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„Das muss Sie nicht verwundern“, erklärte Arjun bei der Fahrt im verbeulten Fiat zu seiner Wohnung in einen der Zwischenbezirke. „Das Licht fällt regelmäßig aus. Wie auch überhaupt alles, was am Stromnetz hängt. Wir können in Nepal einfach nicht genug Strom produzieren. Also hat die Regierung beschlossen, statt die Energie nur wenigen Menschen durchgehend zur Verfügung zu stellen, sie allen zukommen zu lassen, dafür aber nur die halbe Zeit. Es ist also ratsam, sich mit einer guten Taschenlampe auszustatten. Wenn Sie wollen, können wir noch in der Agentur vorbeifahren, dort sind einige für die Touren gelagert.“

„Danke“, erwiderte Paul lächelnd und musste an den Abend bei Carl denken, „aber ich bin eigentlich ganz gut ausgerüstet. Man hat mich vor meiner Abreise nicht nur mit unzähligen Ratschlägen, sondern auch mit unentbehrlichen Utensilien versorgt.“ Er grinste. „Darunter befinden sich auch eine ultramoderne Stirnlampe und mindestens hundert Batterien.“ „Das ist perfekt“, entgegnete Arjun entspannt, „die werden Sie bestimmt auch brauchen. Denn spätestens über viertausend Meter gibt es so gut wie gar keinen Strom mehr.“

Manisha, Arjuns junge Frau, empfing die beiden an der Wohnungstür. In einen orangeroten Sari gekleidet, der den dunklen Teint ihrer Haut bezaubernd umrahmte, kam sie der Umarmung ihres Mannes entgegen. Die Natürlichkeit ihrer Bewegungen unterstrich ihr herzliches Wesen. Auf der Stirn trug sie einen Bindi, den mit Pulverfarbe aufgemalten Segenspunkt, der das dritte Auge symbolisiert und als Zeichen der verheirateten Hindufrau gilt.

Als sie so neben ihrem Mann stand, empfand Paul die beiden als perfektes Paar. Mit einem Lächeln verbeugte sie sich im üblichen Ritual vor Paul und geleitete ihn höflich in den schlicht eingerichteten, überschaubaren Wohnraum, der zugleich als Esszimmer diente.

Sie hatte ein köstliches Abendessen aus Lammfleisch und Gemüse zubereitet, das mit Koriander, Nelken, Ingwer und zerlassener Yakbutter gewürzt war. Dal Bhat, das nepalesische Nationalgericht aus Linsen und Reis, durfte an Pauls erstem Abend natürlich auch nicht fehlen.

Aus reicher Erfahrung mit seinen Klienten servierte Arjun vorsichtshalber einen Whisky als Aperitif.

„Ich weiß schon, wie empfindlich mitteleuropäische Mägen sind und wir wollen doch den Beginn unserer Tour nicht unnötig verzögern“, bemerkte er schmunzelnd.

Nach dem Essen, bei dem sich das Gespräch vorwiegend um allgemeine Fragen zu Pauls Anreise sowie um das Leben in Köln und Nepal drehte, erkundigte sich Manisha schließlich vorsichtig nach seinem Plan, die Tempelschule zu suchen. Paul, der auf einen solchen Anstoß gehofft hatte, erklärte seine Absichten, erwähnte auch den Shaligram Shila und erzählte von Lenas Bruder und dessen Erlebnis.

„In meiner Frauengruppe – wir kümmern uns um die Ausgestoßenen, die Ärmsten der Armen aus den untersten Kasten“, begann Manisha in erstaunlich gutem Englisch, das sie via Fernkurs erlernt hatte, „gibt es eine Krankenschwester, deren Mutter angeblich vor vielen Jahren als eine der Meisterinnen in der Schule unterrichtet hat. Diese Frau soll für über ein Jahrhundert die einzige nepalesische Lehrerin gewesen sein, der jemals diese Ehre zuteil wurde. Wie Schwester Ramchandra mir berichten konnte, werden der Ort und das heilige Wissen der Schule noch immer behütet. Einer alten Prophezeiung nach bricht die Zeit für das Bekanntwerden der Lehren in der menschlichen Gesellschaft erst in diesem Jahrzehnt an.“ Sie stockte und fragte schüchtern: „Ich weiß nicht, erkläre ich das verständlich?“

„Durchaus, ja, erzählen Sie nur weiter bitte“, ermunterte sie Paul aufgeregt und berührt von ihrem scheuen, doch so ehrlichen Wesen.

„So viel mehr weiß ich leider gar nicht. Auch Ramchandras Mutter war zur Geheimhaltung verpflichtet und hat bis zu dem Zeitpunkt, da sie sich für immer in die Berge zurückzog, niemals den Standort des Tempels preisgegeben. Ramchandra hat ihre Mutter seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen und konnte mir nur die wenigen Anhaltspunkte geben, die ihr selbst in Erinnerung geblieben waren. Ihre Mutter hatte sie nämlich in der Kindheit das eine oder andere Mal zum Tempel mitgenommen. Das liegt jetzt allerdings schon beinahe dreißig Jahre zurück. Arjun hat sich dann aber mit Ramchandra getroffen.“ Sie blickte ihren Mann auffordernd an, das Gespräch zu übernehmen.

„Und ich habe aus ihren Schilderungen“, nahm dieser den Faden bereitwillig auf, „eine mögliche Route Richtung Annapurna bestimmen können, der wir – sofern Sie, lieber Paul, weiterhin darauf bestehen – folgen werden.“

Paul war euphorisch. Manishas Bericht erbrachte den ersten, stichhaltigen Beweis für die Existenz des Tempels.

„Jetzt bin ich natürlich umso entschlossener, ihn zu finden“, entgegnete er und blickte die beiden hoffnungsvoll an.

„Dann soll es so sein“, schloss Arjun lächelnd, „übermorgen brechen wir auf.“

Nach einem weiteren gut dreiviertelstündigen Stromausfall, währenddem seine Gastgeber zahlreiche Kerzen im Zimmer entzündet hatten, begann Manisha mit ersten vorsichtigen Fragen zu Pauls Arbeit und freute sich, wie bereitwillig und gern er Auskunft darüber gab. Sie fasste sich ein Herz und fragte schließlich nach allem, wovon sie sich insgeheim vorgenommen hatte, es in Erfahrung zu bringen. Paul freute sich über ihr Interesse und so drehte sich das folgende Gespräch – in dem Manisha auch zusehends mehr von ihrer Familie und ihrem Engagement in der Fraueninitiative preisgab – hauptsächlich um Pauls psychologische Studien. Auch die universitäre Ausbildung in Deutschland wurde angesprochen. Manisha blickte ihn an dieser Stelle mit großen Augen an. Sie hatte zwar bereits davon gehört, dass sie allen Frauen und Männern, gleich welcher sozialen Schicht, frei zugänglich war, doch hatte sie das bislang nicht glauben können.

Ob die Möglichkeit bestünde, vielleicht auch sein Werk irgendwann lesen zu dürfen, konnte Paul allerdings nicht beantworten. Seine Verlegerin hatte sich zu diesem Punkt bislang eher zurückhaltend geäußert. Vielleicht würde sie der Erfolg des Buches ja davon überzeugen, doch eine Übersetzung ins Englische in die Wege zu leiten.

Paul versprach jedenfalls fest, sollte es tatsächlich dazu kommen, Manisha ein Exemplar mit persönlicher Widmung zu schicken.

Eine Stunde vor Mitternacht unterbrach Arjun liebevoll den Redefluss seiner Frau, da die Zeit gekommen war, Paul noch auf das Dach des Wohnhauses zu entführen.

„Kommen Sie nur, mein Freund“, kündigte er verheißungsvoll an, während sie die Treppen zum obersten Geschoss hochstiegen. „Heute ist die erste, klare Frühlingsnacht in unserem Tal und die Chancen stehen nicht schlecht, ein seltenes Schauspiel zu erleben.“

Am Flachdach des fünfstöckigen Wohnhauses angekommen konnte Paul seinen Augen kaum trauen. Über Hunderten von Dächern schwebten zart beleuchtete Flugdrachen und boten ein tänzelndes, buntes Lichterspiel, das die darunter funkelnd erleuchtete Metropole spiegelte. Nach einer Weile, in der Arjun seine Frau umarmt hielt und die drei schweigend die Szenerie betrachteten, erklärte er: „Dieser Brauch gehört eigentlich zu einem unserer großen Feste, dem Dashain, das üblicherweise im Oktober stattfindet. Dabei wird fünfzehn Tage lang der Sieg des Guten über das Böse gefeiert. Vor wenigen Jahren hat jemand damit begonnen, die Drachen auch in der ersten, warmen Frühlingsnacht steigen zu lassen, und andere haben es ihm gleichgetan. Es gibt uns das Gefühl, über den Dächern unseres beengten Alltags ein kleines Stück mehr an Freiheit zu erhaschen.

Und es ist nie ganz sicher, welche Nacht es tatsächlich sein wird. Sie haben großes Glück, mein Freund“, er sah Paul mit schmalen Augen lächelnd, verschmitzt an, „und ich denke, die Zeichen deuten darauf hin, dass unser Abenteuer unter einem guten Stern steht.“

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