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Kein Duckface

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Mitten in der Nacht wache ich auf. Die γιαγιά schnarcht leise. Ich starre an die Decke und habe eine Erleuchtung: Ich brauche eine eigene Wohnung. Dafür brauche ich Geld. Das ist ein Problem. Wenn ich etwas zum Anziehen brauche oder mit den Zwillingen ins Kino gehe, nehme ich mir Geld aus der Küchenschublade. Gelegentlich steckt mir Nikos einen Schein zu, wenn er mich besonders dringend im »Poseidon« braucht.

Geld kann man verdienen. Ich brauch einen Job. Wo gibt es Jobs? Im Internet. Den Rest der Nacht wälze ich mich unruhig hin und her und träume davon, wie ich meine Wohnung einrichten werde. Zum Glück verschlafe ich nicht. Die Zwillinge sind schweigsam heute. Nachdem ich sie mit Frühstück und Schuljause versorgt habe, setze ich mich mit dem Laptop an den Esstisch und tue so, als würde ich Buchhaltung machen.

Was für Jobs es gibt! HR, IT, Autobahnmeister … Nach einer halben Stunde weiß ich, was ich alles nicht kann. Bundzimmerer mit Kranschein. Kostenrechnung & Controlling. Nanny. Chef de Partie.

Ich gehe ins Schrankzimmer und suche die Dokumentenmappe. Zwischen Geburtsurkunden, Meldezetteln und Impfpässen finde ich, was ich suche: mein letztes Zeugnis. Bei Mathematik steht eine Vier. Ich denke an Frau Reiter-Markowsky, meine Mathelehrerin, und daran, wie sehr sie es auf mich abgesehen gehabt hat. Wie sie immer gewartet hat, bis sie ganz sicher war, dass ich abgelenkt war, und mich dann zur Tafel gerufen hat. Während ich versucht habe, die Aufgabe zu lösen, hat sie extra laut mit den anderen in der Klasse geredet und mich nach ein paar Sekunden ungeduldig gefragt: »Na, Agnesa? Wird das heute noch was? Nein? Wieder nicht? Ich habe nichts anderes erwartet.«

Mit dem Handy mache ich ein Foto und gehe zurück zum Laptop.

Steuerberater (m/w), SPS-Programmierer/in, JAVA, Datenbanken/Mainframe, KonstrukteurIn. Was soll der Scheiß? Zurück zur Nanny. »Sie sind kinderlieb, bodenständig und haben Erfahrung in der Betreuung von Babys. Sie arbeiten gern in diesem Beruf und sehen diesen nicht als Zwischenlösung. Sie sind zuverlässig, engagiert und zeitlich flexibel. Sie verfügen über fließende Deutschkenntnisse (Muttersprache Niveau) und sind Nichtraucher.«

Das kann ich. Aus dem Wohnzimmer höre ich den Fernseher. Ich werfe einen Blick ins Zimmer. Die γιαγιά legt Wäsche zusammen und schaut dabei eine Quizsendung. Mama und Nikos sind unterwegs. Entschlossen nehme ich mein Handy und gehe ins Zimmer. Ich drücke auf »Anrufen«. In meinem Bauch strudelt es vor Aufregung. Ich höre dem Läuten zu.

Die Stimme der Frau klingt atemlos: »Hallo?«

Im Hintergrund ist es ziemlich unruhig. Höre ich ein Kind schreien?

»Moment!«

Ein paar Schritte, das Geräusch einer Tür. Jetzt kann ich sie besser verstehen. Sie atmet tief durch.

»Jetzt geht es besser. Wie kann ich helfen?«

»Ich ruf an, weil Sie ein Kindermädchen suchen.«

»Eine Nanny, ja!«

Sie fragt nach meinem Namen, meinem Wohnort.

»Oh, das klingt doch gut, da müssen Sie in der Früh nur den Gürtel überqueren und schon sind Sie bei uns.«

Sie fragt nach meinem Alter. Ich lüge und mache mich zwei Jahre älter. Das Schweigen im Telefon zieht sich in die Länge.

»Wissen Sie … Wir haben uns eigentlich jemand Älteren vorgestellt.«

Sie beginnt sich für meinen Anruf zu bedanken. Ich lege auf.

Ich rufe beim Möbelhaus an, das die Werbung mit der netten Oma hat. Die haben ein Restaurant und suchen eine Speisenträgerin. Küche wäre mir lieber, aber was soll’s. »Schicken Sie Ihre Bewerbungsunterlagen an die angegebene Mail-Adresse, wir melden uns dann bei Ihnen.«

»Was sind Bewerbungsunterlagen?«, frage ich.

Die Stimme seufzt.

»Letztes Schulzeugnis, tabellarischer Lebenslauf, Motivationsschreiben … Am besten, Sie googeln einfach mal Bewerbungsschreiben und Muster.«

Wieder schweigt es im Handy. Ich suche krampfhaft nach etwas, was das Gespräch verlängern könnte. Mir fällt nichts ein. Eine unangenehme Pause später redet die Stimme von selbst weiter.

»Wie alt sind Sie?«

Diesmal lüge ich nicht.

»Machen Sie auf Ihrem Bewerbungsfoto kein Duckface.«

Nachdem die Frau aufgelegt hat, befolge ich ihren Rat und google Bewerbungsschreiben und Muster. Dann seufze ich.

Nichts tut sich. Die Tage vergehen. Ich gehe zum Supermarkt. Ich putze die Wohnung. Ich bügle Nikos Hemden. Die γιαγιά ist vor dem Fernseher eingeschlafen. Die Zwillinge spielen. Nikos und Mama sind im »Poseidon«. Nach mir haben sie die ganze Woche nicht gefragt. Ich habe eine seltsame Art von Hausarrest. Will die Mama beweisen, dass sie mich im »Poseidon« nicht brauchen?

Regeln für den Erfolg, frei nach Beyoncé: Arbeite hart. Sei kreativ. Bleib nicht stehen, verschwende keine Zeit. Gib nicht auf. Reiß dich zusammen. Zieh dich schön an, wenn du traurig bist. Sei positiv. Sei im Gleichgewicht. Greif nach den Sternen.

Ich springe auf, ziehe mir irgendwelche Schuhe an.

An den Mülltonnen vorbei führt ein dunkler Gang in den Hinterhof. Die Tür zur Küche des »Poseidon« ist nur angelehnt. Maria ist immer heiß, wenn sie kocht.

»Na?« Maria lehnt schwitzend an der Abwasch aus Edelstahl.

Ich lächle sie an.

»Hab nicht mit dir gerechnet heute.«

Ein paar Schritte bringen mich zur Tür, die in den Schankraum des»Poseidon« hineinführt. Ich schiebe sie vorsichtig und geräuschlos auf, werfe einen Blick ins Lokal. An der Theke zapft Mama Bier. Ich suche nach Nikos. Er steht bei Tisch 10. Er nimmt die Bestellung auf. Sein Blick ruht auf Mama, zufrieden und voller Zuneigung. An Mamas gerötetem Gesicht kann man klar ablesen, dass ihr der Blick bewusst ist. Nikos wendet sich wieder den Gästen zu. Bestätigend legt er die Hand auf die Schulter des Mannes. Was sie reden, kann ich nicht hören. Beide lachen.

Ich lasse die Tür los. Sie schwingt leise hin und her, wie in einem Western die Saloontür, kurz bevor geschossen wird.

Am Arbeitsplatz neben Maria raspelt ein schweigender Fremder Gurken. Ich nehme mir ein Cola aus dem Kühlschrank. Mit dem Kinn zeige ich Richtung Gurken: »Ein Neuer?«

Maria nickt.

»Den hat mir meine Freundin Sophie geschickt. Der hat bei ihr im Betrieb gearbeitet, aber ihm ist das Land zu viel geworden. Er wollte unbedingt in die Stadt. Wenn Sophie jemanden mag, hilft sie, auch wenn es ihrem eigenen Betrieb schadet. Also, wenn der ohnehin schon gekündigt hat.«

Stellt sich raus, Marias Freundin Sophie hat einen Bauernhof, auf dem man Urlaub machen kann.

»Wer hilft denn jetzt in Sophies Küche?«

Maria zuckt mit den Achseln. Dann legt sie ihr Messer weg und schaut mich streng an: »Warum fragst du?«

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