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Markus K. Korb – 80 Grad
ОглавлениеJosef liebte es rohes Fleisch mit dem Beil zu spalten.
Er arbeitete nachts im lokalen Schlachthof, der im Schein der Flutlichter wie eine Raumstation aussah. Die Scheinwerfer der anliefernden LKWs erinnerten an Raumfähren. Sie fuhren rückwärts an die von gelben Rolltoren abgeschlossenen Schleusentore, um anzudocken. Sodann klingelte es im Schlachthof und ein rotes Licht leuchtete über dem betreffenden Rolltor auf. Dann trotteten die Metzger in ihrer weißen Kälteschutzkleidung über die Gangway wie Astronauten in ihren Raumanzügen und holten die Schweine- und Rinderhälften aus den gekühlten Transportern. Manchmal bekamen sie auch exklusivere Fleischsorten.
Josef liebte es in der Nacht zu arbeiten. Er war Junggeselle ohne Verpflichtungen und zudem eigenbrötlerisch. Die Nachtschicht nutzte er, um für sich allein zu sein. In der Regel teilte er seine Schicht mit einer knappen Handvoll Kollegen. Sie gingen ihm aus dem Weg, da sie sein ständiges Gerede von „Überfremdung“ und „Ausländerschwemme“ lange schon satthatten. „Die wollen doch nur von unserem Sozialstaat schmarotzen! Lassen ihr Land im Krieg allein! Wir haben unseres wieder aufgebaut! Wir sind nicht geflohen damals! Nach 1945, nach dem Österreicher!“
Als es um vier Uhr klingelte und das rote Licht leuchtete, war Josef mitten in der Bewegung. Von oben ließ er das scharfe Beil herabfallen und zerteilte das vor ihm aufgespannte und bereits ausgeweidete Schwein in zwei Hälften. Er sah auf das Rotlicht.
„Warum denn ausgerechnet jetzt?“, murrte er und erhob sich mit einem Ächzen. In letzter Zeit klagte er über Rückenbeschwerden, unter Metzgern ein häufiges Leiden. Dann schlurfte er hinüber zum Rolltor, betätigte den Schalter. Das Tor knatterte nach oben und schob sich in das freischwebende Schienensystem, sodass die Lamellen parallel über dem blutbedeckten Boden in der Schwebe gehalten wurden.
Hinter der kurzen Gangway stand der LKW. Die Ladeklappe war noch geschlossen. Feine Schwaden kalter Luft kräuselten sich ringsum in die Nachtluft empor. Die Fahrertür öffnete sich. Ein dunkelhäutiger Mann mit Vollbart stieg aus.
„Hey, Salvadore! Du bist es schon wieder!“, rief Josef. „Was hast du denn diesmal dabei?“
„Ah, Josef! Schön, dich zu sehen! Habe nur Rinder und Schweine dabei.“
„Okay. Ich lade mal ab.“
Josef drehte sich nach hinten und zog die Unterlippe über die Zähne. Ein schriller Pfiff kam aus seinem Mund. Zwei weitere Metzger tauchten aus den Tiefen des Schlachthofs auf. Salvatore ließ die Klappe des Anhängers herabfahren. Ein Plastiktor verhinderte, dass die Kühle des Innenraums entwich. Der LKW-Fahrer zog an einer Schnur, sodass sich das Tor nach oben schob.
Dicke Wolken drangen heraus. Die Metzger schritten hinein in den Nebel, warfen sich die Schweinehälften über die Schulter und trugen sie hinein hinter die transparenten Lamellenvorhänge des Schlachthofs.
Als der LKW fast leer war, betrat Josef allein den Anhänger. Plötzlich fuhr mit einem lauten Knattern das Anhängertor herab und ins Schloss. Der Metzger trat heran, versuchte das Tor zu öffnen, aber vergeblich. Er klopfte und rief, doch niemand antwortete. Stattdessen hörte er ein Rumoren hinter sich und drehte sich um. Das fahle Licht der Innenbeleuchtung durchdrang den Kältenebel kaum. Schemenhaft konnte Josef die Umrisse eines Schrankes erkennen, der für besondere Lieferungen gedacht war.
Er trat heran, öffnete ihn und machte einen Schritt hinein. Hinter ihm fielen die Schranktüren zu. Pechschwarze Finsternis umfing ihn wie ein klebriger Mantel.
Da spürte er den Körper. Ganz deutlich. An seiner rechten Schulter, am Arm, am Bein. Jemand presste sich an ihn. Es war keine normale Ladung, denn das Fleisch fühlte sich warm an.
Was war das?
Er wollte sich umdrehen, aber er konnte nicht. Auch links von sich spürte er einen Körper. Und hinter ihm drängte jemand an seinen Rücken. Heißer Atem hauchte in sein Genick. Vor ihm musste auch jemand sein, denn Josef spürte weiches Fleisch. Klebrige Hände tasteten über seine Brust, über seinen Wohlstandsbauch.
Er wollte sie wegstoßen und packte sie. Klein waren die Hände. Kinderhände. Dürre Arme. Von hinten schoben sich weitere Arme heran.
„Hey, fort von mir!“, empörte er sich. Aber es war kein Platz zum Wegstoßen.
Ihm kam es vor, als stecke er in einer unzählbaren Menge an menschlichen Körpern, die hin und her wogt, ihn bedrängt. Sie jappsen nach Luft. Glücklich derjenige, der hochgewachsen. Oben ist noch Luft. Unten jammern Kinder, heulen und schreien, wenn Erwachsene auf sie treten, um weiter nach oben zu gelangen.
Nach oben, zur Decke des LKWs. Wo noch Luft ist.
Josef wird es heißer und heißer. Immer weniger Sauerstoff kann er in seine Lungen ziehen. Sein Atem geht rasselnd. Er kann nicht schreien, nur noch ächzen.
Luft!
Er braucht Luft!
Die Hände reißen nun an ihm, zerreißen seine Kleidung, rupfen Fleischbatzen aus ihm heraus bei dem Versuch, an ihm hinaufzuklettern, um an die wenige Luft unter dem Dach des LKW zu kommen.
Und dann die Hitze!
Unerträglich heiß ist es hier drinnen. Die Wärme der Körper staut sich in dem luftundurchlässigen Raum, auf den von außen die Sonne knallt. Die Körper schwitzen, verlieren mehr und mehr Wasser. Die Zungen schwellen an, kleben am Gaumen wie dicke Würmer in der Mundhöhle. Bei jedem Aufreißen des Mundes klafft die Haut der spröden Lippen, brennen die offenen Mundwinkel.
Luft!
Alle brauchen Luft!
Aber da ist keine!
Hier und da sickert dumpfes Licht durch die Ritzen zwischen den Menschen. Der bleiche Schein von Handybildschirmen beleuchtet blasse Gesichter. In Todesangst verzerrte Gesichter. In Agonie sich drehende Augäpfel. Fremdsprachige Rufe verhallen ungehört. Doppelwandiges Aluminium.
Sie schreien, schlagen mit den Ellbogen gegen die Wände des Kühllasters. Mit den Köpfen.
Stundenlang.
Doch niemand öffnet.
Über 1000 Euro hatten sie den Schleppern bezahlt.
Nun sind die Männer abgehauen. Der LKW steht in der prallen Sommersonne.
Die Akkus der Handys werden schwächer und schwächer. Die ersten sacken ohnmächtig zusammen, können nicht fallen, zu eng. Sterben im Stehen.
Gedärm entleert sich und Blasen. Unmenschlicher Gestank breitet sich aus.
Dann ersticken die ersten Kinder, dann die Frauen, dann die Männer. Zum Schluss sterben auch diejenigen, die ganz oben auf den Leichenberg geklettert sind.
80 Grad.
Die Organe werden gekocht. Die Leiber backen, zerfließen nahezu in der Sommerhitze ineinander.
Und begraben unter all den verwesenden Leichen kauert Josef.
Als Salvatore losfahren wollte und den Anhänger inspizierte, fand man ihn.
Josef saß unbeweglich auf der Ladefläche, mit dem Rücken an der LKW-Wandung.
Mit einem Ausdruck unsäglichen Grauens starrte er ins Leere.
Fliegen umschwirren ihn.
Unbemerkt sickert Leichenflüssigkeit von der Ladefläche …
Am 27.8.2015 werden 71 tote Flüchtlinge in einem abgestellten Kühllaster auf der österreichischen Autobahn A4 bei Parndorf gefunden. Sie sind erstickt. Die geflohenen Schlepper werden von der ungarischen Polizei entdeckt und festgenommen. Das jüngste Opfer ist ein ca. zwei Jahre altes Mädchen.