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„Guten Morgen, mein Freund!“ Arjun strahlte mit einer Energie, die Paul nicht annähernd imstande war aufzubringen. Er fühlte sich im Gegenteil, als hätte er nur wenige Stunden Schlaf hinter sich. Nachdem der den kleinen Speiseraum betreten und einen Blick auf den uralten Klingelwecker am Fenstersims geworfen hatte, stellte er überrascht fest, dass er damit auch richtig lag.

„Es ist fünf Uhr am Morgen!“, rief er Arjun in gespielt vorwurfsvollem Ton über den Frühstückstisch hinweg zu. „Warum hast du mich geweckt? Was, um alles in der Welt, wollen wir so früh?“

„Wir wollen uns auf den Weg machen, mein Freund. Es gibt nichts Schöneres auf dieser Welt als Sonnenaufgänge im Himalaya. Das willst du doch nicht verpassen?“

„Es hätte nicht unbedingt gleich der erste sein müssen.“ Er blickte zum kleinen Holzfenster auf der anderen Seite des Raumes, bückte sich vor und sah voll Staunen durch die verschlierte Glasscheibe, wie das erste, geradezu magische Licht des Tages die Berghänge überströmte. „Andererseits muss ich dir recht geben. Das ist wirklich atemberaubend.“

„Und das ist noch gar nichts gegen das, was dich in den kommenden Tagen erwartet. Glaub mir, das wirst du dein Leben lang nicht vergessen.“ Er lachte fröhlich und war sich nicht annähernd bewusst, wie sehr er damit recht behalten sollte.

In Absprache mit Arjun hatte Paul auf einen Porter verzichtet. Den kleinen Trolley mit den zusätzlichen Reiseutensilien hatte er in Arjuns Wohnung unterbringen dürfen und so blieb ihm für die Tour nur der rote Trekkingrucksack. Er traute sich zu, die mäßige Last auf seinen Schultern auch in steilem Gelände und nach mehreren Tagen selbst tragen zu können.

Für die Verpflegung des Zwei-Mann-Teams wäre in Dörfern und Lodges auf der Route, die vor ihnen lag, ohnehin gesorgt. Paul hoffte, sollte er den Tempel tatsächlich finden, auch dort mit wenigen Utensilien das Auslangen zu finden. So bestand ihr Gepäck, neben den nötigsten Bekleidungsstücken wie Unterwäsche, Shirts, Pullovern, wetterfesten Überhosen und Anoraks sowie einer weiteren Flasche Whisky, vorwiegend aus Wasserflaschen und Batterien. Paul hatte sogar drei Slips dabei.

Während der ersten Etappe ihrer Wanderung wurden die beiden vom satten Grün der subtropischen Landschaft und weitläufig angelegten Reisterrassen umgeben. Die anhaltende Stille, die sie schon kurz nach dem Verlassen des Dorfes einhüllte, wurde nur vom Tosen zahlreicher Wasserfälle unterbrochen, die sich über schroffes Gestein wild rauschend in die Tiefe ergossen.

Paul empfand inmitten dieses Wechselspiels aus beschaulicher Einkehr und lebendiger Natur zum ersten Mal in dem fremden Land das Gefühl, angekommen zu sein.

Mit ruhigen Schritten marschierten die beiden vor sich hin und ließen zahlreiche andere Wanderer an sich vorbeiziehen.

„Die holen wir alle noch ein“, erklärte Arjun, „spätestens über viertausend Metern geht ihnen nämlich im wahrsten Sinn des Wortes die Luft aus.“ Er lächelte verschmitzt und ergänzte: „Außerdem müssen wir uns an die Höhe langsam gewöhnen.

Das wird uns am besten vor der Schwindelkrankheit schützen. Alles maßvoll, Schritt für Schritt und Atemzug für Atemzug.“

Der Weg wand sich das ausgedehnte Flussufer entlang. Bergauf und bergab folgte Paul seinem schon zum Freund gewordenen Trekkingführer an Eichenwäldern und Farndschungeln vorbei über unendlich scheinende Ebenen wie auch durch Gärten knorrig verwunschener Baumgruppen.

Arjun hatte Ramchandras Bericht einige Anhaltspunkte entnehmen können, die ihre Route zumindest bis zu einer gewissen Region vorzeichnete.

Die nahezu hundert Kilometer lange Wegstrecke würde sie Richtung Thorong La führen, dem höchsten, dauerhaft begangenen Pass der Welt mitten im Annapurna-Massiv. Den Pass selbst würden sie jedoch nicht überqueren, da sie einige Kilometer davor Richtung Tilicho Lake, einem ebenso hochgelegenen Bergsee, abzweigen müssten. Nach einer weiteren Wegstrecke über den See hinaus wären sie dann allerdings bei ihrer Suche auf sich allein gestellt, weil ab dieser Zone Ramchandras Erinnerung ausgesetzt hatte. Sie wusste nur noch zu berichten, dass ihre Mutter sie in diesem, schon gut viereinhalbtausend Meter hoch gelegenen Areal stets in ein festes Tuch gewickelt auf ihren Schultern weitergetragen hätte. Dabei wäre sie immer in tiefen Schlaf gefallen und hätte in keiner Weise mehr abschätzen können, welche Richtung ihre Mutter danach für wie lange eingeschlagen hätte.

Arjun stellte, sofern alles im Rahmen des Erwarteten verlaufen würde, für den Aufstieg bis zu diesem Punkt eine Dauer von acht Tagen in Aussicht.

Zur dritten Nacht ihrer Tour wurden die beiden in einer Lodge direkt am Fluss willkommen geheißen. Gleich nach der Ankunft musste sich Paul eine gute Stunde in dem üblichen, schlichten Zimmer ausruhen und empfand die engen Wände, nach der mitunter beängstigenden Weite der Landschaft, als beschützend und heimelig. Durchs Fenster war das Rauschen eines nahen Wasserfalles zu hören.

Noch vor dem Abendessen stieg er über Geröll einige Meter zum steinigen Flussbett hinab. Nach bereits gut vierzig Kilometern Wanderung an diesen ersten Tagen schmerzten seine Achillessehnen bei jedem Schritt und er entschied sich am flachen Ufer zu einigen Dehnungsübungen. Der angeschwemmte gräuliche Bergsand bildete eine kleine Düne und nach wenigen Versuchen, seine gespannten Unterschenkel zu dehnen, um die Sehnen zu entlasten, spürte er unter seinem linken Fuß einen harten Widerstand. Er bückte sich, wischte den Sand beiseite und traute seinen Augen kaum, als darunter ein Shaligram Shila zum Vorschein kam, der seinem eigenen bis hin zur goldgelben Farbe aufs Auge glich.

Zufälle, dachte er lächelnd und blickte in Richtung des Wasserfalles, der die letzten durch das Tal fallenden Sonnenstrahlen in hellen Regenbogenfarben versprühte. Er nahm den Stein behutsam an sich und fuhr mit seinen Übungen fort.

Arjun hatte mit dem Essen bereits auf ihn gewartet, als Paul kurze Zeit später das behagliche, nur durch Kerzen beleuchtete, schmale Zimmer betrat.

„Ich habe etwas für dich“, sagte er zu seinem Freund und hielt ihm den Shila hin.

„Paul!“, rief Arjun überrascht aus. „Es gibt keinen Grund, mir deinen Shaligrama zu schenken. Du wirst ihn ja hoffentlich auch noch brauchen, um in den Tempel aufgenommen zu werden.“

„Das ist nicht mein Shila, Arjun. Diesen hier hab ich eben am Fluss gefunden. Er sieht meinem eigenen nur täuschend ähnlich. Und ich habe gelernt, man verschenkt sie nur an Menschen, die einen in der Seele berühren, nicht wahr? Also, dieser hier ist für dich.“

Arjun sah ihn mit ernstem Blick an und rührte sich nicht vom Fleck. Paul war verunsichert, ob er einen Fehler begangen hatte.

Nach einer Weile begann Arjun schließlich verlegen: „Es gibt etwas, das ich dir verschwiegen habe, mein Freund.“ Er hielt inne, nahm zögernd den Stein aus Pauls Hand und betrachtete ihn, als würde es sich um ein kostbares Juwel handeln.

„Komm, setz dich“, sagte er, „lass uns etwas essen. Danach holst du deinen Whisky und wir reden. In Ordnung?“

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