube ich nicht, zumindest klingt sie nicht, als sei sie eine von diesen verirrten Mädels aus der Szene. Ich hak’ nochmal etwas nach, aber Interesse besteht?“

„Pack die Alte rein …“, entgegnete McMillan, trank seinen letzten Schluck und knallte die Tasse auf den Tisch. Er warf sich noch schnell ein paar Erdnüsse ein und schritt ins Studio zurück. Durch das Fensterglas konnten Thomas Lee und der Praktikant sehen, wie er Platz nahm und sich zum nächsten Gespräch auflockerte. Das Gewitter lag noch in weiter Ferne, doch das markige Donnern kam langsam und bedächtig näher, gleich einer anschwellenden Drohung als Vorzeichen einer archaischen Schlacht, der man nicht entrinnen konnte. Gleich liefen die Einspieler ab und McMillan würde die Anmoderation übernehmen. Leise betrat der Praktikant das Studio und brachte ihm einen der vielen Notizzettel mit Informationen über den nächsten Anrufer: Selina O’Reilly, 29 Jahre.

Frischfleisch, dachte sich McMillan, aber ob der Name stimmt? Wahrscheinlich nicht. Wie bei den meisten Anrufern musste es sich um ein Pseudonym handeln, um sich den Hohn von Freunden und Familien zu ersparen. War es doch überaus peinlich, wenn man im Late-Night-Talk ertappt wurde und dort offen eingestand, eine erotische Beziehung zu seinem Küchenstuhl zu führen. Der Praktikant verschwand und die letzten Takte von Thunder Road entfalteten sich über die Hörerfrequenzen. Henry McMillan übernahm das Ruder.

„Hallo, liebe Leute. Da sind wir wieder mit Shut Up and Talk! und unserem heutigen Thema: Das Böse. Seid ihr dem Bösen bereits von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten? Wenn ja, wie hat es sich manifestiert? War es die resolute Schwiegermutter oder womöglich ein Monster unter eurem Bett? Ruft uns an und teilt eure Story mit. Das Blut kann ruhig spritzen! Ich unterhalte mich jetzt erst mal mit Selina O’Reilly, 29 Jahre alt. Hallo, Selina.“ Nur der Bruchteil einer Sekunde verstrich, dann hörte er ihre Stimme zum ersten Mal.

„Hallo, Henry“, antwortete sie locker und ungezwungen. Ihre Worte kleideten sich in einer seltsamen Klangfarbe, beherrschten den Ausdruck frommer Schüchternheit, die mit einer eigentümlich suchenden und wohl dosierten Langsamkeit ihren Lippen entwich und ihre Sprache daher unnahbar erscheinen ließ.

„Schieß’ los“, sagte der Moderator. „Was möchtest du uns mitteilen?“

„Das Thema des heutigen Abends lautet das Böse?“, fragte sie zögernd.

„Dies ist nicht unsere Quizsendung mit Richard Dawson am Nachmittag, aber der Kandidat hat dennoch recht. 10 Punkte! Das Böse. Lass hören, Mädchen.“

„Ich … ich bin das Böse …“, erwiderte sie seufzend. Bingo, dachte sich McMillan. Damit konnte er arbeiten.

„Also du bist das Böse, ja? Dann reden wir ja heute Abend eigentlich alle über dich. Warst du vielleicht die Frauengestalt, die unserer lieben Anruferin Charlotte von gerade eben immer im Schlafzimmer auflauerte? Bist du ein Geist, Selina?“, witzelte er spöttelnd.

„Nein, bin kein Geist – nichts dergleichen. Aber für viele Menschen bin ich das Böse“, antwortete sie überaus sanftmütig. Die Tatsache, dass McMillans Sticheleien sie nicht verunsicherten, verärgerte den Moderator ein wenig. Daher versuchte er etwas auf sie zuzugehen, sie zu locken, zu ködern.

„Ähm, wie darf man das auffassen? Du betrachtest dich als das Böse? Oder haben andere Angst vor dir?“, fragte er mit ernster Miene.

„Andere haben mich dazu gemacht. Ich hatte keine Wahl. Ich … habe zeit meines Lebens versucht wie jedes andere Mädchen zu sein.“

„Vielleicht schilderst du uns mal genau deinen Sachverhalt.“

„Keiner fürchtet mich, weil keiner mich sieht. Ich bin nur eine Hülle. Für meine Kollegen auf der Arbeit bin ich die stille und unauffällige Büromaus, welche die Akten wegschafft, den Kaffee kocht und den Kram erledigt, für den die anderen keine Zeit haben“, erklärte sie.

„In welcher Branche arbeitest du denn?“

„In einer Agentur. Einer Redaktionsagentur, die die Publikation und Betextung von Magazinen betreibt.“

„Verstehe, aber du bist jetzt nicht in die kreative Arbeit eingebunden? Also, du selbst schreibst keine Artikel für die Zeitschriften? Habe ich das richtig herausgehört?“

„Das ist korrekt“, antwortete sie mit einem Anflug von Sehnsucht. „Ich hatte es mir früher immer erhofft, irgendwann mal Redakteurin bei einem erfolgreichen Magazin zu sein, aber das habe ich dann genauso schnell wieder aufgegeben wie vieles andere auch. Ich mache nur den Verwaltungskram im Hintergrund, den keiner zur Kenntnis nimmt. Ich selbst schreibe nichts …“ McMillans Mitleid hielt sich in Grenzen.

„Okay, ich hab’ nur aus Interesse gefragt. Aber inwieweit hat das etwas mit unserem Thema zu tun?“

„Wenn die Kollegen mich überhaupt wahrnehmen, dann sehen sie mich als scheinbar normalen Menschen. Ich lächle und lasse mir nie etwas anmerken, sie wissen nicht, wie es in mir aussieht. Denn unter der Haut, unter dem Fleisch, den Nerven und den Blutlaufbahnen bin ich ein Wolf. Sie können das nicht sehen, denn Wölfe zeigen sich nicht am Tag. Kreaturen wie jene kommen langsam des Nachts hervor, wenn die Finsternis hereingebrochen ist und die Lichter entzündet werden. Es ist dann nicht mehr dieselbe Welt, deswegen fürchten Menschen seit jeher die Dunkelheit. Die Luft kühlt sich ab, die Geräusche verändern sich, werden langsamer, vorsichtiger … angespannter. Die Menschen hasten zu ihren Mietskasernen, die sie wie Bollwerke der Zivilität anbeten, und verriegeln alle Türen. Sie ordnen ihre Scheckhefte, werfen was in die Mikrowelle, knallen sich vor den Fernseher, ignorieren die Schreie und versuchen zu vergessen, wer die Nacht dort draußen kontrolliert …“

Selinas Sprachduktus wandelte sich langsam, sie hörte sich nun bestimmter und knarrender an.

„Was hast du genau getan?“, fragte McMillan.

„Das werde ich hier sicher auch wortwörtlich mitteilen“, lautete ihre ironische Antwort. Okay, Fräulein, dachte sich der Moderator. Du willst spielen? Dann lass uns spielen.

„Aber Wölfe gehen nachts auf die Jagd. Hast du das auch getan?“, fragte er.

„Ja“, sagte sie lakonisch.

„Du bist also in der Nacht durch die Stadt geirrt und hast Ausschau nach einem … Opfer gehalten?“

„Ja …“ Wieder folgte keine Ausführung, was McMillans Ärger nur anheizte, aber er versuchte, es nicht durchscheinen zu lassen, wusste er doch, dass er dieser Göre heute Abend noch verbal einen über den Schädel ziehen würde. Das sollte ihr recht geschehen mit ihrer pseudo-nebulösen Art.

„Hast du eines gefunden?“, fragte er daher weiter.

„Sehr selten …“

„Aber du bist schon mal fündig geworden?“

„… ja.“

„Hast du es mehrmals … naja, getan?“

„Bisher nur zweimal …“

„Tss, willst du mir etwa ernsthaft sagen, dass du zwei Menschen umgebracht hast?“, fragte er sarkastisch.

„Glauben Sie das etwa?“, erwiderte Selina unbeeindruckt zurück. Nun wollte McMillan sie mehr aus dem Konzept bringen als zuvor.

„Du willst mir also erzählen, dass du ein Werwolf bist? Weißt du, ich glaube einfach, dass du zu viel von diesem Twilight-Scheiß geguckt hast. Stimmt es oder habe ich recht?“

Eine kurze Pause trat ein, doch sie war lang genug, um McMillan das Gefühl zu geben, dass er sie nun vergrault hätte. Thomas Lee und der Praktikant hielten im Aufnahmeraum den Atem an, allerdings machten sie auch deutlich, dass die Frau sich noch immer in der Leitung befand. Plötzlich war sie wieder da.

„Wissen Sie, Ihr Hohn kommt mir bekannt vor. Er erinnert mich daran, wie ich bereits als Mädchen Angst vor der Schule hatte“, antwortete Selina feinfühlig; sie war ruhiger als zuvor.

„Aha. Und weshalb das?“, fragte der Moderator nun unverhohlen despektierlich.

„Dort wurden meine Klauen geschärft. Ich ergab mich meiner Rolle mit Herz und Hand, nachdem mir alle Menschlichkeit geraubt wurde.“

„Wirklich? Nun, tut mir ja wirklich leid, dass du nie jemanden zum Spielen hattest und deswegen deinen Charakter so weggeschmissen hast, Selina, aber ich denke …“

„Wissen Sie, wie sie mich damals genannt haben?“, unterbrach sie ihn scharf.

„Nein, weiß ich nicht. Woher auch?“, fragte der Moderator entnervt.

„Nicht nur auf dem Schulhof. Nicht nur die Kinder. Das ganze Dorf. Für sie war ich kein Mensch mehr.“ Doch Henry McMillan hatte endgültig die Geduld und auch das Interesse an einer weiteren Diskussion verloren. So verlottert, wie diese Schlampe sprach, musste sie vorher zweifelsfrei die falschen Pillen eingeworfen haben. Er wollte sie aus der Sendung werfen und wanderte mit dem Zeiger der Maus bereits in Richtung des Change-Buttons.

„Interessant, also wir würden dann …“, setzte er an, wurde aber zugleich unterbrochen.

„Sie nannten mich das Hanky-Panky-Mädchen …“, hauchte die Anruferin. Augenblicklich wurde in McMillan ein innerer Akkord angeschlagen. Dabei hatte er ihren Worten kaum noch Beachtung geschenkt und dennoch empfand er ihre Aussage als etwas unterschwellig Bedrohliches. Es handelte sich nur um wenige Sekunden, die zwischen ihren Worten und seiner Nachfrage lagen, und doch sah er sich gezwungen diese Frau noch einmal anzusprechen.

„Wie?“, war die einzige Frage, zu der er imstande war.

Hanky Panky …“, flüsterte Selina in einem hohen Ton zurück. „Sie nannten mich nur das Hanky Panky-Mädchen …“

Hanky Panky?“, fragte er nach, so als hätte er es nicht verstanden. Selbst in der Aufnahmeleitung merkten die beiden anderen Mitarbeiter, dass etwas mit McMillan nicht stimmte. Für kurze Zeit hatte er sich mental komplett ausgeklinkt und war erst wieder anwesend, als sich die fremde Anruferin namens Selina O' Reilly wieder zu Wort meldete.

„Für sie war ich nur das Hanky Panky-Mädchen … Selina O' Reilly hingegen bloß ein wagemutiger Gedanke. Ein Mensch, der nicht existieren durfte. Und wenn, dann nur in der Vorstellung.“ Langsam fasste der Moderator sich.

„Ähm, kannst du vielleicht genauer darauf eingehen, was es mit Hanky Panky auf sich hat? Du wurdest gemobbt?“

„Mobbing?“, wiederholte Selina, als kenne sie die Bedeutung des Wortes nicht, „nun wie man so was nennt, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich: Für die Menschen in dem kleinen, katholischen Dorf war ich der singende, tanzende Dreck der Welt. Es gab keinen Tag, an dem man sich nicht nach mir umdrehte und tuschelte. Überall flüsterte man mir nach: Hanky Panky. Ich hatte jeden Morgen unglaubliche Angst zur Schule zu gehen. Dass man mich schließlich dazu zwang die Schulbank zu drücken, verschärfte es nur noch. Immerhin wussten die anderen auf diese Weise, wie sie mir schaden konnten. Nun, wo sie sahen, dass ihre Saat aufging, wollten sie schauen, wie weit sie es treiben konnten. Zuerst lästerte man nur hinter meinem Rücken, dann ganz unverhohlen, sodass ich es auch ja mitkriege. Schließlich mussten die Mitschüler keine Konsequenzen befürchten. Zuerst wurde ich nur gehänselt, dann verhöhnt, schließlich gequält …“

„Und weiter?“, fragte McMillan. Alle Gedanken Selina aus der Sendung zu kicken, ließ er fallen.

„In den Pausen habe ich nicht viel mitbekommen, weil ich mich auf der Mädchentoilette versteckte und erst rauskam als es klingelte. Am schlimmsten aber war der Sportunterricht – nicht etwa, weil ich unsportlich gewesen wäre, sondern weil wir dort lange Zeit auf uns alleine gestellt waren, ohne Lehrer. Wenn Erwachsene dabei waren, ging es ja noch vergleichsweise milde zu – auch wenn sie nie Einspruch gegen die Kinder erhoben. War keine Aufsichtsperson da, gab es keine Hemmschwelle.“

„Was hat man genau mit dir gemacht?“

„Naja, natürlich unter die Dusche gesteckt, oder wenn ich mich durchsetzen konnte, wurden zur Strafe meine Tasche und alle meine Unterlagen unter die Dusche gesteckt. Nicht, dass sie etwas hätten zerstören können, das mir teuer gewesen wäre, ich hatte ja ohnehin nichts. Aber noch schlimmer waren die Jungs. Die Mädchen hassten mich, weil ich für sie das symbolisierte, wovor sie sich fürchteten und wie sie niemals enden wollten. Aber die Jungs betrachteten mich wie ein Tier, ein totes Tier. Von ihnen zu hören, dass ich hässlich sei und stinken würde – ich habe mich gewaschen wie jeder andere auch – war einfach zerfleischend. Ihr Spott zog mir die Haut von den Knochen. Vom anderen Geschlecht zu hören, dass nie jemand so lebensmüde sein würde, sich in mich zu verlieben, war wie der ausschlaggebende Grund, den die Mädchen in meiner Schule gesucht hatten, um mir das Leben zur Hölle zu machen. Einmal habe ich erfahren, dass einer der Jungs eine Wette verloren hatte, und mich zur Strafe um ein Date bitten musste. Als die ultimative Mutprobe sozusagen. Und alle nannten mich Hanky Panky – und nicht Selina O’Reilly.“

„Hast du denn nie versucht, dich dagegen zur Wehr zu setzen …“

„Was hätte ich denn machen sollen?“, herrschte Selina ihn an. Dann verfinsterte sich ihre Stimme. „Ich habe mal versucht aufzubegehren. Aber wie soll sich einer gegen alle durchsetzen? Nein, das hat es nur noch schlimmer gemacht. Ich trug zum Beispiel fast ausnahmslos immer dieselben, abgetragenen Klamotten, die sich über die Zeit langsam aufzulösen begannen, weil meine Mutter nicht viel hatte, um es für neue Kleidung auszugeben. Meine weiße Bluse verfärbte sich zu gelb und die kruden Träger meines BHs schienen immer weiter hindurch. Aber eines Tages, als die Weihnachtsferien zu Ende gingen, bekam ich endlich ein neues Kleid. Ich war so stolz darauf und kann mich bis heute an jedes Detail erinnern. Ein reizender Rock, der bis zu meinen Knien reichte. Statt schmandiger Kniestrümpfe nun schwarze Nylonstrümpfe. Dazu ein laszives, marineblaues Top ohne Ärmel. Ich hatte mir sogar extra eine Dauerwelle machen lassen. Es war das erste und einzige Mal, bei dem ich glaubte, nichts Sehnlicheres erreichen zu können, als wie alle anderen zu sein. Endlich dazuzugehören, ein Kind zu sein. Ich stand vor dem Spiegel und dachte für einen Moment: Ich bin nicht hässlich. Und ich bin auch kein schlechter Mensch. Ich verkörpere nicht das Böse, verkörpere nicht das Schlechte. Ich bin ein hübsches Mädchen, freundlich, ehrlich und offenherzig. Und jemand – ja, irgendjemand – wird es auch endlich bemerken und sagen, dass ich schön bin, dass ich freundlich und nett bin – denn das war ich auch! Ich wollte ja Freunde und hätte nahezu alles getan, um eine ehrliche Beziehung aufbauen zu können. Aber alle sahen in mir das Böse, das Hanky Panky-Mädchen! Das Ergebnis am ersten Schultag war vernichtend und nahm mir jegliche Hoffnung. Die Schmach war größer als je zuvor. Man hatte nicht vor, mich aus der dunklen Ecke zu lassen. Schon allein, dass ich versucht hatte, von dort zu entkommen, wurde bestraft. Ich wurde angeschrien, dass ich sterben sollte. Noch hatte ich einen Tropfen Mut und wagte zu fragen, warum denn? Warum hasst ihr mich so sehr? Ich habe euch doch überhaupt nichts getan?“

„Und was hat man dir entgegnet?“, fragte McMillan weiter. Das Thema war hart und bitter, aber auf der anderen Seite nicht das erste Mal, dass ein Mensch hier anrief und von solch Torturen Zeugnis ablegte. In McMillans Sendung hatten sogar Vergewaltigungsopfer angerufen. Aber der Aufnahmeleiter auf der anderen Seite des Studios konnte sich nicht erinnern, dass einer dieser Anrufer es je geschafft hätte, auch McMillans persönliches Interesse zu erlangen. Selina fuhr fort.

„Ihre Antwort fiel eindeutig aus: Sie hassten mich, weil ich scheiße sei. Weil ich einfach nur scheiße sei und verschwinden sollte. Das war die Begründung … das war ihre ganze Begründung. Ich war auf die Rolle des hässlichen Entleins festgelegt und als ich versuchte auszubrechen, musste ich auf den Platz zurückverwiesen werden, wo ich hingehörte. Am Ende des Schultags war ich dasselbe, hässliche Mädchen wie vor Weihnachten: Ein Geist mit bleichem Gesicht und schwarzen, fettigen Haaren, der rasch und unauffällig über die Schulkorridore huschte, um nicht ins Blickfeld seiner Peiniger zu geraten. Die Bücher hielt ich wie eine Art Schutzschild immer dicht an meine Brust gedrückt und starrte zu Boden. Irgendwann nagte auch der Zahn der Zeit an meinen neuen Klamotten. Immerhin hatte sich die Folter irgendwann wieder aufs alte Niveau eingependelt. Ich wollte ausbrechen, wurde niedergestreckt und zurück in mein Verlies geworfen, dann kehrte der Alltag unter den Wärtern und Häschern ein. Wahrscheinlich war der Zorn so groß, weil jeder Angst hatte, wenn ich nicht mehr die Zielscheibe für allen Hass wäre, jeder der Nächste sein könnte.“

„Lieber Täter als das Opfer sein … warum hast du nicht die Schule gewechselt?“, fragte der Moderator.

„Habe ich, aber auf der benachbarten Schule gab es genug Schüler, die Freunde auf meiner alten Schule hatten. Da mich dort noch nicht alle kannten, wurde hier mehr denn je mit dem Finger auf mich gezeigt.“

Das ist das Hanky Panky-Mädchen, haben sie gesagt?“

„Und alle wussten Bescheid“, antwortete Selina. „Egal, was ich tat, es war wie eine unsichtbare Wand, die man nicht durchbrechen konnte. Ich war es und sollte es immer bleiben, das Hanky Panky-Mädchen.“ Das Gespräch hatte sich nun vollkommen gedreht, denn nun beherrschte die Anruferin die Sendung, und McMillan schien ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ein Donnerhall ertönte und hatte sich seinen Weg bis zum Studio des Senders erkämpft. Der Sturm war nun deutlich nähergekommen, viel schneller als die Wettervorhersage es prognostiziert hatte. Aber die Übertragung blieb davon noch unberührt.

„Woher rührte dieser Name?“, fragte McMillan.

„Dass alle Kinder mich hassten, hat mich sehr vereinsamt und verbittert. Aber zerstört hat mich etwas anderes und das war es erst, warum man begonnen hatte, mich in der Schule als … als Störfaktor zu empfinden. Allerdings hatte ich es jahrelang verdrängt. Erst als ich erwachsen wurde und eine Therapie machen wollte, wegen der Erfahrungen aus meiner Schulzeit, wurden ganz andere Dämonen in mir geweckt. Düstere Boten aus einer morbiden Odyssee kehrten plötzlich in mein Leben zurück und verkündeten mir eine Wahrheit, der ich jede Lüge vorgezogen hätte. Der Grund, warum sie mich das Hanky Panky-Mädchen genannt hatten, war meine Mutter.“

„Deine Mutter?“

„Meine Mutter war ein schlechter Mensch. Mein Vater ließ sie während ihrer Schwangerschaft sitzen und sie hatte keine hohe Schulausbildung oder Berufserfahrung. Später half sie in einer Fischbraterei aus, aber damit wir über die Runden kamen, hat sie viele einsame und auch verheiratete Männer glücklich gemacht.“

„Ich verstehe …“

„Viele Frauen mussten es bereits vorher gewittert haben, aber niemand in der Ortschaft wagte es, etwas zu sagen, weil sie alle gemeinsam in ein viel größeres Geheimnis verstrickt waren. Hätte die Ehefrau eines Freiers meiner Mutter den Prozess gemacht, hätte sie damit eine Lawine ausgelöst, die auch sie zur Mittäterin gemacht hätte.“

„Was war das für ein Geheimnis?“

„Die Kinder in der Schule kannten bei weitem nicht alle Details, sie waren ja noch Kinder. Aber Kinder sind eben auch sehr sensibel und haben von den anderen Erwachsenen – auch den Lehrern – mitbekommen, dass meine Mutter mit anderen Männern verkehrte … ihren Vätern. So fing es an, und ich war ein gefundenes, da wehrloses Opfer. All dies habe ich meiner Mutter und den Menschen aus dieser Gemeinde zu verdanken, und manchmal wünschte ich mir, ich hätte die Erinnerungen daran nie zurückerlangt.“

„Es hat mit diesem Geheimnis zu tun? Stimmt's?“

„Muss ich es aussprechen und kannst du es dir nicht schon denken, Henry?“, zischte sie ihn an, sodass es McMillan für einen kurzen Augenblick mit der Angst zu tun bekam. Ihm fehlten die Worte, so geschasst war er von der Erzählung dieser Frau. Wollte er da wirklich noch wissen, welches Geheimnis das Dorf barg? Selina ließ ihm nun keine Wahl. Ein Blick aus dem Fenster über die Küstenklippe hätte genügt, um sein Innerstes nach außen zu kehren. Denn das Meer wog, brauste und schäumte. Es war aufgewiegelt von dem Sturm, der nun unablässig über ihnen tobte.

„Nahezu alle im Dorf wussten es. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemand nicht mitbekommen hätte. Die Kinder behandelten mich schlecht, weil meine Mutter eine Hure war. Später konnten sie sich an den Ursprung dieses Hasses nicht mehr erinnern, was sie aber nicht von Schikanen abhielt. Der Grund, warum kein Lehrer und keiner von den Eltern sie dazu bewegte, aufzuhören, lag aber daran, dass die Erwachsenen mich nur noch mehr hassten. Aber nicht, weil meine Mutter eine Hure war, dafür liebten sie sie im Bett viel zu sehr. Nein, dies hing mit einem Ritual zusammen, in welches auch meine Mutter zutiefst verstrickt war …“

„Was ist in diesem Dorf passiert?“

„Wollen Sie das wirklich wissen?“

„Ich bitte darum …“

„Da war ein Haus, ein verlassenes Haus. Gar nicht so sehr am Rande der Stadt, sondern eine ganz unscheinbar, anmutende Hütte im Ort. Direkt neben einer alten Mühle. Vorher muss dort eine Arztpraxis gewesen sein, später eine Pension, bin mir aber nicht mehr sicher. Seit dieser Begebenheit steht es jedenfalls bis heute leer und die Fenster sind mit Brettern verrammelt. Ich denke, selbst in so einer gottlosen, katholischen Gemeinde wagte es niemand mehr in dieses Haus einzuziehen.“

„Was geschah in diesem Haus, Selina?“

„Es sind lang zurückliegende Erinnerungen, die ich tief in mir vergraben hatte. Aber sie pochen und klopfen in mir, wie ein verschütteter Bergmann, der dort unten lebt. Ich weiß noch, dass es stets beim anbrechenden Abend geschah, wenn es dunkel wurde. Wie ich bereits vorher erzählte, sind es die Schatten der Nacht, aus denen sich die Monster schälen. In diesem Dorf lebten keine Menschen, schon gar nicht welche, die gottesfürchtig waren. Sie sahen wie Menschen aus, benahmen und nannten sich auch … aber in Wahrheit waren es Monster. Aus der Finsternis erwächst eben das Böse, aber die Finsternis selbst ist nicht das Böse. Sie ist nur das Gewand, in welches sich ihre Träger kleiden, um nicht erkannt zu werden, weil sie zu jemand anderem werden … weil sie etwas anderes werden.

Es sind Zeiten wie diese, wenn die Dunkelheit hereinbricht und in den Häusern die Lichter entzündet werden wie Zeichen der Hoffnung. Auch an diesem Abend brannte nach langer Zeit wieder ein Licht in der Hütte neben der alten Mühle, obgleich doch niemand mehr darin lebte.

Es war ein später Herbstnachmittag als es das erste Mal passierte. Ein später Herbstnachmittag, wo es schnell dunkel wurde, und wo ich das Böse das erste Mal mit meinen eigenen Augen sah.

Es verbarg sich nicht in einer Drachenhöhle oder einem gotischen Schloss, wie es uns immer in Märchen vorgegaukelt wurde, sondern in diesem Haus neben der alten Mühle. Dort, wo ich zuvor bereits so oft unbehelligt vorbeispaziert war. Meine Mutter und ich hatten gerade zu Abend gegessen.

Ich erinnere mich, wie ich mich üblicherweise fertig fürs Bett machen wollte, als sie mich fragte, ob wir noch eine Runde spazieren gehen wollten. Das kam überraschend, aber ich freute mich, da ich nur wenig Zeit mit ihr verbrachte. Allerdings wurde ich bereits zu Beginn stutzig, denn statt spazieren zu gehen, fuhr vor unserem Haus ein Auto vor. An dessen Steuer saß der Vater eines Klassenkameraden.

Wir stiegen ein und fuhren nur ein kleines Stück bis zu dem Haus, parkten aber weiter weg statt direkt davor. Meine Mutter führte mich herein und sagte mir, ich sollte Platz nehmen. Das Haus war spartanisch eingerichtet und als ich von ihr ins Nebenzimmer geleitet wurde, sah ich ein Bett und zwei kleine Schemel. Da trug meine Mutter mir plötzlich auf, mich auszuziehen.

Ich fragte nur: Ganz?

Und sie erwiderte völlig trocken: Ganz!

Ich gehorchte, aber verstand nicht. Ich glaubte zunächst, dass ich es mit einer ärztlichen Untersuchung zu tun hätte. Ich erinnere mich nur noch, mir später eingeredet zu haben, dass der folgende Akt irgendeinen Sinn gehabt haben musste. Der Vater des Klassenkameraden war der Erste, den ich anfassen musste – bis er sich schließlich auszog.

Es tut mir leid, aber ich muss das tun wurde mir so oder in anderer Abwandlung immer wieder gesagt, bevor es losging. Dies wiederholte sich zuerst ein paar Wochen mit verschiedenen Personen, die mich aufsuchten und ebenfalls beteuerten, dass sie dies eigentlich nicht machen wollten, aber ihnen keine Wahl bliebe. Doch aus den Wochen wurden Monate. Und als die Monate schließlich zu Jahren wurden, wusste ich schließlich nicht mehr, wer Selina O' Reilly war. Ich wusste nur noch, dass ich das Hanky Panky-Mädchen war. Ich war das Böse; nicht die Ungeheuer, die ein Kind suchten, um sich ein Stück menschlich zu fühlen …“

„Pardon! Um sich menschlich zu fühlen?“, platzte es aus McMillan heraus. „Verharmlost du da nicht etwas zu sehr?“

„Sie brauchten jemanden, an dem sie ihre finsteren Gelüste und Gedanken praktisch abreagieren konnten. Ihre eigenen Blagen in der Schule waren nur ein verniedlichtes Abbild davon, was die Menschen – selbst die edelmütigsten unter ihnen – brauchen, um sich gut zu fühlen. Jemanden auf den sie alle Last, alle Sorgen und Sünden dieser Welt abladen können, damit sie mit dem Finger auf diese Person deuten und sich sagen können: Das ist das Böse! Wir sind es nicht! Nur so können diese Menschen auch Menschen bleiben. Sie können beruhigt morgens zur Arbeit und am Sonntag in die Kirche gehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Man kapselt die dunkle Seite von sich ab, indem man seine eigenen Fehler auf eine andere Person projiziert … und diese deswegen zu hassen lernt. Diese Menschen dort waren sehr fromm, aber besaßen ein Verlangen, dass ihnen ihre erstickende Ordnung und ihre eigens erlassenen Normen nicht erfüllen konnten. Also suchten sie ein Opfer. Ich war das Böse, denn schließlich würde niemand einem Kind so etwas antun und schon gar nicht diese gläubigen Menschen. Nein, ich war daran schuld. Ich reizte sie im Alltag doch geradezu, und als ich in diesem Haus so nackt vor ihnen stand … den Nachbarn, dem Schuldirektor, der Frau des Pfarrers … da brachen bei ihnen alle Dämme. Sie konnten doch gar nicht anders! Wer würde einem Kind so etwas antun, wenn es sie nicht dazu herausforderte? Ich war das Böse, und solange sie es alle gemeinsam taten, konnten sie zusammenhalten und dafür sorgen, dass ich nicht ausbrach und noch mehr Unheil anrichtete.“

„Haben sie dir das eingeredet? Haben sie dich Glauben gemacht, dass sie das nur tun, weil du sie dazu zwingst?“, fragte McMillan tonlos. Alle Wärme schien aus seinem Körper geglitten zu sein. Doch Selina sprach weiterhin auf eine stoische Art und Weise, als würde sie über einen Besuch auf dem Jahrmarkt berichten.

„Nicht diese Menschen waren das Böse … ich war es. Ich bin es, ich sollte nie etwas anderes sein.“

„Selina … wenn ich das jetzt alles so richtig verdaut habe, dann … ich meine … ja, ist es denn nie zu einer Anzeige gekommen?“

„Anzeige? Ein Mädchen gegen ein ganzes Dorf? Und welchen Zweck hätte ich damit erfüllt? Was hätte ich gewonnen? Ich bin das Hanky Panky-Mädchen.“

„Selina, wir haben schon viele psychisch … naja, Menschen mit Problemen erfolgreich an Seelsorger weitervermittelt. Wenn du gleich noch ein bisschen dranbleibst, können wir vielleicht Dr. Borgine kontaktieren, der dich dann ...“

„Nein, nein, ich fühle mich nicht krank. Du wolltest über das Thema Das Böse reden und ich habe mich gemeldet, um dir meine Erfahrungen mit dem Bösen mitzuteilen.“

„Hast du irgendetwas getan, Selina? Ich meine, so etwas kann doch kein Mensch einfach so hinnehmen …?“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich keine Konsequenzen aus meinen Erfahrungen gezogen habe. Natürlich hat es mich auf ewig geprägt. Wie ich schon zur Einleitung sagte, ich bin ein Wolf. Das war als du dich noch darüber lustig gemacht hast … ist dir nun immer noch zum Lachen zumute?“

„Ich habe mir einige deiner Aussagen notiert. Du sprachst davon, dass du im Laufe der Zeit einige Opfer gefunden hättest?“

„Mach ich Ihnen etwa Angst, Herr Moderator?“, fragte sie in einem höhnischen Unterton.

„Selina, was hast du getan?“

„Ich glaube, jetzt wissen Sie langsam, was es mit dem Bösen auf sich hat …“

„Selina, hast du jemanden umgebracht? Sprich mit mir!“, rief McMillan und krallte sich mit den Händen an seinen Tisch.

„Ich glaube, du kennst die Antwort darauf. Du wusstest es doch bereits vorher, nicht?“

„Was?“

„Das dachte ich mir. Bis zum nächsten Mal. Es grüßt, das Hanky Panky-Girl!“, hauchte sie ihm entgegen.

Hanky Panky … Selina, warte!“, rief er, doch da hatte sie bereits aufgelegt.

Sie war weg. Für immer verloren? Durch die Isolierglasscheibe gab Thomas Lee ein Zeichen, dass McMillan weitermachen oder zumindest zu einer Pause überleiten solle, was der Moderator auch keuchend tat. Jetzt musste der Profi in ihm zeigen, was er konnte und er bemühte sich nach allen Kräften entspannt und locker zu wirken.

„Tja, das war grade wohl eine sehr gruselige Geschichte von Selina O’ Reilly. Danke für diesen herrlichen Einblick! Ich brauch jetzt erst mal ein bisschen Musik und ihr sicher auch. Wir hören uns nach einer kurzen Unterbrechung wieder. Unser Thema heute Abend lautet: Das Böse. Also ruft an!“ Klick, und die automatischen Audiodateien wurden abgespielt. In Windeseile riss sich Henry McMillan die Kopfhörer von seinem Haupt und atmete tief durch, da stürmte auch schon Lee ins Studio.

„Wir können den Anruf zurückverfolgen!“, keuchte er.

„Nein“, stöhnte McMillan.

„Nein? Was meinst du mit Nein? Die Braut braucht dringend Hilfe, bevor sie noch sich oder jemand anderen etwas antut!“, behauptete der Aufnahmeleiter.

„Du glaubst diese Räuberpistole doch nicht etwa, oder?“, warf McMillan zurück. Lee haderte und runzelte die Stirn. „Die Story ist doch echt zu hart, um wahr zu sein. Hat die Irre sich ausgedacht. Das war der düsterste Cocktail, den ich je gehört habe. Mobbing, schlimmes Elternhaus, schreckliche Kindheit und pädophile Massenvergewaltigung. Dazu noch irgendein Gefasel von inneren Dämonen und Anspielungen, dass sie eine Mörderin aus Leidenschaft sei? Ich bitte dich! Das einzige, was noch gefehlt hätte, wäre eine Totgeburt, um ihr Leid perfekt zu machen.“

„Du glaubst, dass das echt nur Scharade war?“

„Du hast doch selbst gehört, wie abgeklärt die Frau geklungen hat. Jemand, der so etwas tatsächlich durchgemacht hat, hätte sich doch längst irgendwann umgebracht, anstatt hier bei uns anzurufen. Außerdem hat sie nie den Namen des Dorfes erwähnt, da man den Fall sonst hätte nachprüfen können.“

„Wahrscheinlich hast du recht“, seufzte Lee und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Aber nichtsdestotrotz, die Braut war echt unheimlich. Wir hatten ja bereits vor langer Zeit mal eine aus soner satanischen Sekte, aber selbst die wirkte gegen dieses Hanky Panky-Mädchen nur wie ein müder Pausenfüller. Ich hätte ihr einen Mord zugetraut … was nun?“

„Es ist noch eine halbe Stunde bis zum Ende unserer Sendung. Ich würde daher sagen: Weitermachen, Männer.“

Und so geschah es. Der Sturm peitschte über sie hinweg und zog schließlich weiter Richtung Atlantik. Henry McMillan sprach in dieser Nacht noch mit zwei weiteren Anrufern über das Böse, einem Mann und einer Frau. Aber er war nie wirklich dabei, sondern musste ständig an das Hanky Panky-Girl … an Selina O’ Reilly denken. Da half es nichts, dass sogar die anderen beiden Anrufer, direkt nachdem sie zu ihm durchgestellt wurden, ihn kurz auf Selina ansprachen und bekundeten, dass die junge Frau ihnen ebenfalls Angst gemacht hätte. Allerdings hätten sie nie von einem Fall gehört in dem eine gesamte Ortschaft sich konspirativ an einem Mädchen vergangen hätte. McMillan hatte daraufhin das Thema in eine andere Richtung gelotst. Schließlich war die Sendezeit um.

Um fünf Uhr morgens würden die ersten Kollegen von der Frühschicht im Sender antreten und Vorbereitungen für das Morgenmagazin und die Verkehrsmeldungen treffen. Das Radiogebäude würde bis dahin verschlossen und leer sein. Zwar würde über die Stunden bis zur Aufnahme des morgigen Sendebetriebes weiterhin Musik gespielt, allerdings kam die – dank eines Kooperationsvertrages – nicht von Bay FM, sondern per Fernwartung von einer nationalen Rundfunkanstalt in Dublin.

Für die Zuhörer war diese Übernahme nie zu bemerken und kaum einer wunderte sich, warum so weit nach Mitternacht auf vielen kleinen Lokalsendern stets synchron dieselbe Musik heruntergeleiert wurde. Nachdem der Praktikant bereits nach Hause entlassen worden war und auch McMillan und Lee sich aufgesetzt höflich verabschiedet hatten, stieg der Moderator in seinen blauen Plymouth Fury, um die Heimfahrt anzutreten.

Dabei versuchte er, das Gespräch mit der sinisteren Anruferin schnell zu vergessen. Der Sturm war zwar vorübergezogen, doch dafür hatte sich der Nebel nun umso mehr verdichtet. So weit nach Mitternacht, war kein anderes Auto auf der Landstraße zu erkennen. Die Scheinwerfer setzten der Dunstwolke nicht viel entgegen und McMillan konnte kaum ein paar Meter weit sehen. Letztendlich kam der Wagen vor seinem zweistöckigen Haus zum Halten. Er wollte es sich beim Aussteigen nicht eingestehen, doch er stampfte schnelleren Schrittes als sonst zu seiner Haustür. Eine namenlose Furcht ließ nicht von ihm ab. Nachdem er jedoch sein Heim betreten, das Licht angeknipst und die Tür hinter sich zugeknallt hatte, ertappte er sich bei dem Gedanken, dass er nun alle Angst in der dunklen Welt da draußen ausgesperrt hatte. In dieser dunklen Welt?

Egal, wie spät es war, er brauchte jetzt erst mal eine Stärkung. Ein selbst geschmiertes Sandwich sollte es sein, denn die kreative Gedankenfindung um die Wahl des besten Brotbelags, würde ihn mit Sicherheit ablenken. Als er sich entschieden hatte und gerade den Thunfisch auf der Stulle verteilte, hörte er von oben einen dumpfen Knall. McMillan schreckte zusammen.

Nein, kein Knall. Es war mehr eine Art Zischen, das sich für einen kurzen Moment so ähnlich anhörte, als würde Luft aus einem Schlauch entweichen, bloß leiser, aber auch schriller. Das war doch nicht möglich? Er kam sich vor wie in einem dieser schlechten Slasher-Filme. Nein, er würde nun nicht wie eines dieser Püppchen aus den Streifen langsam zur Treppe tapsen und nervös hoch rufen: Hallo? Ist da jemand?

1. Die Figuren in diesen Filmen erhielten ohnehin nie eine Antwort von dem Mörder mit der Machete, der in Wahrheit nicht irgendwo auf dem Dachboden oder im Keller stand, sondern sich im Schrank unmittelbar hinter dem Opfer versteckt hielt.

2. McMillan wusste, außer ihm hielt sich niemand in diesem Haus auf. Solche Geräusche hörte man ständig, man nahm sie jedoch nur ängstlich wahr, wenn man nervös und überaus aufmerksam war.

Zwielicht 11

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