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Die Hölle ist eine Karaokebar

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Von der Decke tropft es. Es riecht, als hätte man die Theke mit Angstschweiß abgewischt. Bianca wirkt, als wäre sie plötzlich in einem Paralleluniversum, in dem alle Spaß haben und kein einziges Deo versagt hat. Ist ihre Begeisterung ironisch?

Der Boden ist aus Laminat, dem Twingo Gordini unter den Fußböden. Der Twingo Gordini ist das Auto, mit dem Journalisten der AutoRevue einen Neuwagen vergleichen, wenn sie dir sagen wollen: Fehlkauf.

Ich versuche Biancas magnetischen Augen etwas entgegenzusetzen. Sie funkelt mich an, als wäre ich ein besonders rares Pokemon. Ich beginne zu ahnen, dass mein Optimismus fehl am Platz ist. If ich singe, then hört mich Bianca singen, else findet sie mich feig. Was wird sie dann von mir denken? Bremser, Fadian, zu nerdig für Karaoke. Zu Stockim-Arsch für Spaß.

»Was machst denn du hier?«

Von hinten legt sich eine Hand auf meine Schulter. Hinter mir steht Richard, mein sehr guter Freund und mir grad maximal unwillkommen. Er sollte eigentlich in London sein, Geld machen und koksen mit seinen Buddies von der Hochfinanz. Sein Anzug passt zu der Karaokebar wie ein Porsche zu einem Twingo Gordini.

»Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht mit dir hier.« Richards Hand massiert meine Schulter, als wollte er einen Besitzanspruch geltend machen.

Bianca lächelt. »Wir diskutieren gerade, wer zuerst singen darf.«

Richard grinst mich an, als hätte er an mir ungeahnte Tiefen entdeckt.

»Wusste gar nicht, dass du Karaoke magst!«

Jeder kennt das Gefühl, nicht zu wissen, ob man wach ist oder träumt. Richard und Bianca verstehen sich auf Anhieb. Quälend langsam fährt Richards Finger die Songliste auf und ab. Bianca lächelt und lächelt in seine Richtung.

Bilder von früher tauchen auf. Richard, der mit Andrea, die ich so gut finde, im Freibad in den Umkleidekabinen verschwindet. Richard, der in der Schule von den Jungs und den Mädchen gemocht wird und trotzdem nicht durchfällt. Richard, der mit dem Auto ohne Führerschein erwischt wird, sich aber rausreden kann.

Biancas Augen glänzen, ihre Lippen bewegen sich nicht, so gebannt folgt sie Richards Ausführungen. Reh vor Scheinwerfer. Perseus steht vor Medusa und hat den Spiegel vergessen. Batman, der seine Augen und Hände nicht von Catwoman lassen kann. Ich bin Ice-Man und bleibe erwartungsgemäß hinter den Erwartungen zurück. Aber auch außerhalb der DC- und Marvel-Universen ist Ice-Man kein Held. Wer hat nicht von dem Hacker mit dem Handle Iceman gehört? Der war manisch und risikobereit: ein paar Millionen Payout, aber auch die längste Gefängnisstrafe, die in Amerika zu dem Zeitpunkt über einen Hacker verhängt wurde. Dreizehn Jahre, das ist nicht nur lang, das ist auch eine Unglückszahl.

In meinem Kopf brennt ein Feuerwerk ab. Mehr noch: Das ist Fukushima nach dem Tsunami! Wie sonst ist es zu erklären, dass ich mich mit dem Mikro in der Hand auf der Bühne wiederfinde und keine Ahnung habe, welcher Text gleich auf dem Mitsingbildschirm erscheinen wird. Bitte, lass es nicht »I did it my way!« sein.

Es hat immer Männer gegeben mit hohen Stimmen. Ich rede nicht von Eunuchen. Meinem Schwanz geht es gut, danke der Nachfrage. Denken Sie an den Stummfilmstar, dessen Karriere mit dem Siegeszug des Tonfilms einfach zu Ende ging. Nicht mangelndes Talent, eine technische Entwicklung hat den Verlauf seines Lebens bestimmt. Mit mir war die digitale Revolution gnädiger. Im Cyberspace ist meine Stimme egal.

Weißt du, was Angst ist, Bianca? Zucken in Knien und Schließmuskel. Drohender Kontrollverlust, Angst vor dem kurzen, klaren Moment der Wahrheit. Vor der Klasse stehen und das Referat halten müssen. Einen Auftrag pitchen müssen, ohne zuvor schon per E-Mail meine Kompetenz unter Beweis gestellt zu haben. Auf der Straße einen Menschen nach dem Weg fragen. Ich gebe die Schuld meiner Mutter. In ihrem Bauch haben die Hormone mich geprägt, da war zu wenig Männlichkeit für eine Stimme, die Autorität vermittelt. Und jetzt wieder der Moment der Wahrheit, wenn ich für dich, Bianca, singen will: »I’m burning, burning, burning …«

Und was hört die Welt? Ein Piepsen. Den Glöckner von Notre-Dame von einer Stimme. Ein kleinwüchsiges Monstrum von einer Stimme. Eine Stimme, die im Notfall Glas schneiden kann. Hochfrequent wie irgendwas Hochfrequentes. Für dich will ich singen, Bianca, für dich. Aber wie singen, wenn ich dabei klinge, als machte ich aus einer Eins eine Null.

Aufgekratzt und niedergeschlagen zugleich erreiche ich meine Wohnung. Ich atme erleichtert auf, als ich die Wohnungstür hinter mir zusperre. Man könnte sagen, ich bin ein sehr privater Mensch.

Ich fahre den Computer hoch. Am Bildschirm sehe ich die Ergebnisse einer kurzen Ferndiagnose, die ich routinemäßig über meinen Zweitwohnsitz in Bruck an der Laa laufen lasse. Mein Haus am Land. Mein Vater wohnt dort mit seiner Freundin. Die Lichter im Wohnzimmer sind ausgeschaltet worden. Der Timer für die LEDs im Schlafzimmer meines Vaters, die zur gewünschten Weckzeit einen Sonnenaufgang simulieren, ist gestellt. Die elektronische Morgenröte findet morgen um neun Uhr statt. Das Garagentor wurde heute nicht bewegt. Ich werfe einen Blick auf die Überwachungskamera im Müllraum. Neben dem Müllkübel steht eine kleine Anzahl leerer Weinflaschen. Ich zoome ins Bild: nicht Hermanns Lieblingswein, aber auch kein ganz schlechter.

Ich sehe mich in seinem Tablet um. Als Sohn hat man auch Vorteile. Du brauchst für Admin-Rechte keinen Hack durchführen, weil du den Computer selbst installiert hast. Gesundheits-Apps: Schrittzähler, Blutdruck, alles in Ordnung. Die besuchten Webseiten sind unauffällig: Internetpoker … Dass mein Vater überhaupt noch spielen darf, so oft, wie er gewinnt? Die eine oder andere Pornoseite … Seit einiger Zeit liest er seine Pornos. Ich würde ihn gerne fragen, warum. Aber ich wüsste nicht wie. Im Verlauf von Hermanns Browser finde ich jedenfalls eine Seite mit folgender Geschichte: Eine junge Frau betritt das Büro ihres Chefs … Doch was mühe ich mich mit dem Plot ab. In erstaunlich kurzer Zeit liegt sie mit nacktem Hintern vor ihm auf dem Schreibtisch und zählt die Schläge.

Ich nehme mir vor, Felicitas daran zu erinnern, dass es sinnvoll wäre, wenn Hermann den Pulsmesser nicht nur bei den Spaziergängen und beim Sport trägt. Ich schlafe einfach besser, wenn ich weiß, dass das Herz meines Vaters schlägt. Je mehr Daten durchs Internet schwirren, desto seltener muss ich anrufen.

Danach kann ich immer noch nicht schlafen. Ich klicke mich durch meinen Zoo. Es ist nicht so, dass ich alle Menschen, die ich treffe, ausspioniere. Ich wähle schon aus. ExKunden. Ex-Freundinnen. Leute, die ich zufällig treffe und die mich neugierig machen. Bei manchen geht es mir nur um den Zutritt. Bei anderen bleibe ich hängen, wie früher beim Zappen: mitten drin in der Geschichte, auf der Suche nach dem Augenblick, der mich festhält. Wahllos aktiviere ich Web-Cams und sehe mich um.

Bei Natascha steht Netflix & Chillen auf dem Programm. Der Monitor ist so gedreht, dass ich einen guten Blick auf die Couch habe, auf der sie mit einem mir unbekannten Mann liegt.

Fabian hat Flecken auf dem Pyjama, ziemlich verwaschen ist er auch schon. Um ihn zu ärgern, bestelle ich mit seinem Amazon-Account einen Seidenpyjama. Selbst schuld, wenn er Auto-Login aktiviert hat. Im ersten Moment finde ich es lustig, eine falsche Größe zu bestellen. Das lasse ich aber. Die Idee, ihm zuzusehen, wie er im von mir gewählten Seidenpyjama auf der Couch liegt, turnt mich an.

Um Marion mache ich mir Sorgen. Sie googelt ein bisschen zu oft »Was mache ich gegen Depressionen«. Der Computer ist aktiv, aber es tut sich nichts. Sie klickt nichts an, sie schaut keine Videos, nicht mal Musik spielt sie ab. Es ist dunkel im Zimmer. Sie scheint auf dem Bauch zu liegen, den Kopf auf die überkreuzten Unterarme gelegt. Ich aktiviere das Mikrofon ihres Computers und drehe meine Boxen laut. Ganz leise kann ich ihren Atem hören. Ich lehne mich in meinem Sessel zurück, schließe die Augen. Das rhythmische Geräusch ihres Atmens legt sich auf mich wie der Schleier über die Wahrnehmung, den manche Psychopharmaka auslösen. Genau genommen ist es nicht sexuell, was ich mache. Aber irgendwann habe ich doch meinen Schwanz in der Hand und schiebe meine Hand hin und her.

Du bist dran

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