Читать книгу Du bist dran - Mieze Medusa - Страница 9
Ist da eine Welt vor dem Fenster?
ОглавлениеDer Wecker ist unbarmherzig. Die Zwillinge müssen in die Schule, das heißt, ich muss jetzt auch aus dem Bett. Ich torkele ins Badezimmer, wasche mir mein Gesicht mit kaltem Wasser. Meine Augen sind verquollen. In ein paar Minuten werden Eleni und Dimitris für Lärm sorgen, aber noch ist es still in der Wohnung. Wenn Nikos die Wohnung für sich will, dann soll er halt früh aufstehen! Galgenhumor. Mir tut alles weh. An mir hängt ein Gewicht wie von nassen Handtüchern, bevor man sie in den Trockner stopft. Ich bin noch im Pyjama. Ich hasse meine Pyjamas. Sie sind groß und unförmig. Den Ersten dieser Art habe ich von Mama geschenkt bekommen, als meine Brüste nicht mehr zu übersehen waren. Als ich ihn ausgepackt habe, ist ihr Blick zu Nikos rübergerutscht, und mir war klar, dass Eleni nie so einen Pyjama geschenkt bekommen wird.
»Wo sind die Choco Krispies? Ich will auch Choco Krispies!«
Eleni und Dimitris streiten sich um die Frühstücksflocken. Dabei haben wir extra die Variety Packung gekauft: Viermal zwei verschiedene Geschmacksrichtungen. Aber irgendwer hat sich heimlich bedient, jetzt lassen sich die Geschmacksrichtungen nicht mehr ideal durch zwei teilen. Könnte sein, dass ich das war. Von Nikos, Mama und der γιαγιά keine Spur.
Ich versuche, nicht an gestern zu denken, überprüfe die Schultaschen der Zwillinge. Die Jausenbrote packe ich zwischen Bücher und Hefte. Ich zwinge Dimitris, seine Bleistifte zu spitzen. Schaue nach, ob er die Hausaufgaben, bei denen ich ihm gestern geholfen habe, eingepackt hat. Ich selbst habe die letzte Klasse erst beim zweiten Anlauf und gerade mal so geschafft. In der neuen Klasse habe ich mich unwohl gefühlt, keine Freundinnen mehr gefunden. Außerdem war im »Poseidon« so viel zu tun und die γιαγιά hat in der Wohnung mehr Hilfe gebraucht, also habe ich das mit der Schule gelassen. So gesehen, ist es erstaunlich, wie oft ich den beiden helfen kann, und wie selten etwas falsch ist, wenn ich geholfen habe.
Die Belege vom »Poseidon« liegen wie immer im Flur neben dem Telefon bereit. Seit Nikos dahintergekommen ist, dass ich trotz Schulabbruch nicht völlig blöd bin, lässt er sie dort liegen. Ich tippe alles in das Buchhaltungsprogramm ein. Später kümmere ich mich um die Schmutzwäsche. Der Vormittag vergeht wie von selbst.
Dimitris kommt alleine von der Schule heim. Nach dem Mittagessen setzt er sich an den Wohnzimmertisch und spielt mit seinem Handy. Die γιαγιά schaut fern. Es läuft die Barbara Karlich-Show zum Thema: »Muss Arbeit Spaß machen?« Ein Gast erzählt von früher. Spaß an der Arbeit muss man sich erarbeiten. Auf Urlaub fährt er nicht gern, weil da geht er nur spazieren, da kriegt er Depressionen. Das Publikum ist skeptisch. Ich setze das Bügeleisen ab, greife nach der Fernbedienung und schalte um. Die γιαγιά schaut verärgert und murmelt etwas auf Griechisch. Nach einem Blick auf den Bildschirm schweigt sie wieder. Eine alte Folge »Friends«. Die γιαγιά liebt Jennifer Aniston, weil ihr Vater früher Anastassakis geheißen hat.
»So ist das jetzt also …«
Mama steht plötzlich in der Tür. Ihre Stimme zittert vor unterdrückter Wut: »Erst gehst du einfach, ohne was zu sagen und lässt mich die Arbeit alleine machen, und heute machst du dir einen gemütlichen Tag!«
Ich will antworten. Ich will sagen, dass ich den ganzen Abend alleine gearbeitet habe. Nicht zum ersten Mal, übrigens. Außerdem! Wer kümmert sich gerade um die Wäsche? Ich habe die ganze Nacht geheult, und es wäre wirklich super, wenn die Mama dunkle Schatten unter den Augen nicht nur bei sich selbst bemerken würde.
»So geht das nicht, Agnesa. Du musst deinen Verpflichtungen nachkommen. Es kann nicht sein, dass du dir die Arbeiten, die dich freuen, aussuchst. Das Leben ist kein Guglhupf, aus dem man sich die Rosinen rauspicken kann.«
Ich hasse Rosinen. Wenn ich sie rauspicke, dann, um sie auf dem Teller liegen zu lassen. Wie kommt sie dazu, mir vorzuwerfen, dass ich nicht funktioniere? Hat sie vergessen, wie es früher war? Tagelang ist sie wie versteinert auf der Couch gelegen. Sie auf der Couch und ich alleine mit der Welt!
Ich lasse sie stehen und sperr mich im Bad ein. Auf dem Klo hockend, heule ich gleich wieder los. Die Knöchel meiner Finger drücken mir auf die Augen. Ich balle die Hände zu Fäusten, damit ich mir nicht die verweinten Augen reiben kann.
Mama klopft ungehalten gegen die Tür.
»Agnesa, ich rede mit dir.«
Ich unterdrücke das Geräusch, das sich durch den Knödel in meinem Hals zwängen will.
»Agnesa, ich war noch nicht fertig.«
Am liebsten würd ich laut schreien. Aber ich kenne Mama. Sie will und wird das letzte Wort haben. Meine Finger krallen sich an den Oberschenkeln fest. Ich starre auf die Haut und das Fleisch darunter, das zwischen meinen Fingern durchquillt. Ich starre auf die langen, aber hellen Härchen, die kreuz und quer stehen. Ich denke an die dunklen Haare, die jetzt schon auf Elenis Unterschenkeln und Unterarmen wachsen. Ich denke an Nikos. Wenn man Mama glauben darf, dann will er endlich mit seiner Familie allein sein in der Wohnung.
Später haben Nikos und Mama Streit. Es geht um Eleni.
Mama: »Ich versteh dich nicht, hast du ihr Zeugnis gesehen?«
Nikos: »Hm.«
Mama: »Die Lehrerin hat auch gesagt, ein Gymnasium …«
Nikos: »Hm.«
Je öfter Nikos »Hm« sagt, desto empörter wird Mama. Die Mama kämpft für Eleni, als wäre Eleni ein seltenes Tier, das vom Aussterben bedroht ist … Schließlich springt sie auf und rennt ins Nebenzimmer. Zurück kommt sie mit Elenis Schultasche. Mit sicherem Griff holt sie ein neutral eingebundenes Heft raus.
»Siehst du das nicht?« Langsam und betont zählt sie die Noten ihrer Tochter auf: Eins, Zwei Plus, noch eine Eins. Und ein handschriftlicher Kommentar der Lehrerin, der Eleni für ihre Genauigkeit lobt!
Ich denke daran, wie Mama auf dem Sofa gelegen ist, wenn ich ihr einen Brief von der Lehrerin gezeigt habe. Plötzlich sehe ich, wie sich der Bildschirm in meinem Kopf aufteilt und viele Szenen gleichzeitig gezeigt werden. Mama liegt auf dem Sofa. Alle paar Minuten überprüfe ich, ob sie noch lebt. Eine andere Szene zeigt mich, wie ich mich nach einem Umzug auf dem Weg in die Schule verlaufe und schon wieder zu spät komme. Ich sehe mich, über Hausaufgaben gebeugt. Wie ich Mama meine Schularbeiten hinlege und hoffe, dass es sie endlich mal aufregt. Aber sie war ja immer beschäftigt. Mit sich selbst, mit Nikos und seinen Vorgängern, mit der Schwangerschaft und dann mit den Zwillingen!
Ich schnappe mir Kopfhörer und Handy und will mich in meinem Zimmer verstecken. Auf dem Fensterbrett hockt Dimitris. Seine Hand verschwindet im Mund. Schwer zu sagen, ob er Daumen lutscht oder auf allen Nagelbetten gleichzeitig kaut. Wenn ich auf dem Fensterbrett hocke, hängt ein Teil von mir in der Luft. Wenn er drauf sitzt, ist sogar noch ein wenig Platz für mich übrig. Dabei ist er gar nicht mehr so viel kleiner als ich, nur weniger dick.
»Was los, Dimitris?«
Mit dem Ellbogen deutet er Richtung Lärm. Nikos schreit so laut, dass man ihn auch hier noch gut verstehen kann. Ich habe festgestellt, dass es im Kopf einen Schalter gibt. Wenn man den umlegt, hört man das Geschrei so gedämpft wie die Geräusche vor dem Fenster. Als ob der Lärm einen nichts anginge. Dimitris schaut nicht so aus, als hätte er den Schalter schon gefunden.
Ein Teil von meinem Hintern passt neben Dimitris aufs Fensterbrett. Ich nehme mein Handy aus der Hosentasche. Stöpsel mir das eine Ende der Kopfhörer ins Ohr, das andere geb ich Dimitris.
»Was willst du hören?«
Er zuckt mit den Schultern.
Ich scrolle mich durch meine Playlist, lande bei Nazar. Dimitris feiert den. Ich finde, dass er gut aussieht. Mit den Songs kann ich nicht viel anfangen. Egal, es geht ja gerade um Dimitris. Wir hören Nazar, bis Dimitris die Hand aus dem Mund nimmt. Dimitris hat die schönsten Augen der Welt. Ewig lange Wimpern.
»Weißt du«, sagt er dann, »ich will doch gar nicht weiter Schule gehen. Lieber schnell Geld verdienen. Erst woanders, und irgendwann übernehme ich das ›Poseidon‹. Oder ich arbeite gleich im ›Poseidon‹ … Weiß nicht, warum sich Papa so aufregt. Soll doch die Eleni Schule gehen, wenn sie will. Die interessiert das wenigstens.«
»Wo ist Eleni überhaupt?«
»Draußen. Im Park.«
Ich schaue schweigend aus dem Fenster. Draußen regnet es, nicht stark, aber es regnet.
Plötzlich lacht Dimitris: »Weißt du, Eleni interessiert sich nicht nur fürs Lernen.«
Ich lächle zurück.
»Sollen wir was spielen?«
»Nein, ich glaub, ich schau auch noch raus.«
Er verschwindet, bevor ich ihn fragen kann, wofür genau sich Eleni eigentlich interessiert, da draußen auf der Straße. Egal, ich bin ihre Halbschwester, nicht ihre Mutter.
Ich warte, bis die Tür hinter Dimitris zufällt. Dann stecke ich mir auch den anderen Kopfhörer ins Ohr. Lade ein Video von Beyoncé. Who run the world? Girls! Vor dem Fenster ist das Wetter so unentschlossen wie ich.