Читать книгу Octagon - Michael Weger - Страница 18

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Eingehüllt in Decken, mit Wintermänteln, Schals und Mützen bekleidet, standen Paul und Carl eine gute Stunde später auf der Südterrasse. Paul hatte sich noch zu einem letzten Schluck Whisky überreden lassen und auch zu einer Joya de Nicaragua, Carls Lieblingszigarre.

Die Nacht war klar und der Mond warf sein helles Licht auf den verschneiten Park, der sich weitläufig vor ihnen ausbreitete. Einzelne Skulpturen aus Schnee, geformt von den darunter gelegenen Hecken und Büschen, hoben sich in sanften Konturen glitzernd von der Ebene ab.

Die beiden Männer pafften ihre Zigarren und genossen die ersten Momente von Ruhe an diesem ausgelassenen Abend. Nach einer Weile unterbrach Carl die Stille:

„Deine Klienten sind alle informiert?“ Er wollte kurz auf die offenen Themen der Praxis zu sprechen kommen.

„Es sind nur eine Handvoll“, ging Paul darauf ein, „die du bitte während meiner Abwesenheit betreust. Einen Teil kann ich noch in den nächsten Tagen abschließen und bei den Verbleibenden eine Unterbrechung gut verantworten.“ Pauls Gedanken kreisten um die kommenden Wochen mit all den Vorbereitungen, die noch für die Reise zu treffen waren.

„Was genau ist es, das dich so dorthin zieht?“, fuhr Carl fort und ließ, ganz routinierter Therapeut, seinem Schützling lange Zeit für die Antwort.

„Es reicht nicht, Carl“, antwortete Paul schließlich. „Unser Bemühen dreht sich ständig darum, Störungen der Psyche zu beheben, die irgendwann lange zuvor entstanden sind. Wir versuchen etwas zu heilen, dessen Ursprung bisweilen Generationen zurückliegt oder der Kindheit, dem Elternhaus, der Schulzeit entstammt. Unsere Arbeit beginnt oft erst dann, wenn es manchmal bereits zu spät ist. Doch aus all unseren Erfahrungen und all dem Wissen können wir noch immer keine verlässlichen Regelwerke zur Verfügung stellen, die den Menschen dabei helfen, ihren psychischen Nöten vorzubeugen.“ Langsam erwachte sein Feuer. „Wir haben das Wichtigste vergessen, Carl. Man hat uns gepredigt von einem mächtigen Mann im Himmel und seinen Kindern auf Erden, die für ihn gekreuzigt, unterdrückt und vertrieben wurden. Man hat uns geschult im Handwerk des Schnürsenkelbindens, des Radfahrens und des Brotschneidens. Man hat uns unterrichtet in Mathematik, Physik und Biologie. Man hat uns gelehrt, Autos, Fernseher und Maschinen gigantischen Ausmaßes zu bedienen. Man hat uns obendrein die Zugangscodes zum gesammelten Wissen der Menschheit übergeben. Man hat uns veraltete Gebote und technisch wissenschaftliches Handwerk beigebracht.“ Er hielt einen Augenblick inne und fuhr sich über die Stirn. „Doch, Carl, niemand konnte uns zur rechten Zeit während der Jahre unseres Großwerdens lehren, wer wir in der Tiefe unseres Wesens in Wahrheit sind. Und wie wir unsere Gedanken, Gefühle und Körper führen oder bedienen müssen, um die vielen Anlagen, die in uns stecken, angemessen zu verwirklichen. Wir haben das menschliche Handwerk nicht erlernt und darum auch gar keine Chance, nicht irgendwann neurotisch, ängstlich, einsam, depressiv oder einfach nur traurig zu werden.

Wir sind Opfer unserer Herzen, die von Opfern ihrer Herzen geschult wurden.“

Der Mond war gerade hinter einer Nebelbank verschwunden und es war Paul, als würde er hinter den Schemen der plötzlichen Dunkelheit einmal mehr etwas Vertrautes erkennen. Tief aus seinem Inneren drang ein Lächeln hervor und zeigte sich als einzelne Träne, die ihm über die Wange lief. „Ich glaube, dass es bei all den bereits bekannten Ansätzen der psychospirituellen Bewusstseinssteuerung noch etwas mehr geben muss, etwas, das tiefer reicht, wesentlicher ist und sich auch von Kindern anwenden lässt. Und dieses Etwas muss grundlegend mit der Steuerung unserer Herzen und Körper, mit unserem ganzen Charakter zu tun haben.“ Er kam zum Ende. „Das, Carl, ist es, was mich zum Tempel zieht.“

Da er es vorzog, im eigenen Bett zu schlafen, ließ sich Paul von einem Taxi nach Hause fahren. Er konnte sich noch gar nicht vorstellen, wie er die vielen Monate in fremden, kargen Zimmern ohne den Schutz seiner vertrauten vier Wände würde überstehen können.

Zudem wollte er einen Morgen im Kreis der zwar liebenswerten, doch für ihn auch anstrengenden Frauengruppe vermeiden. So sehr der Abend ihn amüsiert und geehrt hatte, fühlte er sich besonders dem angriffigen Wesen von Suzan immer etwas zu hilflos ausgeliefert.

Als er, vor dem Badezimmerspiegel stehend, flüchtig sein Gesicht betrachtete, blieb er kurz in seinem Blick gefangen. Oft empfand er bei der Betrachtung seines Spiegelbilds keinerlei Regung, doch diesmal schienen ihm seine Augen, trotz des Alkohols und der späten Stunde, überraschend klar und leuchtend. Er stand etwas gebückt mit seitlich geneigtem Kopf, hatte schon Pyjama und Pantoffel übergestreift und verharrte so eine Weile.

Er stellte sich vor, wie Lena ihn ansehen würde. Seit Wochen waren die Gedanken nun plötzlich ganz bei ihr.

In seinen Augen im Spiegel sah er ihre Augen, als würde sie ihn durch ihn hindurch betrachten. Als würden die Augenpaare zu einem werden. Ich sehe dich, fiel ihm ein Satz aus einem seiner Lieblingsfilme ein. „Ich sehe dich“, sagte er leise zu seinem Spiegelbild.

Im selben Augenblick noch fand er sich schrecklich rührselig und tadelte seinen Hang zu romantischer Verklärung. Er wischte mit der Hand über den Spiegel, als wollte er ihn, unter dem nach einem heißen Bad beschlagenen Glas, wieder zum Vorschein bringen und stapfte ins Schlafzimmer mit den cremefarbenen Wänden und seinem gemütlichen Naturholzbett.

Er war zu müde, um noch zu lesen, und nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte, fielen ihm schnell die Augen zu.

Sein letzter Gedanke in dieser Nacht war, dass er Lena wohl niemals wiedersehen würde – denn nach noch mal vier Monaten ohne Kontakt hätten sich ihre Lebenslinien gewiss zu weit voneinander fortbewegt.

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