Читать книгу Ich bin der Sturm - Michaela Kastel - Страница 10
5
ОглавлениеNachts um drei kommen die Dämonen raus, heißt es. Zur dunkelsten Stunde, ohne einen Laut. Uhren hören auf zu ticken. Die Welt dreht sich nicht mehr. Nachts um drei sind die Schreie sonst am lautesten.
Doch heute Nacht ist nichts zu hören. Es ist so still wie damals, in dem Haus, wo ich aufgewachsen bin. Ein Hauch von Frieden hängt in der Luft, der mich die Aufregung und die Angst für kurze Zeit vergessen lässt.
Meine Zellentür öffnet sich. Eine große, vertraute Gestalt bewegt sich auf mich zu. Die Freude zerreißt mich fast, treibt mich auf die Beine, in seine Arme, die mich mit aller Kraft umschlingen. Er ist tatsächlich gekommen. Er hat sein Wort gehalten.
»Zieh den an«, sagt er mit gedämpfter Stimme.
Ich schlüpfe in weite, flauschige Ärmel, kurz darauf stülpt er mir eine Kapuze über den Kopf. Ein Mantel, in dem ich verschwinde, der mich unsichtbar macht. Zauberei. Er zieht die Kapuze tief in mein Gesicht, sodass ich bloß den Boden und meine eigenen Füße erkenne. Seine Hand umfasst meine, er drückt mich fest an sich, an seinen großen, starken Körper, der Wände durchbrechen kann, Glieder zerreißen, aber nicht nur Glieder, auch Ketten. Er führt mich aus der Zelle, den Gang entlang, den ich morgens immer mit Greta gehe. Fast werde ich wehmütig. Dieser Gang zum letzten Mal. Durchnummerierte Türen links und rechts. Ein plötzlicher Schmerz lässt mich innehalten. Da drin sind sie, die einzigen Menschen, die ich kenne. Und ich lasse sie im Stich. Lasse sie einfach hier zurück mit den Teufeln, mit dem Feuer, das niemals ausgeht.
Geists Griff wird stärker. Durch den Kapuzenstoff sehe ich seine Augen glühen. Zwei leuchtende Löcher, die mich mahnen, jetzt nicht stehen zu bleiben, keine Schwäche zu zeigen. Wenn ich schwach bin, sind wir beide tot. Ich schaue auf den Boden und lasse mich führen. Über Stufen und durch weitere Korridore. Wir gehen nach oben. Immer noch ist es so still. Weil alle schlafen. Weil niemand ahnt, was gerade passiert. Nachts um drei sind selbst die Dämonen auf der Hut.
Linoleum wird zu Steinboden. Meine holprigen Schritte sind laut. Wir sind fast da. Ich rieche es, die frische Luft unter dem Türschlitz, dem letzten Türschlitz. Abrupt bleibt Geist stehen. Ich dränge mich an seine Brust, wage nicht, den Blick zu heben. Die Stimme des Mannes klingt völlig normal. Ein weiterer Scherge, der seine Seele verkauft hat. Der hier arbeitet und sich nichts dabei denkt. Der lediglich seine Aufgaben erfüllt. Die Schlachter und das Vieh.
»Was soll denn das werden? Die Mädchen dürfen nicht nach draußen.«
»Nur ein kleiner Spaziergang, mehr nicht. Ich bringe sie in einer halben Stunde zurück.«
»Tut mir leid, aber das ist nicht gestattet. Sie müssen mit ihr im Gebäude bleiben.«
»Nicht mal fünf Minuten? Wir bleiben auf dem Gelände, versprochen.«
»Wie gesagt, es ist verboten.«
»Ach kommen Sie. Machen Sie eine Ausnahme. Sie kennen mich doch. Soll ich einen Aufpreis zahlen?«
»Sorry, aber ich kriege sonst Probleme. Vielleicht reden Sie mal mit dem Herrn Direktor deswegen. Ich allein darf das leider nicht entscheiden.«
Geist lässt meine Hand los. Sei vorsichtig, möchte ich sagen. Begib dich nicht in Gefahr, nicht meinetwegen. Aber es ist schon zu spät. Niemand nimmt einem Teufel sein Spielzeug weg. Ein unerwarteter Stoß lässt mich nach hinten taumeln, zwei Schritte, drei, dann verliere ich das Gleichgewicht, und die Kapuze rutscht mir vom Kopf.
In dem Moment sehe ich, wie Geist über den Schergen herfällt. Mit ausgebreiteten Flügeln, eine Höllengestalt, die Hörner tief im Brustkorb des Mannes versenkt. Er hebt ihn hoch, pfählt ihn, reißt ihm mit der Faust das Herz heraus. Blut spritzt ihm ins Gesicht, und der Mann schreit. Er schreit wie am Spieß. Auch ich will schreien, aber die Angst raubt mir die Stimme. Die Angst, dass sie uns gehört haben, die Angst, dass sie uns finden. Blutend fällt der Körper zu Boden, und Geist brüllt: »Lauf!«
Wir laufen. Hand in Hand, durch die Tür, durch den Schnee, durch den Sturm, in die Nacht. Tausend Lichter zerschmettern an den Bäumen ringsum – Fenster, die erleuchtet werden, Türen, die sich öffnen. Dämonen auf ihren Feuerdrachen. Sie sind bereits auf der Jagd nach uns. Sirenen heulen durch den Sturmwind. Die Hunde bellen. Ich blicke nicht zurück. Gemeinsam können wir es schaffen. Mit seiner Hilfe bin ich stark. Mein Retter, mein Geist, mein tapferer Geliebter. Er hat sein Wort gehalten. Jetzt kann ich atmen. All die frische Luft, durch die seine Flügel uns tragen.