Читать книгу Ich bin der Sturm - Michaela Kastel - Страница 8
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ОглавлениеIch habe ein Geheimnis. Niemand ahnt es. Ich denke daran, wenn sie mich zwingen, meine üppig portionierten Mahlzeiten hinunterzuwürgen, schmerzhaft in meinen versteinerten Körper hinein. Ich denke daran, wenn sie wollen, dass ich schlafe. Nur gut ausgeruht bin ich für die Teufel zu gebrauchen. Ich habe kein eigenes Bett, darum bringen sie mich in den Schlafsaal. Wo wir Schäfchen zählen und Sterne sehen. Wo wir noch Träume haben.
Ich habe Angst davor zu schlafen. Angst davor, die Augen zu schließen. Angst vor den Stimmen in meinem Kopf und vor den Schritten, die sich nähern, wenn ich am wehrlosesten bin. Um mich nicht mehr zu fürchten, denke ich an mein Geheimnis. Wenn sie mir die Spritze in den Arm jagen und kurz darauf das Licht ausgeht. Ich denke auch daran, wenn der Onkel Doktor mich auseinanderschraubt. Wenn er zählt, wie viele Teilchen letzte Nacht verloren gegangen sind oder gelockert wurden. Wenn er hustend zum Werkzeug greift und anfängt, mich zu reparieren. Der Puppenbauer und seine kleine Patientin. Ein gut aufeinander eingespieltes Team. Ich bin artig. Lasse ihn machen. Zwischendurch höre ich seine vom Lungenkrebs zerfressene Stimme. »Still!« oder »Halt ruhig!« oder »Mach den Mund auf!«. Schöne Zähne sind wichtig. Eigentlich dürfen die Teufel sie uns nicht ausschlagen, aber manchmal passiert es. Sie bekommen dann eine Weile Hausverbot, und wir bekommen ein neues Gebiss. Man sorgt hier für uns. Der Onkel Doktor sagt, ich sei ihr wertvollster Besitz. Ich glaube, mich repariert er besonders gern.
Sie schieben mich in den Raum, wo wir schlafen sollen. Auf eine Trage gebunden liege ich da, meine Hand- und Fußgelenke sind mit Bandagen gefesselt, ich kann mich keinen Zentimeter bewegen. Nur den Kopf kann ich drehen. Die Tragen stehen aufgereiht im Raum wie Särge. Sich wie eine Leiche zu fühlen bin ich gewohnt. Wenn meine Haut kalt ist und mein Herz nicht mehr schlagen will. Dann ist es beinahe schön, in den Schlafsaal gebracht zu werden und zu hoffen, nicht wieder aufzuwachen.
Ruckelnd endet die Fahrt. Der Mann mit dem Mundschutz beugt sich über mich und leuchtet mir mit einer kleinen Lampe in die Augen. »Wie fühlst du dich?«
»Gut. Müde.«
»Gleich kannst du schlafen. Ich hol nur schnell das Mittelchen.«
Er verlässt den Raum durch eine Tür auf der anderen Seite.
Eine Leuchtstoffröhre klebt an der Decke. Fliegen krabbeln darauf herum. Im Schlafsaal tummeln sich immer die Fliegen. Ich drehe den Kopf, weil das Licht mich blendet, da sehe ich Fairy gleich neben mir, an eine Trage gebunden so wie ich, mit verkrusteten Lippen. Sie starrt mich an.
»Keine Angst«, sage ich. »Hier drin passiert nichts. Wir sollen nur ein bisschen schlafen.«
»Wie … wie lange …«
»Nicht lange. Ein paar Stunden. Sie wecken uns pünktlich zur Abendgymnastik.«
Sie presst die Augen zusammen, schüttelt den Kopf. »Nicht das«, sagt sie. »Wie lange … bist du schon hier?«
»Weiß nicht. Eine Weile.«
»Haben sie dich … haben sie dich auch in dieses Auto gezerrt? In den Lieferwagen?«
»Ich weiß es nicht mehr. Ich denke nicht an so etwas.«
»Was machen die mit uns? Wieso bin ich hier?«
»Es gibt keinen Grund. Sie haben dich ausgewählt, aber es hätte jede treffen können. Versuch nicht, es zu verstehen.«
»Werde ich … werde ich sterben?«
»Wenn du artig bist, dann nicht.«
Eine Träne rinnt aus ihrem Augenwinkel, ein Blutstropfen schimmert auf ihrem Mund. Sie hat sich in die Lippe gebissen.
»Ich will zurück nach Hause«, flüstert sie.
»Das hier ist jetzt dein Zuhause.«
»Wieso tun die das? Wieso? Wieso hilft uns niemand?«
»Sei leise, Fairy, sonst bekommst du noch Probleme.«
»Das ist nicht mein Name! Ich heiße Flora! Flora!«
Der Mann mit dem Mundschutz kommt zurück in den Raum. »Aha, sind wir etwas aufgekratzt gerade? Still halten, mein Feelein. Ich schick dich ins Traumland.«
Sie schreit und wehrt sich, reißt an ihren Bandagen. Wie wahnsinnig brüllt sie ihren Namen an die Decke. Ein kurzer Stich, und ihr Körper erschlafft. Plötzlich liegt sie einfach da. Eine Leiche unter vielen in diesem totenstillen Raum.
Das mundlose Gesicht taucht schräg über mir auf. »Still halten«, sagt er auch zu mir, obwohl ich mich kein Stück bewege. Ein Piks mit der Nadel, etwas Kaltes in meinem Arm. Ich werde müde. Schon drohen mir die Augen zuzufallen. Träge drehe ich den Kopf zur Seite, weil ich wissen will, woher dieses Geräusch kommt, dieses Quietschen. Sie schieben Fairy aus dem Raum. Vermutlich bringen sie sie zum hustenden Doktor. Man mag hier keine Unruhestifter. Sie ist ein hübsches Mädchen, noch so jung. Sie wird hier viele Verehrer finden. Viele, viele Tränen sammeln. Wenn sie klug ist, spart sie sie auf für den Richtigen. Dann wird auch sie ein Geheimnis haben. Einen Verbündeten. Einen Funken Hoffnung.
»In drei Tagen«, hat er gesagt. Mein Geist, mein Beschützer. Dann wird er kommen und mich holen. Mich ihnen wegnehmen, mich stehlen. Und dann wird er mich nach Hause bringen. Wo es warm ist und weich und gemütlich. Nach Hause auf die Lichtung. Nach Hause.
Ich schließe die Augen und falle in den Schlaf.
Ich träume. Von einem Haus auf einer Lichtung, es ist Winter, und eine blassgoldene Sonne steigt friedlich hinter den Tannen auf. Hier nahm alles seinen Anfang. Hier wurde ich geboren. Es sei ein wunderschöner Tag gewesen. So hell und still und friedvoll. Perfekt, um zum ersten Mal die Augen zu öffnen. Meine Mutter war auch wunderschön. Ein Engel mit langem dunklen Haar und blauen Augen wie ich. Wölfe haben sie zerfleischt. Im Rudel fielen sie über sie her, ich musste zusehen. Sie schrie: »Lauf!« Also bin ich gelaufen. Mit meinem schweren Rucksack. Durch Wälder und Schluchten, Tag und Nacht bin ich gelaufen, nur ich und die kalte Einsamkeit, ich und die Tränen, schon damals begann ich sie zu sammeln in mir. Bis ich zu einem Haus kam, in dem ein Mann wohnte, der kleine Kinder frisst. Er hieß Shark. Er riss mir das Herz heraus und verfütterte es an seine Fische. Er hatte sieben davon, sieben Fische in einem Aquarium. Da rein warf er mein Herz, ich sah zu, wie es nach unten sank. Und auf einmal war ich kein Kind mehr. Ich führte Aufträge aus und bediente Kundschaft. Shark war zufrieden mit mir. Ich hatte wieder ein Zuhause. Bis die Teufel kamen und mich mitnahmen.
Ich erwache in meiner Zelle. Werde fortgerissen von der Lichtung, dem Frieden und dem Glück. Es ist sauber um mich. Die Wände sind blank poliert, genau wie ich. Ich bin bereit. Bald ist es so weit. Ein Zittern durchläuft mich, reißt mich für eine Sekunde zurück in meinen Traum, zurück zu dem Tag, als es geschah. Als sie mich ihm wegnahmen. Er tat überrascht, dabei hatte er es kommen sehen. Er wusste, dass sie auf dem Weg zu uns waren. Er wusste es, weil er sie hergeholt hatte. Er hatte die Teufel gerufen. Mein Herz in seinem Aquarium ließen sie liegen. Ich brauchte es schließlich nicht, dort, wohin sie mich bringen würden.
In den stillen Momenten, ehe die Türen zu unseren Zellen geöffnet werden, gelingt es mir manchmal, meinen Geist von meinem Körper zu lösen und wie ein Vogel zu fliegen. Ich reise an die wundervollsten Orte, und manchmal reise ich auch zu ihm. Ich finde ihn, in seinem Loch, in seiner Hütte im Wald, oder wo auch immer er denkt, sich vor mir verstecken zu können. Ich zerreiße ihn mit meinen Krallen, picke ihm die Augen aus, rupfe sein schwarzes Herz aus seiner Brust und schlucke es im Ganzen hinunter. Und währenddessen starrt er mich an. Aus blutigen, leeren Höhlen. Ohne diese Augen, in die ich mich verliebt habe, damals, als ich noch jung war, es war Herbst, und er sagte mir alles, was ich hören wollte. Er war gerissen, dieser Mann. Er wusste, was zu tun war. Wie man die Unschuld raubte, wie man Herzen zerbrach, all das wusste er, weil er es schon so oft getan hatte.
Dreckschwein. Ich werde dich ausscheißen, nachdem ich dich verspeist habe. In dein Aquarium, zu deinen Fischen.
Die Tür geht auf. Mein Herz hüpft. Aber es ist nicht Geist, der da zu mir kommt und mir sagt, dass ich aufstehen soll. Geist ist nicht hier. Es dauert noch drei Tage.