Читать книгу Ich bin der Sturm - Michaela Kastel - Страница 16
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ОглавлениеDie Landschaft verändert sich. Es wird flacher. Heller. Vertrauter.
Wir haben die Grenze Richtung Westen mittlerweile passiert. Ich lege die Hand an die Fensterscheibe, weil ich mir einbilde, die Veränderung durch das Glas hindurch spüren zu können. Ich möchte es berühren, das vertraute Land, die Felder und Äcker, die Häuser, die Straßen. Alles wirkt so unverändert. Als wäre ich nie weg gewesen. Als wäre das alles nie passiert.
Die Frau, die mit mir im Abteil sitzt, sieht von ihrem Buch auf. »Ist alles in Ordnung?«, möchte sie wissen. »Sie weinen ja.«
Ganz plötzlich muss ich lächeln. Mir blutet das Herz vor Freude. Diese öde, verschneite Feldlandschaft ist das Schönste, was ich seit Langem gesehen habe.
Meine Sitznachbarin wirkt verunsichert. Sie entschließt sich, wieder zurück ins Buch zu schauen, und nach ein paar Atemzügen setzt sie sich auf die andere Seite des Abteils. Ich nehme es ihr nicht übel. Meine Kleidung ist schmuddelig, und ich bräuchte dringend eine Dusche. Bestimmt hält sie mich für eine Herumtreiberin, die das Zugticket entweder gestohlen oder mit unlauteren Methoden erworben hat. Wie sollte sie ahnen, dass ich einmal richtig normal war? Ein ganz normales Mädchen mit ganz normalen Träumen. Ich könnte ihr von meiner Mutter, dem Haus und den vielen Bediensteten erzählen. Davon, wie hübsch ich einmal war. Die Unschuld strahlte mir aus den Augen. Darum nannten sie mich auch Madonna. Weil ich so rein aussah, dass es der allergrößte Triumph sein musste, mich zu beflecken.
Aber was interessiert es eine solche Frau, warum ich aussehe wie ein Vagabund? Sie kennt die Hölle dort draußen nicht. Niemand weiß, was in der Ferne lauert. Soll sie weiter in ihrem Buch lesen. Soll sie denken, ich sei Dreck. Von Dreck hält man sich wenigstens fern.
Jemand tippt mir auf die Schulter, und ich schrecke auf.
»Endstation«, sagt der Schaffner. Und: »Vergessen Sie Ihr Gepäck nicht«, als ich aufspringe wie vom Blitz getroffen.
Ich muss während der Fahrt eingeschlafen sein. Die Frau mit dem Buch ist weg. Mit dem schweren Rucksack verlasse ich den Zug. Menschen tummeln sich auf dem Bahnsteig. Es ist laut. Eng. Ich setze mich auf eine Bank und starre vor mir auf den Boden. Betrachte meine Füße in den dicken Stiefeln, die in den letzten Wochen so weit gewandert sind. Was, wenn das alles nur ein Traum ist? Wenn ich in der Hütte am See bloß eingeschlafen bin und in Wahrheit immer noch in Geists Armen liege? Gebrochen, ausgeliefert, eingesperrt. Aber die Menschen sind real. Die Luft in meinen Lungen ist real. Ich bin tatsächlich hier, und in meiner Brust breitet sich Panik aus.
Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Ich bin allein. Niemand ist hier, der mich versorgt. Der mir morgens Frühstück bringt und mir beim Waschen hilft. Der mir die Haare kämmt, die Wunden versorgt, der mir Schlafmittel gibt, damit die Angst mich nicht länger wach hält. Ich weiß nicht, wie ich ohne all das überleben soll. Ich fühle mich schutzlos und verwirrt. Vielleicht sollte ich einfach den vielen Menschen folgen. Ich stehe auf und begebe mich in die Bahnhofshalle. Der Lärm ist hier kaum zu ertragen. Polternde Schritte, Sprachdurchsagen, Tausende Stimmen wild durcheinander. Aber es tut gut, das alles zu hören, das Leben, die Normalität, die vertraute Sprache. Ich erinnere mich daran, dass ich Geld wechseln muss – mit Jiris Scheinen kann ich hier nicht bezahlen. Es gibt eine kleine Bankfiliale im Bahnhofsgebäude, ich muss nicht lange warten. Die Dame hinter dem Schalter drückt mir für Jiris Ersparnisse knappe zweitausend Euro in die Hand. Rasch verstaue ich das Geld in meinem Rucksack, eile durch die Halle und komme raus auf die Straße. Es dämmert. Taxis stehen am Straßenrand und warten auf Fahrgäste. Menschen verladen Gepäck in Kofferräume. Menschen sind unterwegs nach Hause. Sie kennen ihren Weg. Mein Weg liegt verborgen in meiner Erinnerung. Fußspuren im Schnee, die von der Witterung verschluckt werden. Ich kenne den Weg nach Hause nicht, aber ich weiß, wer ihn mir sagen kann.
Das Funkhaus in der Innenstadt. Von hier ist es gar nicht weit. Ich könnte laufen, aber meine Füße sind müde. Ganz plötzlich beginne ich die Meilen zu spüren, die ich seit jenem Morgen am See hinter mich gebracht habe. Jahre scheint das her zu sein. Und immer noch ist es kalt, immer noch herrscht Winter. Ich knie mich hin und hole Geists Mantel aus dem Rucksack, wickle mich darin ein, auch wenn es ohne seine Umarmung nur halb so wärmend ist. Ich möchte so gern schlafen. Ich entdecke die Leuchtreklame eines Hotels auf der anderen Straßenseite. Einen Versuch ist es wert.
Schon beim Betreten der Lobby werde ich von der Frau am Empfang ins Visier genommen. Abschätzig mustert sie mich. »Tut mir leid, Sie müssen sich ausweisen, um ein Zimmer zu buchen.«
Weiter zum nächsten Hotel. Auswahl gibt es rund um den Bahnhof genug. Wieder steht eine Frau am Empfang. Wieder scannt ihr Blick mich von Kopf bis Fuß. Mit deutlichem Unbehagen sucht sie im Computer nach einem freien Zimmer.
»Ich würde gerne sofort bezahlen«, sage ich.
Ich hole ein paar Geldscheine hervor, die im Rucksack bereits leicht zerknittert sind. Die Frau nimmt die Hände von der Tastatur, als hätte sie sich verbrannt.
»Tut mir leid, wir haben nichts mehr frei.«
»Gar nichts?«
»Nein.«
»Aber ich brauche ein Zimmer. Bitte schauen Sie noch mal nach.«
»Tut mir leid«, wiederholt sie, ohne einen Finger zu rühren.
Ich bin verzweifelt. Ich strecke ihr das Geld hin, sie weicht zurück. »Ich kann bezahlen, hier! Egal, wie viel. Bitte geben Sie mir ein Zimmer.«
»Ich sagte doch schon, es ist nichts mehr frei.«
»Das stimmt doch gar nicht.«
»Bitte gehen Sie jetzt. Wir können hier nichts für Sie tun.«
Sie stiert an mir vorbei. Zum ersten Mal fällt mir der Mann auf, der am anderen Ende der Lobby an der Bar steht. Er kommt hinter dem Tresen hervor und taxiert mich mit drohendem Blick.
»Schon gut«, sage ich schnell. Ich stecke die Scheine weg, verstecke mich in meiner Kapuze. »Schon gut, ich gehe. Ich gehe ja schon.«
Zurück auf der Straße. Inzwischen ist es dunkel geworden. Der Wind braust aus allen Richtungen. Zitternd halte ich den Mantel zu, während ich vor diesem Hotel stehe und nachdenke.
Eine Chance gibt es noch. Eine Billigabsteige in einer Seitengasse ums Eck. Sieht bereits von außen dreckig aus. Aber mit Absteigen kenne ich mich aus. Schlimmer als der Versorgungsraum kann es nicht sein.
Ich bin sehr vorsichtig beim Öffnen der Tür. Ich luge vorerst bloß hinein. Die Lobby ist klein, und der Schalter ist unbesetzt. Auf den Sofas neben dem Eingang sitzen Männer, die rauchen und Bier trinken. Nachdem sie mich kurz angeschaut haben, kümmern sie sich nicht mehr um mich. Ich wage mich an den Empfang. Aus dem Nebenraum kommt ein junger Mann. Er lächelt.
»Ein Zimmer für eine Nacht?«
Ich nicke euphorisch. Während er ein großes, schweres Buch hervorzieht, packe ich meine zerknitterten Scheine wieder aus.
»Das macht fünfundvierzig Euro.«
Ich gebe ihm das Geld. Er lächelt erneut, steckt die Scheine in eine Blechbox und trägt im dicken Buch etwas ein.
»Auf welchen Namen?«
»Linda.«
»Linda und weiter?«
Ich zögere.
»Linda Burghart vielleicht?«
Ich nicke.
»Dachte ich’s mir doch.« Er schreibt noch etwas dazu und übergibt mir den Schlüssel. Kein Ausweis. Keine Rechnung. Dafür ein drittes Lächeln. »Zweiter Stock, Zimmer Nummer 48. Der Aufzug ist leider defekt. Die Treppe ist gleich dort hinten.«
Gekrümmt schleppe ich den Rucksack in den zweiten Stock. Die richtige Türnummer muss ich erst einmal suchen. Das Zimmer liegt versteckt am Ende des Korridors, und die Tür klemmt. Ich drücke mit der Schulter dagegen und stolpere in einen muffigen Raum mit nur einem Fenster. Bett, ein Tischlein mit Stuhl, ein kleiner Schrank, sonst nichts. Ein winziges Bad mit Kloschüssel und Spiegel. Als Erstes ziehe ich die Vorhänge zu, damit die Straßenlichter mich nicht blenden. Dann versperre ich die Tür mit dem Schlüssel und ziehe die Kette vor. Den Rucksack werfe ich auf den Boden. Ich gehe ins Bad, zerre mir die Kleider vom Leib und stelle mich unter die herrlich warme Dusche.
Mit dem Kopf zur Wand stehe ich eine Weile da. Die Augen geschlossen, regungslos. Im Schlachthaus war das die einzige erlaubte Position. Sie sagten, damit sie uns besser abspritzen können. Wer nicht artig war, wurde manchmal mit dem Schlauch bestraft. Auch das ist eine Art des Pfählens. Wenn der Wasserstrahl so hart ist, dass er kaputte Fliesen aus der Wand schlägt, fragst du dich allmählich, wieso du eigentlich so dumm warst und den Teller nicht leer gegessen hast. Oder was du sonst falsch gemacht hast. So viele Regeln, die ich erst lernen musste. Den Arzt bespuckt man nicht. Und Greta erzählt es weiter, wenn du sie um scharfe Rasierklingen bittest, mit denen du dir die Pulsadern aufschlitzen kannst.
Ich wasche den Straßenstaub aus meinem Haar und strecke das Gesicht für einige Sekunden in den Wasserstrahl. Dann beginnt das Wasser kalt zu werden. Ich steige aus der Duschkabine, trockne mich ab und habe mir eben ein Handtuch um den Körper gewickelt, da klopft es an meiner Zimmertür.
Ich stehe vor Schreck ganz still. Haben sie mich gefunden? Es klopft erneut. Ich drehe den Schlüssel herum, die Kette lasse ich dran. Durch den Spalt erkenne ich ein lächelndes Gesicht. Es ist der junge Mann vom Empfangsschalter.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie störe. Aber ich wollte Ihnen noch schnell sagen, dass Sie den Fön im Bad besser nicht benutzen sollten. Das Ding ist steinalt und löst ständig einen Kurzschluss aus.«
»Ist gut. Ich werde ihn nicht anrühren.«
»Ist sonst alles okay mit dem Zimmer? Haben Sie irgendwelche Fragen?«
»Nein, alles bestens. Danke, dass Sie vorbeigekommen sind.«
Ich möchte die Tür schließen. Er stemmt den Fuß in den Spalt.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«, fragt er. Jetzt mit einem anderen Lächeln, einem hinterlistigen. Ich nicke hastig und drücke die Tür gegen seinen Fuß. Der Fuß rührt sich nicht. »Sie sehen verunsichert aus. Soll ich reinkommen und alles noch mal überprüfen?«
»Nicht nötig.«
»Denn wissen Sie, manchmal springt die Sicherung heraus, wenn man das Licht anmacht. Und Sie wollen doch bestimmt nicht in der Dunkelheit bleiben. Oder?«
Etwas in diesen Worten, die stille Drohung darin, schnürt mir die Kehle zu. Ich trete zurück, wie ferngesteuert. Durch den Spalt in der Tür greift eine Hand. Sie löst die Kette von außen, und knarrend schwingt die Tür auf. Im nächsten Moment ist er bei mir im Zimmer. Immer noch lächelnd. Er sieht sich um, betätigt mehrmals den Lichtschalter, sodass es dunkel wird und dann wieder hell, dunkel und wieder hell.
»Scheint nichts kaputt zu sein«, meint er.
»Hab ich doch gesagt. Es ist alles in Ordnung.«
»Sicher?« Er kommt auf mich zu.
Unter dem dünnen Handtuch bricht mir der Schweiß aus. Ich knalle mit dem Rücken an die Wand. Er bleibt stehen und sieht langsam meinen Körper hinab.
»Hm. Etwas dünn. Das Handtuch, meine ich. Ihnen muss kalt sein.«
»Ich wollte mich gerade anziehen«, krächze ich.
Er geht weiter, immer tiefer ins Zimmer hinein, vor dem Spiegel bleibt er stehen. Ich versuche etwas darin zu erkennen; etwas, das man bei Licht nicht sieht. Manche Dämonen besitzen die Gabe, ihre teuflische Gestalt zu verschleiern. Wer sie wirklich sind, erkennt man dann bloß an ihrem gehörnten Spiegelbild.
Er dreht sich weg vom Spiegel. Er betrachtet mein Bett, als stelle er sich vor, wie ich darin aussehen würde. Schlafend, nackt, an Armen und Beinen gefesselt.
»Bitte gehen Sie jetzt. Ich möchte mich gerne ausruhen.«
»Ich glaube nicht, dass du das willst.«
»Was?«
»Wie viel?«
»Ich verstehe nicht.«
Er lacht. »Komm schon. Ich meine, du bist doch … oder etwa nicht? Jetzt sag schon, wie viel? Sagen wir, zwei Stunden, und ich erlasse dir den Zimmerpreis?«
Etwas passiert. Die Angst, sie ist plötzlich nicht mehr da. Dafür Wut. Höllenzorn. Dieses widerliche Arschloch.
»Raus hier.«
»Jetzt spiel hier nicht das verschreckte Mäuschen. Okay, eine Stunde.«
»Hau ab, du Drecksau!«
»Ernsthaft? Du willst das Zimmer wirklich bezahlen? Sorry, aber du siehst nicht aus wie jemand, der so ein Angebot ausschlagen sollte.«
»Sofort raus hier! Los, raus! Verschwinde!«
»Schön, dann zahl dein verkacktes Zimmer eben selbst, du Schlampe. Morgen früh um acht bist du draußen, oder ich schmeiße dich und deinen verlausten Rucksack auf die Straße.« Er geht.
Ich werfe die Tür zu, drehe den Schlüssel, presse mich dagegen, wie manisch. Die Schritte auf dem Gang entfernen sich. Einige Zeit bleibe ich so stehen, mit dem ganzen Körper gegen die Tür gestemmt, und lausche, ob er zurückkommt. Es bleibt still.
In zwei Minuten bin ich angezogen. Der Rucksack ist geschultert, die Lippen sind versiegelt. Überrascht glotzt er hinter seinem Empfangsschalter hervor.
»Bis acht ist es noch ein Weilchen, Schätzchen! Kein Grund, sich zu hetzen.«
»Fick dich.«
Die Männer auf den Sofas lachen. Ich marschiere in die Kälte und drehe mich nicht mehr um. Dann eben zurück in die Nacht. Das Geld soll er behalten. Soll er ersticken daran.