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Thomas Stumpf – Der Mann, der Jimmy Page kannte

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„Und das ist tatsächlich eine Erstpressung?“

„Das sagte ich doch.“

„Und Sie wollen wirklich nicht mehr als hundert Euro dafür?“

„Hundert Euro und sie gehört Ihnen.“

„Ich kann das gar nicht glauben“, sagte Simon und suchte in Gedanken den Haken an der Sache. Das Inserat war zu verlockend gewesen und das anschließende Telefonat mit dem Verkäufer kurz und unkompliziert verlaufen. Jetzt saß er in Heinrich Kinds stickigem Wohnzimmer, wenn man den chaotischen, mit vollgestopften Bücherregalen zugestellten Raum als solches bezeichnen wollte.

Die Schallplatte lag vor ihm auf dem unordentlichen Tisch, auf dem sich Gläser, Teller, Zeitungen und Bücher gegenseitig den Platz streitig machten. Gehüllt in eine schlichte schwarze Papphülle ohne jegliches Cover sollte sich darin ein wahrer Schatz verbergen. Das war zu schön um wahr zu sein. Irgendetwas daran war nicht ganz koscher. Bei dem Preis. Wer verkaufte denn bitte eine Erstpressung von Led Zeppelins viertem Album aus dem Jahre 1971 für einen schlappen Hunderter? Garantiert handelte es sich um Betrug.

Der alte Herr im Sessel gegenüber allerdings machte einen sehr ernsthaften, wenn auch merkwürdigen Eindruck. Die ergrauten Haare standen dem seltsamen Kauz zu allen Seiten des Kopfs ab, das Gesicht hatte schon seit längerem keinen Rasierer mehr gesehen und die Füße steckten in altmodischen, abgewetzten Pantoffeln. Dazu trug er einen schmuddeligen Frotteebademantel über einem Unterhemd, das seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte. Der Mann roch seltsam. Vielleicht ging das aber von der Wohnung aus, die schon längere Zeit nicht mehr gelüftet worden war. Doch all das konnte täuschen. Vielleicht war Heinrich Kind sich des Wertes seines Besitzes einfach nicht bewusst, dachte Simon, doch irgendwie erschien ihm das unwahrscheinlich. Der stechende Blick des Alten durchbohrte ihn und Simon fühlte sich unbehaglich.

„Ich muss ehrlich sagen, dass ich bei Ihrer Anzeige stutzig geworden bin. So ein geringer Preis für eine Erstpressung ist äußerst ungewöhnlich.“ Simon vermied bewusst das Wort „verdächtig“. Einen Plattenspieler, das war ihm schon kurz nach Betreten der Wohnung aufgefallen, konnte er nirgends entdecken. Eigentlich deutete gar nichts darauf hin, dass er es hier mit einem Musikliebhaber zu tun hatte.

„Ist sie denn überhaupt abspielbar?“

Der Alte beugte sich vor und sah Simon angriffslustig an.

„Und ob sie das ist, junger Mann. Und ob sie das ist“, antwortete er mit krächzender Stimme und schob ein schauriges Lachen hinterher, das in einen trockenen Hustenanfall mündete.

Kratz mir bloß nicht hier ab, dachte Simon, der seine Entscheidung, auf das Inserat zu antworten, mit jeder Sekunde in der engen Wohnung mehr und mehr bereute. Der Hustenanfall klang ab und der Alte nahm einen kräftigen Schluck Rotwein aus einem schäbigen Glas. Es war erst halb Zwölf am Vormittag und die Flasche schon zur Hälfte geleert.

„Okay“, gab Simon unsicher von sich. Die Sekunden dehnten sich. „Darf ich mir die Platte mal anschauen?“, fragte er schließlich.

„Nur zu“, sagte der Mann, während er sein Glas auffüllte. Hinter ihm in einer Ecke tickte laut eine alte Standuhr, wie Simon sie aus alten Horrorfilmen der Hammer-Studios kannte.

Er holte aus seiner Jackentasche ein paar einfache weiße Stoffhandschuhe hervor und streifte sie über. Der Alte beobachtete ihn argwöhnisch. „Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme“, sagte Simon. „Damit ich das gute Stück nicht beschmutze oder beschädige.“

„Das ist mir klar“, antwortete der Mann ohne seinen Gast aus den Augen zu lassen.

Was für ein Freak, dachte Simon und nahm das Album vom Tisch. Der Karton wies einige abgenutzte Stoßkanten, oberflächliche Kratzer und Lagerungsspuren auf, aber sonst war er tadellos. Es überraschte Simon, wie schwer die Schallplatte in seinen Händen wog.

„Ist das 180-Gramm-Vinyl?“

„Was weiß ich“, gab der Alte barsch zurück.

Idiot, schimpfte sich Simon selbst. Warum halte ich nicht einfach meinen Mund?

Simon kippte die Hülle leicht ab und ließ die dünne, ungefütterte Innenhülle mit einer geübten Bewegung in seine rechte Hand rutschen. Sie musste einst weiß gewesen sein, doch nun von einer ungesund gelblichen Farbe und fühlte sich wie Pergament an. Die einzige typografische Gestaltung zeigte in Scharlachrot die berühmten vier Symbole, die dem legendären Album auch den Namen „Four Symbols“ oder „Zoso“ eingebracht hatten. Sie waren in einer Reihe angeordnet und jedes der vier Symbole stand für eines der Bandmitglieder. Links das von Jimmy Page selbst entworfene und ihm zugeordnete alchimistische Symbol-Wort Zoso, dann die drei in einem Kreis eingefangenen Ovale, die für Bassist John Paul Jones standen, gefolgt von den drei ineinander greifenden Ringen, die Schlagzeuger John Bonham repräsentierten und am Ende der Reihe die in einem Kreis eingefasste stilisierte Feder für Robert Plant.

Simon hörte das laute Ticken der Standuhr. Er blickte zu dem Alten auf, der ihn noch immer mit weit aufgerissenen Augen beobachtete. Schließlich ließ Simon die tiefschwarze Vinylscheibe vorsichtig aus der Innenhülle gleiten und nahm sie ehrfürchtig in die behandschuhten Finger. Er hielt die Platte in das spärliche Tageslicht, das sich mühsam seinen Weg durch den halb geschlossenen Vorhang des einzigen Fensters im Raum bahnte. Das Vinyl war blitzeblank. Kein Kratzer, keine Vertiefung, keine Unebenheit, kein Staub. Gekonnt ließ er die Platte zwischen seinen Handflächen eine Umdrehung um die eigene Achse machen, aber auch die B-Seite zeigte sich makellos.

„Sieht gut aus“, sagte er anerkennend. „Sehr gut sogar.“

Auf dem runden Etikett in der Plattenmitte waren lediglich die Buchstaben ‚A’ und ‚B’ für die Markierung der jeweiligen Seite, sowie eine kleinere Ausgabe der vier Symbole zu sehen. Keine Plattenfirma, kein Copyright, keine Jahresangabe, keine Hinweise auf Ort und Zeit der Pressung. Zu Simons Überraschung enthielt das Label jedoch eine handschriftliche Nummerierung. Sie lautete „02/4“.

„Vier?“, fragte er und schaute zu dem schrägen Kauz im Sessel gegenüber. „Es wurden doch mehr als vier Pressungen gemacht. Das verstehe ich nicht.“

„Oh“, grinste der Alte. „Das ist eine besondere Pressung, das sagte ich bereits.“

Simon überlegte. Selbst wenn es keine Erstpressung sein sollte, so war er sich dennoch sicher, dass er hier ein ganz besonderes Sammlerstück vor sich hatte und dass dieses jedenfalls einen gewissen Wert besaß. Und wenn die Nummerierung korrekt und nicht gefälscht war, gab es hiervon nur vier Stück. Weltweit. Die Sache wurde spannend.

„Okay, Herr Kind, ich bin interessiert. Aber die Neugier lässt mir keine Ruhe. Warum wollen Sie diese Rarität verkaufen? Noch dazu zu diesem Preis?“

„Ich will sie nicht mehr“, herrschte ihn der Alte mit unerwarteter Vehemenz an. „Ich will sie nicht mehr in meinem Haus! Wollen Sie die Platte nun haben oder nicht? Wenn nicht, verschwinden Sie einfach!“ Der Alte war jetzt richtig in Fahrt und Simon hatte nicht die geringste Ahnung, durch welches Verhalten er hierzu Anlass gegeben haben könnte.

„Äh, okay. Dann bleibt es also bei hundert Euro?“

„Sie hat mir nur Unglück gebracht“, fuhr der Mann jetzt fort und ignorierte Simons Frage.

„Was meinen Sie damit?“

„Erworben habe ich diese Platte im Winter 1970. Wie ich den Tag verfluche.“

Simon zögerte und wog ab, ob er es auf eine weitere Konfrontation mit dem Alten ankommen lassen, oder ob er nicht einfach einen Hunderter auf den Tisch legen und sich mit seiner Beute verabschieden sollte. Am Ende siegte der Nerd in ihm. „Entschuldigung, aber das kann nicht sein. Die Platte ist erst im November 1971 erschienen. Sie meinen sicherlich Winter 1971.“

„Ich weiß, was ich gesagt habe und ich sagte Winter 1970! Halten Sie mich für einen weichbirnigen alten Sack?“, geiferte der Kerl und sah in seinem schlabbrigen Morgenmantel immer verrückter aus. Das Ticken der Uhr trieb Simon langsam in den Wahnsinn.

„Nein, vielleicht irre ich mich auch, ich wollte nicht ...“

Ich bin so dämlich, halt doch einfach die Schnauze, verfluchte er sich erneut.

„Sie irren sich keinesfalls, mein junger Freund“, unterbrach ihn der Kerl. „Die Platte erschien offiziell tatsächlich erst im November 1971. Aber ich habe diese Version vorab erhalten als ich Jimmy Page in Boleskine House besuchte.“

Simon ließ diese Information sacken. Nein, jetzt war endgültig klar, dass er es hier mit einem hochgradig Bekloppten zu tun hatte.

„Sie kennen Jimmy Page persönlich?“

„Oh ja, Junge.“ Er nahm einen weiteren großen Schluck Rotwein.

„Und Sie haben ihn 1970 in Boleskine House in Schottland besucht?“

„Gewiss doch.“

„Und er händigte Ihnen eine Schallplatte aus, die es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab?“

„Ich weiß, wie sich das anhört. Aber wussten Sie, dass dieses Haus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhundert für über ein Jahrzehnt Aleister Crowley gehörte, dem berüchtigten Okkultisten und Satanisten?“

„Ja, ist mir bekannt. Ich weiß, wer Aleister Crowley war. Jeder weiß das, seit Ozzy seinen Song ‚Mr. Crowley’ geschrieben hat“, antwortete Simon. Er konnte es nicht fassen, welche Richtung dieses Gespräch einschlug. „Und?“

„Oh, Sie halten das alles für ausgemachten Blödsinn, ist es nicht so? Das kann ich in Ihren Augen sehen. Sie denken, der Alte ist verrückt und erzählt nur Schwachsinn, man sollte ihn einweisen.“

In der Tat, dachte Simon.

„Crowley war zu Lebzeiten ein Widerling durch und durch. Zahlreiche Geschichten ranken sich um seine Person. Und ich weiß“, fuhr sein Gegenüber fort, „was Crowley in diesem Haus für Rituale und Zeremonien abgehalten hat.“

„Zeremonien?“

„Kennen Sie die Geschichte von Crowley und dem Fleischermeister?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr der Alte fort. „Der ortsansässige Fleischer war zu Boleskine House rausgefahren, um wie üblich Aleisters Bestellung entgegenzunehmen. Doch dieser öffnete ihm nach mehrmaligem Klingeln nicht. Erst nachdem der Metzger sturmgeläutet hatte, riss Crowley völlig entnervt die Tür auf und fragte, was der Störenfried denn wolle. Er war, was der Metzger nicht wusste, gerade in ein magisches Ritual vertieft gewesen und das Klingeln hatte ihn aus seiner tiefen Konzentration gerissen. Crowley nahm einen Zettel und notierte wütend seine Bestellung. Den Zettel drückte er dem verdutzten Fleischer in die Hand, dann schlug er ihm die Tür vor der Nase zu. Der Metzger begab sich in seine Fleischerei zurück. Auf der Rückseite des Zettels, auf den Crowley seine hastige Bestellung geschmiert hatte, befand sich auch ein von Crowley aufnotierter Zauber. Kurz darauf hackte sich der arme Kerl mit einem Fleischerbeil alle Finger der rechten Hand ab. Etwas hatte ihn abgelenkt und seine Konzentration gestört.“

„Nette Geschichte“, sagte Simon.

„Das ist nicht bloß eine Geschichte. Ich weiß von den sexuellen Ausschweifungen, Opferungen und den Anbetungen, und Jimmy wusste es natürlich auch. Er war besessen davon.“

„Ach, jetzt ist es schon ‚Jimmy’? So eng waren Sie beide?“

„Werden Sie nicht frech! Was wissen Sie denn schon, was mich und Jimmy damals verband? Diese Schallplatte, besser, die vier Platten aus dieser Serie wurden mit einem besonderen Zauber Crowleys belegt und in ‚Stairway to heaven’ steckt die geballte schwarzmagische Kraft der Zerstörung.“ Die Augen des Alten leuchteten vor Ereiferung.

Simon brach in lautes Gelächter aus.

„Die geballte schwarzmagische Kraft der Zerstörung? Verzeihung, aber das ist der größte Mist, den ich je gehört habe. Okay, jetzt weiß ich es: Sie nehmen mich auf den Arm? Das ist ein Test, nicht wahr?“

Dann prustete er wieder los, Tränen schossen ihm in die Augen. „Gleich erzählen Sie mir noch, dass, wenn man ‚Stairway to heaven’ rückwärts abspielt, eine satanische Botschaft zu hören ist. Gott, ist das herrlich.“

„So ist es“, schrie der Alte, der aus dem Sessel aufgesprungen war. Simon zuckte zurück. „Ganz genau so ist es. Und es ist wahr! Jede Silbe davon ist wahr!“ Der pure Wahnsinn spiegelte sich in seinen Augen.

„Hören Sie“, versuchte Simon sich zu beruhigen und den Alten zu besänftigen. „Es tut mir leid, Herr Kind, das ist Quatsch. Ein PR-Gag, der zahllose Vollidioten dazu veranlasst hat, ihre Platten und Nadeln zu ruinieren, indem sie versuchten, die Scheibe rückwärts laufen zu lassen. Da der Plattenspieler das nicht kann, machen sie es per Hand und schrotten ihre Platten, sodass sie gezwungen sind, neue zu kaufen. Und durch den ganzen Hype von wegen geheimer Botschaften und Satanismus werden noch mehr Alben umgesetzt. Ein Marketingtrick. Das ist alles.“

„Das ist nicht alles.“ Eins musste man dem Alten lassen: Er war standhaft.

„Ich habe es ausprobiert. Ich war einer dieser Vollidioten.“

Alle Kraft wich plötzlich aus seiner Stimme und er ließ sich erschöpft in den Sessel fallen. „Natürlich hatte ich meine Zweifel, aber ich habe es ausprobiert. Ein einziges Mal nur. Gleich in der Woche, in der ich aus Schottland zurückkehrte. Es ist diese Stelle ‚If there´s a bustle in your hedgerow don´t be alarmed now’. Wenn man ab hier die Platte rückwärts abspielt, kann man die Teufelsbotschaft wahrnehmen. ‚I sing because I live with Satan’, beginnt es. Ich habe die Botschaft gehört und dann kam das alles. Auf den regulären Pressungen, die in den Handel kamen, ist davon nichts zu hören. Aber diese vier …“

„Was meinen Sie mit‚ und dann kam das alles.“

Der alte Mann sah ihn mit leerem Blick an. Er wirkte jetzt nicht mehr verrückt, sondern nur alt und traurig. Plötzlich tat er Simon leid.

„Ich habe alles verloren.“

Der Alte schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein, nahm eines der benutzten Gläser vom Wohnzimmertisch und goss auch Simon ungefragt ein halbes Glas ein, womit er die Flasche leerte. Simon wollte nicht pingelig sein und nahm einen Schluck. Der Wein schmeckte besser als erwartet.

„Im Sommer 1970“, begann sein Gastgeber, „hatte mich Jimmy eingeladen, nachdem er in Boleskine House bei Loch Ness eingezogen war. Aleister Crowley und seine okkulten Theorien faszinierten ihn. Ich war damals, das kann man getrost sagen, ein anerkannter Kenner dieser Materie und hatte mich bereits zuvor intensiv mit Crowleys Schriften befasst. Wussten Sie, dass er auch Bergsteiger war und beim Erstbesteigungsversuch des K2 dabei? Seine Bergsteigerkarriere endete allerdings auf sehr unrühmliche Weise.“

„Ich weiß, angeblich hat er Bergkameraden im Stich gelassen, es gab Tote.“

„Ja, so sagt man. Irgendwie endete alles bei Crowley auf recht unrühmliche Weise. Jedenfalls hatte mich Jimmy schon kurz nach Erwerb des Anwesens kontaktiert, ob ich ihm bei der Aufarbeitung und Auswertung von Crowleys Arbeiten nicht behilflich sein könnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Jimmy schon eine beachtliche Sammlung an Memorabilia zusammengetragen und ich war erstaunt, ja beeindruckt ob seines Wissens über Okkultismus. Bis dahin hatte ich ihn lediglich für einen Rockmusiker gehalten. Ich dachte mir: Ein Sommer mit Jimmy Page, das hieße Drogen, Alkohol, Frauen, interessante Leute und ausufernde Partys. Was hatte ich schon zu verlieren? All das gab es, aber wir befassten uns ernsthaft mit Crowleys Wirken. Vieles davon war dummes Zeug, aber nicht alles. Oh nein, nicht alles.“

Der Alte schaute eine Weile aus dem Fenster, dann fuhr er fort.

„Und dieses Anwesen. Boleskine House. Es war Mitte des achtzehnten Jahrhunderts errichtet worden und diente ursprünglich als Jagdsitz. Sein Erbauer, Colonel Archibald Campbell Fraser, war zwar kein Satanist oder dergleichen, aber er war nicht weniger narzisstisch veranlagt als Crowley. Die Familie Fraser hatte das Gebäude über die Jahre immer wieder umgebaut und erweitert, bis es am Ende ganz verwinkelt und unübersichtlich war. Einige Anwohner im Dorf behaupteten, der Ort sei bereits vor Errichtung des Anwesens verflucht gewesen. Eine örtliche Legende besagt, an der Stelle habe viele Jahre zuvor eine Kirche gestanden. Während eines Gottesdienstes brach ein Feuer aus und die Türen ließen sich nicht mehr öffnen. Für die versammelte Kirchengemeinde wurde das Gotteshaus zur Todesfalle. Sie konnten nicht raus und alle Gläubigen kamen in den Flammen um. Und ich schwöre Ihnen, Junge, in einer der langen, stillen Winternächte, die ich dort verbrachte, habe ich im Kellergewölbe die Schreie dieser armen Seelen gehört.“

Der Alte war leichenblass. Die Standuhr tickte erbarmungslos laut, der ganze Raum schien in ihrem Rhythmus zu pulsieren. Simon schwitzte.

„Als Jimmy es erworben hatte“, fuhr Kind fort, „befand sich Boleskine House schon in keinem guten Zustand. Dennoch hatte er sich dazu entschlossen, das Anwesen unverändert zu lassen und er ließ so gut wie keine Arbeiten daran verrichten. Er wollte den alten, düsteren Geist des Gemäuers und seine Geheimnisse bewahren. Es übte eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus und auch ich konnte es spüren. Je länger ich mich dort aufhielt, desto mehr ergriff es Besitz von mir. Oft streifte ich alleine durch die verwinkelten Flure und Zimmer, die düsteren Keller und den verwilderten, zugewucherten Garten. Der verfluchte Keller.“

Heinrich Kind nahm einen Schluck Wein.

„Dort unten hielten wir zu zweit stundenlange Sitzungen ab, bis wir in Crowleys Schriften auf ein altes Blutritual stießen, mit dem es, laut Crowley, gelingen sollte, den Herrn der Finsternis anzurufen. Das taten wir dann. Das Ritual war schmerzhaft und erschöpfend, aber Jimmy bestand darauf. Aus seinem Blut erschufen wir letztlich eine mächtige schwarzmagische Essenz, die Jimmy in einer Phiole aufbewahrte.“

Simon starrte den Alten an.

„Sie verarschen mich?“

„Glauben Sie?“

„Was geschah mit der Essenz?“

„Ich hatte zunächst keine Ahnung, aber einige Tage später offenbarte mir Jimmy, dass er sie beim Produktionsprozess einer kleinen Anzahl von Schallplatten verwenden wollte, um auf diese den Geist des Meisters zu bannen. In einem kleinen Presswerk bei Glasgow ließ Jimmy dann die Platten herstellen. Es waren am Ende vier Stück. Eine davon halten Sie jetzt in den Händen.“

„Das ist einfach nicht wahr“, sagte Simon mit ruhiger Stimme und betonte dabei jede einzelne Silbe.

Der Alte überging die Bemerkung. „Es hat ihn ein Vermögen gekostet, aber das war ihm egal.“

„Sie erfinden das. Die Geschichte ist so dämlich, dass sie schon fast wieder gut ist. Alleine dafür müssten Sie eigentlich mehr als nur hundert Euro verlangen.“

Doch diese als Scherz beabsichtigte Äußerung kam Simon nur halbherzig über die Lippen. Ob es am schummrigen Licht oder dem Rotwein lag, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, aber innerlich wankte er. Konnte das wahr sein? Weiß der Teufel, was die in den Siebzigern alles in diesem abgelegenen Keller getrieben hatten. Vielleicht erlebte der Alte gerade einen schweren Flashback, der auf jahrelangem LSD-Konsum beruhte. Es musste Logiklöcher in der Story geben.

„Was ist mit den anderen drei Platten passiert?“, hakte Simon nach.

„Jimmy hat sie an verschiedenen Stellen des Anwesens einmauern lassen.“

„Er hat was?“

„Jimmy hat den Geist des Meisters in Boleskine House verankert und es in ein Zentrum der dunklen Mächte verwandelt. Er hat den Ort mit dunkler Energie aufgeladen. Wie eine Batterie, verstehen Sie? Ein Ort, an dem man Satan selbst herbeirufen konnte, eine Standleitung in die Hölle.“

Heinrich Kind beugte sich weit in seinem Sessel vor, bohrte die klauenartigen Finger in die Armlehnen, sein Gesicht nur Zentimeter von Simons entfernt. „Verstehen Sie?“

„Was geschah dann?“, fragte Simon nach einigen Sekunden, die sich wie Kaugummi zogen.

Der Alte sackte in seinen Sessel zurück und spähte durch den schmalen Vorhangspalt nach draußen. Im warmen Nachmittagslicht tanzten die Staubpartikel. Das Ticken der Standuhr hallte lauter als je zuvor. Unerbittlich schwang das Pendel hin und her und Simon musste unwillkürlich an Die Maske des Roten Todes von Edgar Allan Poe denken. Heinrich Kind war eine gealterte Version von Prinz Prospero, der durch die bizarren Flure und Hallen seiner verzerrten Erinnerung wanderte. Der Tod würde ihn hier hinter seinen eigenen Mauern doch noch ereilen. Aber erst, wenn er vollständig den Verstand verloren hätte. Er schien auf dem besten Wege zu sein.

„Herr Kind? Was geschah dann? Sie sagten, Sie hätten alles verloren.“

„Sie sind alle gestorben. Einer nach dem anderen“, antwortete der Mann ohne seinen Blick vom Fenster abzuwenden.

„Was meinen Sie?“

Der Alte blickte ihn wieder an.

„Ende Dezember 1970 kehrte ich Boleskine House den Rücken. Weder wollte ich den Jahreswechsel dort verbringen noch Jimmys Geburtstag im Januar abwarten. Auf meine Bitte hin entließ er mich aus seinen Diensten und gab mir eine der vier Platten. Diese hier“, sagte er und zeigte auf die Vinylscheibe, die Simon mit sicheren Griffen wieder in den Pappschuber eingelegt hatte.

„Natürlich wollte ich wissen, ob der Crowley-Zauber funktioniert hat, den wir in dieses rabenschwarze Stück Vinyl gebannt hatten. Wenige Tage nach meiner Rückkehr habe ich die Platte dann eines Abends abgespielt und ich ließ ‚Stairway to Heaven’ an der besagten Stelle rückwärts ablaufen.“ Kind machte eine Pause. „Ich werde diesen Moment niemals vergessen. Nie werde ich die Stimme aus meinem Kopf kriegen, die aus den Lautsprechern erklang. Es war, als sei jemand aus den Lautsprecherboxen heraus und in mein Zimmer getreten, ganz nah an mich heran.“ Schweißperlen standen auf der Stirn des Alten und er zitterte. „Dann vernahm ich die Botschaft des Meisters, er flüsterte sie mir direkt in mein Ohr.“

Simon lauschte gebannt, traute sich aber nicht, eine Frage zu stellen oder eine unterbrechende Bemerkung zu machen. Wahrscheinlich war der Stimmeneffekt im Studio einfach nur in die eigentliche Tonspur eingeschleift worden. Daher der intensive Klang. Nur Technik, kein Teufelswerk. Led Zeppelin waren nicht die Ersten und nicht die Letzten, die sich dieses Kniffs bedient hatten. Doch diesmal war Simon so klug, seine Weisheiten für sich zu behalten.

„Plötzlich war es vorbei. Ich spielte den Song noch einmal an und ließ ihn ganz normal bis zum Ende durchlaufen. Nichts geschah. Am nächsten Morgen war Henry tot. Henry war mein Beagle. Während meines Aufenthalts in Schottland hatte ich ihn meiner Schwester überlassen, die sich um ihn kümmern sollte. Er lag einfach tot vor meinem Bett.“

„Das kann doch Zufall gewesen sein.“

„Ja, das dachte ich zunächst auch. Eine Woche später ist meine Mutter gestorben. Einen Monat darauf mein Vater. Beide an einem Hirnschlag. Halten Sie das auch für Zufall?“

„Naja“, setzte Simon an. Doch bevor er weitersprechen konnte, fuhr Kind fort.

„Ein halbes Jahr später ist meine Schwester gestorben. In einem Badesee ertrunken. Sie war eine gute Schwimmerin. Taucher mussten sie aus dem See holen, sie hatte sich in Schlingpflanzen verheddert.“

„Ein tragischer Unfall?“

„So sah es aus. Aber ich wusste es besser, ich sah die Spuren an ihrem Knöchel. Die Polizei sagte, es handele sich um die Druckstellen der Schlingpflanzen. Doch in meinen Augen waren es unverkennbar die Male von Fingern. Etwas hatte sie gepackt und in die Tiefe gezogen.“

Simon sah nun keinen geifernden Verrückten mehr vor sich, sondern einen gebrochenen Mann, dem das Leben übel mitgespielt hatte. Und es gab nichts, was er zum Trost hätte sagen können.

„Hören Sie, Herr Kind, das tut mir alles furchtbar leid. Ich bin eigentlich nur gekommen, um vielleicht diese alte Schallplatte zu kaufen. Vielleicht interpretieren sie zu viel in die Sache hinein. Ich will nicht taktlos erscheinen, sie haben viel durchgemacht und einige herbe Schicksalsschläge hinnehmen müssen. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn Sie sich von dieser Schallplatte trennen und die Sache abschließen. Ich bin auch gerne bereit, etwas mehr zu zahlen.“

Der Alte hob den Blick und schaute Simon fest in die Augen. „Sie haben nicht verstanden, mein junger Freund. Das alles hängt doch gerade mit dieser verfluchten Schallplatte zusammen.“

„Warum haben Sie sich nicht früher von ihr getrennt oder sie einfach zerstört?“

„Glauben Sie, das hätte ich nicht versucht? Es hat nicht funktioniert. Damals nicht und heute nicht. Ich konnte nicht, verstehen Sie? Ich konnte nicht. Die Platte ließ es nicht zu.“

„Was meinen Sie damit, die Platte ließ es nicht zu?“

„Ich habe sie an die Wand geworfen, ich habe sie mit dem Hammer zertrümmert, ich bin mit dem Auto darüber gefahren, ich habe sie ins Feuer geworfen. Was auch immer ich tat: am nächsten Morgen lag die Platte neben meinem Bett auf dem Boden. In eben jener Hülle, die da auf Ihrem Schoß liegt. Sehr spät habe ich erkannt, dass nur ein Handel mich erlösen wird. Der Teufel liebt Geschäfte.“

Er sagte das ganz ernsthaft und völlig ironiefrei.

„Was für ein Handel?“

„Ich muss einen neuen Besitzer finden, mich loskaufen.“ Der Alte starrte ihn an. „Verstehen Sie?“

„Ich soll jetzt an Ihre Stelle treten? Damit mich dasselbe Unglück ereilt?“ Simon konnte es nicht fassen. „Das haben Sie sich ja fein ausgedacht. Für wie dämlich halten Sie mich eigentlich? Mal vorausgesetzt, ich nehme Ihnen diesen ganzen Hokuspokus überhaupt ab.“

„Aber Ihnen wird nichts geschehen, junger Mann. Sie haben es selbst in der Hand.“

„Ihnen ist alles Unglück der Welt widerfahren, aber mir wird nichts geschehen?“, fragte Simon.

„So ist es. Sie können die Platte so oft hören, wie Sie wollen, es wird nichts passieren. Sie müssen nur der Versuchung widerstehen, sie auch nur ein einziges Mal rückwärts abzuspielen. Das ist alles.“

Das machte alles überhaupt keinen Sinn, aber Simon war es langsam leid und er hatte schon deutlich mehr Zeit hier verplempert als ihm lieb war. Er wollte die Sache beenden. Der Raum war überhitzt, die Luft zum Schneiden dick, das Ticken der Standuhr mittlerweile unerträglich und ein pulsierender Kopfschmerz hatte sich hinter seiner Stirn eingenistet. Er musste hier raus.

„Okay“, sagte er schließlich, „ich glaube, das schaffe ich. Hundert Euro?“ Simon zog seinen Geldbeutel aus der Hosentasche, nahm einen grünen Schein heraus und legte ihn auf den zugemüllten Wohnzimmertisch.

„Hundert Euro“, antwortete der Alte. „Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“

Simon erhob sich, nahm die Schallplatte unter den Arm und streckte dem Mann im Sessel die rechte Hand entgegen.

„Werde ich nicht.“

Heinrich Kind schüttelte die ihm gereichte Hand, ohne sich aus dem Sessel zu erheben. „Dann werden wir uns in dieser Welt nicht mehr sehen. Alles Gute, junger Freund.“

„Ihnen auch, Herr Kind.“

Simon wandte sich zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um. „Eine Sache noch: Sie wissen, dass Boleskine House letztes Jahr zu großen Teilen niedergebrannt ist?“

Der Alte blickte ihm in die Augen.

„Seit fünfundvierzig Jahren bin nicht mehr dort gewesen. Aber letzten Winter bin ich noch einmal zurückgekehrt. Es musste ein Ende haben. Ich habe dafür gesorgt, dass die anderen drei teuflischen Artefakte ein für alle Mal vernichtet werden und mit dem Haus untergehen. Da sie nie in meinem persönlichen Eigentum standen, war ihre Zerstörung unproblematisch.“

Das war nun der Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit. „Sie haben Boleskine House abgefackelt?“

Der alte Mann starrte wieder aus dem Fenster, so als ob er auf etwas warten würde. Oder auf jemanden.

„Ich hätte es viel früher tun sollen“, sagte er mehr zu sich selbst, ohne Simon eines weiteren Blickes zu würdigen. Simon wartete eine Weile, ob der Alte noch etwas sagen würde, doch der blieb stumm. Simon nickte und ging. Die Standuhr schlug Zwölf, als er die Tür hinter sich zuzog.

Er trat ins Freie trat und atmete tief durch. Was für ein irrer Vormittag und was für ein merkwürdiger, trauriger alter Mann. Den Erwerb dieser Schallplatte würde Simon nicht mehr vergessen, so viel stand fest. Es wäre eine Geschichte, die er seinen Enkeln noch erzählen konnte.

Es folgte ein feuchtfröhlicher Abend mit seinen Freunden und er erzählte ihnen jedes Detail seiner Geschichte. Leicht angetrunken und gut gelaunt kam Simon nach Hause. Um den Abend feierlich abzuschließen, streifte er die Schuhe ab und legte seine Neuerwerbung auf den Plattenteller. Behutsam setzte er die Nadel auf die Rille des letzten Tracks der B-Seite und regelte die Lautstärke hoch. Das weltberühmte Intro von ‚Stairway to Heaven’ erklang kristallklar und voluminös aus seinen B&W-Boxen.

Aus einer Schublade nahm er die gelbe Dose mit Fischfutter heraus und ging zum Aquarium.

„Keine Angst, ich vergesse euch nicht“, sagte er zu den zwei Dutzend bunten Tieren und streute großzügig Futter ein, während er Robert Plants Gesang lauschte. Er holte eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und genehmigte sich einen letzten Schlummertrunk. Simon ließ sich auf dem Zweisitzer nieder, den er zentral zu den Boxen ausgerichtet hatte, und nahm einen großen Schluck aus der Dose. Im Kopf ging er noch einmal das Gespräch mit dem Alten durch.

„Warum eigentlich nicht“, sagte er zu sich selbst. „So ein Schwachsinn.“

Er erhob sich und ging zum Plattenspieler. Mit der Hand stoppte er die Umdrehung des Plattentellers, was mit einem sägenden, verschwurbelten Geräusch aus den Lautsprechern quittiert wurde. Behutsam begann er die Platte rückwärts zu drehen. Ein dröhnendes, kakophonisches Kauderwelsch war zu vernehmen, dann nur noch ein tieffrequentes Wummern und Simon wollte die Platte schon wieder loslassen. Da schlugen ihm so unerwartet heftig und laut Worte aus den Boxen entgegen, dass er vor Schrecken zusammenzuckte.

I sing because I live with Satan.

The Lord turns me off, there’s no escaping it.

Here’s to my sweet Satan, whose power is Satan.

He will give you 666.

I live for Satan.“

Simons Nackenhaare richteten sich auf, das Herz pochte schmerzhaft in seiner Brust. Dann war es vorbei und nur ein kratzendes Rauschen drang noch aus den Lautsprechern. Der Alte hatte nicht übertrieben. Die Botschaft war tontechnisch verdammt gut abgemischt.

„Wow“, sagte er überrascht zu sich selbst und gab den Plattenteller frei. Der Song wurde bis zu seinem großartigen Finale fortgesetzt. Simon trank sein Bier aus und legte sich schlafen.

Als er am nächsten Morgen mit leichten Kopfschmerzen erwachte, drängte sich ihm der Verdacht auf, dass das letzte Bier vielleicht eines zu viel gewesen sein könnte. Er quälte sich aus dem Bett und steuerte das Badezimmer an. Unterwegs warf er einen Blick auf das Aquarium. Seine Fische entdeckte er nicht. Simon rieb sich die Augen und trat einen Schritt näher. Er hatte sich getäuscht. Die Tiere waren nicht verschwunden. Sie trieben mit dem Bauch nach oben an der Wasseroberfläche. Tot. Jeder einzelne Fisch.

Zwielicht 11

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