Читать книгу Seeland Schneeland - Mirko Bonné - Страница 11
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POST AUS PORTSMOUTH
Der junge Mann stand draußen vorm Fenster und winkte, und sie in ihrem Abteil winkte zurück, fröhlich, ausgelassen, sooo nervös, sooo aufgeregt … bis der Qualm der Lokomotive den Mann einhüllte und auflöste zu einem Schemen mit Bärtchen, Hut und patschnassem Staubmantel.
Sie guckte kurz in ihren lila Taschenspiegel, und die Vorstellung, dass sie die Nacht mit diesem Fremden verbracht hatte, erschien ihr beim Anblick ihres verquollenen Gesichts noch unwirklicher. Zu Hilfe, lieber Herr Jesus!
Sie musste an die Szene denken, in der Graf Wronski mitten im Schneetreiben auf einem Dorfbahnhof Anna Karenina zum ersten Mal seine Liebe gesteht. Mit einem Mal aber setzte sich ihr Zug in Bewegung, es gab kein Zurück mehr, und kaum lag die Bahnsteighalle hinter ihr, hatte sie den Winkenden vergessen. Sie war furchtbar. Dachte nur an sich selbst. Auf der Fahrt mit seinem Wagen zum Bahnhof hatte ihr plötzlich sein Name nicht mehr einfallen wollen – etwas, das Anna Karenina mit Alexej Wronski niemals passiert wäre. Unendlich peinlich.
»Schrecklich aber was soll man machen«, schrieb sie in der Interpunktion ihres Herzens und mit ihrer kindlichen Handschrift voller Kreise und Schwünge. »Das Verdeck der blöden Kiste ging nicht zu. Der Regen kam rein u. ich wurde nass u. immer tätschelte er an mir rum. Du hast so schöne Knie. Pfff! Dabei war ich die Sorge selber. Ob ich es pünktlich zum Zug schaffe. Ich glaube dass er O’Neill heißt – Phil – O’Neil oder O’Neary – aber sicher liebste Freundin bin ich mir nicht u. es ist auch absolut ega-hahal. Wenn du ihn triffst lauf bitte schnell weg.«
Sie musste lachen, als sie das schrieb.
Der Zug folgte eine ganze Weile dem Ufer des Severn nach Nordosten, bevor er bei Lydney auf der Eisenbahnbrücke über den Fluss hinüber nach Sharpness und hinein nach England fuhr. Schon nach einer knappen Stunde lag Wales hinter ihr, und auch wenn der Regen nicht nachließ, war sie froh (sie machte die Augen weit auf), Gloucestershire wiederzusehen, wo sie als Mädchen im Sommer bei Freunden ihrer Eltern gewesen war.
Sie aß ihr Lunchpaket, als der Zug in Bristol haltmachte, und sie versuchte ein bisschen zu schlafen zwischen Bath und Warminster, als sie keine Lust mehr hatte, sich mit einer jungen Mutter im Abteil über deren Rotznasen und Quengelbälger zu unterhalten, als gäbe es keine anderen Menschen auf der Welt, nur Kinder und Mütter. In Salisbury stieg die fünfköpfige Meute unter großem Geplärre aus, und sie blieb bis Southampton allein in dem Abteil und las und weinte abwechselnd in der Stille.
»Ich war nicht traurig wegzugehen aus Newp.«, schrieb sie in dem Brief an Regyn. »Hab geheult wie ein Schlosshund weil es schön war South. zu sehen. Als junge Leute hat er immer gesagt war mein Dad mit meiner Mom dort. Sie sahen sich die großen Dampfer an mit ihren Speisesälen u. Swimmingpools u. Promenadendecks. U. jetzt war ich selber dort u. fuhr bald übers Meer!«
Es war bereits dunkel, als sie in Portsmouth ankam. Sie schrieb von dem Gewimmel im Hafenbahnhof. Schottische, irische, englische und walisische Männer jeden Alters riefen wild durcheinander und häuften Hügellandschaften aus Überseekoffern auf den Bahnsteigen an, während die Frauen ihre Kinder oder Enkel zusammenzuhalten versuchten und den Nächstbesten ankeiften, wenn ein Gepäckstück fehlte.
Sie reiste mit einem großen, ganz neuen Koffer und zwei Taschen. In Newport hatte sie einem Schaffner eine Crown gegeben, damit er bis Portsmouth ein Auge auf ihre Sachen hatte, und tatsächlich erinnerte sich der Mann an sie, er lächelte freundlich, als er sie erkannte, weil sie das Bein leicht nachzog. Sie sah das einem Blick gleich an. Er pfiff einen Träger herbei, einen Jungen, der ihr Gepäck in die Halle schleppte (wie eine Ameise). »Ma’am« sagte er zu ihr, deswegen gab sie auch ihm eine Halfcrown.
Sie hätte genug Geld gehabt, um sich in der Stadt bis zum Vormittag, wenn ihr Schiff abfuhr, ein Zimmer zu nehmen, aber dazu war sie viel zu aufgeregt. Diese Erregung wollte sie auskosten und so lange wie möglich unter all diesen Leuten bleiben, von denen sie keinen kannte und die doch alle dasselbe Ziel hatten.
Deshalb wartete sie in der Abfertigungshalle, bis ein Platz auf einer Bank frei war, und holte ihren Koffer und die Taschen nach. Sie legte sich ein Wolltuch um, das ihrer Mutter gehört hatte, wartete, bis die Wärme sie durchdrang, dann las sie ein paar Seiten, und obwohl ihr schwindelig vor Müdigkeit war, genoss sie jede Minute, in der sie sich zugleich ausmalte, was vor ihr lag und was Anna Karenina erlebte.
Viele in der großen Halle ganz aus Stahl und Glas schliefen schon, als ein Gentleman (wie sie zuerst dachte, weil er silbernes Haar hatte und einen Kamelhaarmantel trug) sich zu ihr setzte.
»Na, Miss, wo wächst so eine hübsche Blume?«, fragte er, und sie hörte und roch sofort, dass er getrunken hatte. Ihr Vater hatte so gerochen, wenn er trank, erst Bier, dann Gin, »Bier für den Pegel, Schnaps für die Segel«.
»Weg«, antwortete sie, und es blieb das Einzige, was sie zu dem lallenden und stinkenden Mann sagte, bis der sich seufzend endlich erhob und trollte, weil ihn ein Familienvater auf der Bank gegenüber fixierte und sich dabei räusperte. Der Kamelhaarmann verschwand, er ging auf die Suche nach einer Anderen.
»Armes Ding«, maulte er noch und lachte.
Sie befragte ihren Spiegel. Sie begutachtete ihren Hals, an ihrer Wange vier Sommersprossen und das runde, nicht sehr eng anliegende, etwas kleinere rechte Ohr, das sie nicht mochte.
Auch ein paar Kinder waren noch wach, und die kannten kein Erbarmen. Wie die Spatzen jagten sie durch die Halle. Mitleidlos kletterten sie auf ihren schlafenden Eltern und Geschwistern herum. Sie schienen eine nie versiegende Energiequelle anzapfen zu können. Wie weit es war über das Meer, wollten sie von mühsam wach gerüttelten Erwachsenen wissen. Wie lange dauerte es bis Amerika, wie hoch waren diese am Himmel kratzenden Häuser in New York? Und gab es wirklich noch Indianer dort, die mit Pfeilen schossen? Schossen die auch auf die Pferdetrambahnen und die Leute darin?
»Fährst du mit?«, wurde sie von einem kleinen Mädchen gefragt, das auf einmal vor ihr stand, als wäre es aus dem Fußboden in die Höhe gewachsen. Es hatte blonde, verfilzte Zöpfe, die sich halb gelöst hatten, Sommersprossen, obwohl es noch halb Winter war, »u. es trug einen Mantel grau wie eine Maus«, schrieb sie. »Beinchen guckten aus dem Mantel hervor die in genauso grauen Kniestrümpfen steckten.«
»Geh zurück zu deiner Mutter«, sagte sie tonlos, und dass sie lesen wolle und dann schlafen, auch wenn das nicht stimmte. Keine Sekunde lang würde sie in dieser zugigen Halle voller wildfremder Menschen die Augen zumachen.
Das kleine Mädchen rührte sich nicht. Als wäre es taub, blieb es vor ihr stehen und sah sie mit großen, leuchtend grünen Augen an.
»Kusch!«, machte Ennid. »Hörst du nicht?«
Sie sah sich nach Leuten um, zu denen das graue Geschöpf gehören konnte. Weil sie aber niemanden entdeckte, der das Kind zu vermissen schien, legte sie den Roman beiseite, knipste ihre Handtasche auf und gab sich beschäftigt.
»Was suchst du da drin?«, fragte das Mädchen.
Da sagte der Mann gegenüber, der sich geräuspert und damit den Widerling vertrieben hatte, schläfrig, gedehnt, aber nicht unsanft: »Bixby, lass die Frau.«
Das Mädchen knurrte wie ein merkwürdiges Tier, von dem man so ein Geräusch noch nie gehört hatte. Das Knurren klang nicht bedrohlich, eher enttäuscht – als hätte ihm sein Vater die schon sicher geglaubte Beute weggeschnappt.
»Sweetie, komm her, setz dich hin.«
Sie wandte ihm das Gesicht zu, sah erneut Ennid an und tigerte schließlich hinüber, wo sie sich an die Schulter ihrer Mutter schmiegte. »Noch lange durchbohrte mich die Kleine mit Blicken«, schrieb sie Regyn. »Du glaubst ja nicht was für Augen sie hatte. Man konnte da nicht lange hingucken …«
Aus Langeweile legte sie Lippenstift auf und untersuchte ihr Gesicht in dem Taschenspiegel. Sie dachte an ihre Mutter. Sie dachte, dass Bixby ein komischer Name für so ein kleines Mädchen war, aber dann vergaß sie das Kind wieder.
Zweimal erfüllte Lärm die Abfertigungshalle. Die Türen flogen auf, und herein strömten erst Dutzende, schließlich Hunderte anderer fremder Leute und rissen alle aus dem Schlaf. Die Neuankömmlinge quetschten sich in die Lücken auf den Bänken. Wer keinen Platz mehr ergattern konnte, errichtete für ein paar Stunden sein Lager zwischen herbeigezerrten Koffern auf dem Zementboden. Aus der Nachbarhalle war das Zischen und Keuchen der Lokomotiven zu hören, die lauter vollbesetzte, vollgestopfte Waggons durch die Nacht bis nach Portsmouth gezogen hatten, Männer, Frauen, Alte und Kinder, »alle grau wie Nagetiere vor denen es mir grauste«, schrieb sie. »Am liebsten wäre ich davongelaufen weil ich nicht sein wollte wie die.«
Dann sagte sie sich, dass sie anders war. Ein ganzes Leben lag hinter ihr, aber es lag auch ein neues vor ihr. Sie war jung. Sie war belesen. Und trotz ihrer Beinschiene war sie reizend und begehrenswert. Jeder Mann in der Halle, der allein war, hätte sie gern gefragt, wie sie hieß und wohin sie wollte in Amerika, und dabei wie der Mann mit dem Kamelhaarmantel auf ihre Lippen gestarrt.
Sie hieß Ennid Anjelica Muldoon, sie war die Tochter und die Erbin des ältesten Schiffsausrüsters von Südwales. »Casnewydd« hieß Newport auf Walisisch, und genau das – Casnewydd – war auf dem Heckspiegel des 80-Kanonen-Batterieschiffes zu lesen, das ihr Urgroßvater im Jahr 1773 ausgerüstet hatte. Vielleicht war sie jetzt eine Waise, ein armes Ding war sie jedenfalls nicht. Sie brauchte keinen, der ihr eine leuchtende Zukunft versprach. Weil sie fast zehn Jahre lang an der Seite ihres Vaters alles gelernt und weil ihre Eltern für sie vorgesorgt hatten, besaß sie genug Geld, um sich aus eigener Kraft auch in der Fremde ein neues Leben aufzubauen. Sie würde genau das in Amerika versuchen, zumindest bis sie ihren Kummer vergessen und die Trauer über Mickies Tod und den Tod ihrer Eltern verwunden hatte.
Kaum war die Halle wieder zur Ruhe gekommen – und auch das mausgraue Mädchen endlich eingeschlafen –, nahm sie Papier und Federhalter aus der Tasche und fing an zu schreiben.
»Meine liebe brave herzensgute Regyn! Stell dir vor was ich vorhab«, schrieb sie hastig, mit einem Mal erfüllt von Panik, nicht rechtzeitig fertig zu sein, um den Brief einem Schaffner, einem Matrosen oder wem immer geben zu können, der ihn abschickte nach Casnewydd, nach Newport. »Ich habs wahrgemacht u. sitze tatsächlich umzingelt von lauter schnarchenden Fremden im Einschiffungsbahnhof von Portsmouth. In ein paar Stunden legt mein Dampfer ab nach Amerika u. ob ich je zurück komme weiß ich nicht. Oder doch: zu Besuch u. um vor euch anzugeben – mit Nerz, an den Händen 2 Kinder (mindestens) u. hinter mir meinen Gatten der die Koffer trägt! U. den ich hoffentlich wenigstens ein bisschen so liebhabe wie Mickie …«