Читать книгу Seeland Schneeland - Mirko Bonné - Страница 6
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EIN HUNDEMÜDER SCHWIMMER
Dort, wo wir hingehen, gibt es Bäume, die höher sind als die allerhöchsten Häuser auf der Welt. 20 riesige Männer, die sich an den Händen halten, können um ihre Stämme nicht herumfassen. Meine Eltern erzählen mir alles über das Land, wo wir hingehen, und ich stelle es mir vor! Dort regnet es nicht immer, bloß manchmal, wenn die Blumen und das Gras Durst haben.
Und wir sind dort nicht mehr arm. Mein Vater hat Arbeit, meine Mutter einen Garten und ich ein Pferd, auf dem ich zur Schule reite, wo ich eine Lehrerin habe, die mich nach vorn an die Tafel ruft, damit ich allen zeige, woher ich komme und wie schön man dort lachen kann.
Aber ich werde nicht lachen.
Ich bin übers Meer gekommen, werde ich sagen, ich komme von der Niemandsinsel. Aber jetzt bin ich hier.
Der Ausguck seines Kontorzimmers lag weit oben in der Backsteinmauer, von dort überblickte Merce Blackboro die lebendige Welt. Wo Richtung Nordosten mit der Geschwindigkeit einer fliehenden Schnecke die Dunkelheit aufzog, endete die Reihe halb fertiger, halb schon wieder verfallener Gebäude, während in den letzten Flecken Helligkeit die hier und da unterspülte Kaistraße ins Hafenbecken überging, als würde sie abtauchen und dazu einladen, dasselbe zu tun, jedermann einladen, abzutauchen und zu verschwinden.
Drüben bei den früheren Alexandra Docks, in dem Dunst, den der Regen vom Fluss aufsteigen ließ, machte ein furchtbar rostiger Frachter fest.
Ich bin übers Meer gekommen, werde ich sagen, ich komme von der Niemandsinsel, aber jetzt bin ich hier …
Angestrengt blickte Merce hinüber. Einen Fuß auf dem Boden, den anderen auf dem Sims, saß er auf dem Fensterbrett, der Schriftzug am Bug des alten Kastens ließ sich jedoch nicht entziffern. Ein Weile beobachtete er das Manöver: Das Schiff drehte bei, im prasselnden Regen schwenkten die Ladebäume aus … Der letzte Schlepper der Fergusons, die Lilith, aus deren dickem hellblauem Schornstein Qualm quoll, bugsierte den Frachter an die Kaimauer.
Dann aber musste er eingeschlafen sein. Oder die Zeit an diesem Nachmittag des 21. Februar 1921 war stehen geblieben.
In seinem Innern war da wieder die merkwürdige Kinderstimme, die er seit einiger Zeit hörte, sobald er müde und traurig wurde – oder umgekehrt: sobald die Traurigkeit, die kaum noch nachließ, ihn so erschöpfte, dass er oft mitten am Tag die Augen zumachen musste und einschlief. Zumindest schien ihm das so. Denn zugleich war er wach – er hörte ja die Stimme.
Mit wem redete das Mädchen?
Es klang, als würde ihm eine Acht- oder Neunjährige in einem nicht sehr vollen, hallenden Laderaum etwas erzählen, unaufgeregt, erstaunt eher von dem, was ihr durch den Kopf ging, als von dem, was sie vor sich sah.
Dort, wo wir hingehen, ist der Wald so groß, darin können wir das ganze Leben verbringen, sagt Mommy, und nie werden wir uns fragen, wo der Wald aufhört.
Dort, wo wir hingehen, werden wir für immer bleiben. Da gibt es Flüsse, die geben den Ländern, die sie durchfließen, ihre Namen, und in den Flüssen leben riesige Fische, die von einem Meer zum anderen schwimmen, vom Eis im Norden in die Wärme der Tropen. Mommy weiß, was Tropen sind. Ich stelle sie mir golden vor, glitzernd, wie Inseln in der Sonne.
Ruhig und bedacht sprach das Kind jeden seiner Sätze. Es wirkte älter, wenn man genau hinhörte. Merce hatte keinen Zweifel daran, dass es sich an ihn wandte. Ja! Es war ein so lebendiger Eindruck, dass er sich gar nicht fragte, ob die Stimme bloß Einbildung war oder ob diese kindlichen Monologe von einem Land des Glücks seinen eigenen Wünschen und Träumen Ausdruck gaben, weil er diese vergessen oder verdrängt hatte.
Dort, wo wir hingehen, werden wir für immer bleiben …
Als er aufwachte und wieder hinaussah, lag der rostige Dampfer reglos und stumm im Zwielicht unter der Transporterbrücke. Kein Seemann war an Deck zu sehen. Auch das alte Ungetüm der Stahlbrücke bewegte sich nicht. Nur der endlose Regen rauschte weiter in den Usk, denn auch an diesem Tag strömte der sich durch Newport schlängelnde Fluss nicht Inseln in der Sonne entgegen, sondern war dunkel und unwirtlich wie der Meeresgrund.
Der Usk und der Ebbw, die zwei Nebenflüsse des Severn, in denen er als Kind mit seinem Bruder Dafydd und seiner Schwester Regyn im Sommer nach Krebsen getaucht hatte, waren reißende Ströme geworden. Schlierig grün trat der Ebbw über die Ufer und überschwemmte die Felder zwischen Caldoen und Mynyddislwyn. Von Mai bis August tummelten sich für gewöhnlich Forellen in der Strömung des Usk, den sein Vater so liebte. Leuchtend gepunktet versteckten sich die Fische hinter Steinen, und sobald der Schatten eines Menschen auf der Wasseroberfläche erschien – dem Himmel der Fische –, flitzten sie davon.
Jetzt aber spuckte der Usk schon seit Wochen öligen Morast in die Werften und auf die Kranstraßen.
MONSUN ÜBER DEM WINTERLICHEN SÜDWALES
Auf dem Schreibtisch lag das South Wales Echo. Das Blatt suchte sein Heil in Zynismus. Gefühlig, detailliert und unterhaltsam wurde von Alten und Kindern berichtet, die zwischen Merthyr Tydfil und Swansea in früheren Bächen oder Tümpeln ertrunken waren.
IST DIESER REGEN DIE RACHE DER DEUTSCHEN?
Keinem Reeder, keinem Kapitän, waren sie halbwegs bei Verstand, könne man es verdenken, wenn sich nur noch selten ein Frachtschiff aus Irland oder Übersee den Severn stromaufwärts nach Newport verirre – düster, mit zuckenden Lidern, hatte das sein Vater Emyr gesagt und dabei den weißen Schopf geschüttelt.
Die von Schiffbau und Seehandel lebenden Firmen des alten Blackboro und der anderen Newporter Patriarchen hatten mitgeholfen, die Deutschen in die Knie zu zwingen. Sie hatten den Großen Krieg überstanden, der seit fast zweieinhalb Jahren Geschichte war. In fast jeder Familie hatte in den Jahren seit 1918 die Spanische Grippe gewütet und nicht selten den Firmeneigner oder seinen Erben getötet. Die Dörfer rings um Newport und an der Küste bis Cardiff verwaisten und verfielen, seit immer mehr junge Leute in den Städten Arbeit suchten oder, weil sie nicht fündig wurden, nach Amerika, Kanada und Australien auswanderten. Die Dempseys, Blackboros, Fergusons und Frazers hatten sich allen Widerständen zum Trotz behauptet und hätten nie für möglich gehalten, nach Krieg, Seuche und Landflucht sich Wind und Wetter geschlagen geben zu müssen. Nach drei Monaten fast ununterbrochener Regenfälle waren viele alteingesessene Betriebe mit ihrer Weisheit genauso am Ende wie das Echo.
KAPITULATION VOR WOLKENBRÜCHEN
Immer mehr Herren mit Frack überm Overall zogen sich in ihr Ledersesselkontor zurück, um dem Stammhalter im feinen Zwirn die Abwicklung der Pleite wegen Dauerregens, Überschwemmungen und Wasserschäden zu überlassen.
So weit aber war es noch nicht mit Blackboro & Son, Schiffszimmerer seit 1743. Merce hob das Knie vom Fensterbrett und humpelte, weil ihm das Bein eingeschlafen war, zum Schreibtisch. Er sah auf den Chronometer, den sein Großvater in eine Verdickung der Kirschholzplatte eingelassen hatte: Tisch, Uhr und Opa waren 1865, nachdem die Unabhängigkeitsbewegung gescheitert und das Walisische als Unterrichtssprache verboten worden war, an Bord der Mimosa nach Patagonien gesegelt, um den übervölkerten Kohlebergwerkstälern zu entkommen. 75 Kolonistenfamilien aus Südwales hofften, einen von den Engländern noch unabgesteckten Flecken Erde zu finden. »Biddmyrd os syrfeddod« lautete, nach einem Choral der Mystikerin Anne Griffith, ihr Wahlspruch: »Der Wunder viele werden geschehen.« Und tatsächlich, die Großeltern kehrten zwei Jahre später nach Casnewydd, wie sie Newport noch nannten, zurück, mit ihnen der Tisch aus Kirschholz und mit dem Tisch der darin eingelassene Chronometer.
Der Minutenzeiger zitterte seit 56 Jahren, bevor er auf die nächste Ziffer sprang. Merce konnte sich das Verstreichen der Zeit gar nicht anders vorstellen: Es war kein Verfließen oder Verlöschen, denn immer, am Ende jeder einzelnen Minute, gab es einen Punkt, an dem die Zeit zitterte, als würde sie zögern und aufbegehren, ein kurzes, rebellisches Beben, ehe dann doch alles, was vergehen musste, sich fügte und unwiederbringlich verging.
Er warf einen Blick auf den Brief, den er am Mittag begonnen und irgendwann am Nachmittag liegen gelassen hatte. Er bestand aus einem knappen, freundlichen Schreiben an einen Reeder aus Swansea, von dem bekannt war, dass er vor dem Ruin stand, sowie einer tabellarischen Kostenauflistung. Der Brief schloss ab mit einem Strichmännchen, das einen Vogelkopf hatte und an einer großen Blume schnupperte – die Unterschrift eines offenbar Verrücktgewordenen.
Er trat wieder ans Fenster. Nichts hatte sich getan. Das Kind in seinem Inneren schwieg. Ebenso stumm lag der namenlose Frachter im prasselnden Regen am Kai. Boyo Ferguson, Thronerbe des betagten Schlepperkönigs von Newport, Boyo, das Mensch gewordene Schleppschiff, hatte Woche um Woche einen weiteren Bugsierdampfer aus der Schleppdampfschiffflotte seines Vaters stillgelegt, bis einzig die Lilith übrig geblieben war. Merce war mit Boyo zur Schule gegangen. Der junge Ferguson und er hätten unterschiedlicher nicht sein können. Auf Schultern und Rücken hatte Boyo mehr Haare als er selber am ganzen Körper. Boyo wurde Geschützmatrose auf einem Panzerschiff, Merce dagegen hatte vor dem Krieg Reißaus genommen und war vor sieben Jahren mit Shackleton ins ewige Eis gesegelt.
Verglichen mit den Stürmen, die er auf Elephant Island in der Subantarktis erlebt hatte, war das Windbrausen über Newport ein Lufthauch. Und das ganze Wasser, das seit Monaten aus dem Himmel rauschte, würde kaum mehr als den See füllen, der bei Trelech-a’r-Ryddws unmittelbar an der Küste lag und dessen Wasser schwarz war, auch weil eine Unmenge Aale darin lebten. Als wollte er sich seine Fische zurückholen, rollte der Atlantik gegen die Deiche. Früher, an öden Herbstsonntagen, wenn sie mit Eisenbahn und Fahrrädern nach Trelech-a hinausfuhren, ergriff Regyn immer irgendwann die Panik, die See könnte ausgerechnet in diesem Moment den schmalen Küstenwall durchbrechen und sich die dahinter Schutz suchende Pfütze voller Glasaale einverleiben – eine Angst, die er seiner Schwester nie ganz hatte nehmen können, obwohl er sie besser verstand, als Reg es ahnte. Er fragte sie einmal, wovon sie sich eigentlich derart bedroht fühle. Wer oder was, wollte er wissen, könne ihr so gefährlich werden wie das Meer einer Küste?
»Was wohl?«, erwiderte sie. »Manchmal bist du so ein Idiot.«
Sie trat kräftig in die Pedale und war dann zwei Stunden lang, ohne ein weiteres Wort mit ihm zu reden, vor ihm her gefahren, fast bis zum Stadtrand, während er, einfältig, aber ihr Bruder, überlegte, was oder wen sie mit »Was wohl?« meinen könnte.
War das Mädchen, dessen Stimme er hörte, Regyn?
Apokalyptische Bilder verfinsterten ihm seit Längerem die Bürowochen. Allein saß er im Kontor, kritzelte Vogelfiguren, von denen er nicht wusste, was sie zu bedeuten hatten, auf unabschließbare Geschäftsbriefe, zerknüllte die Blätter, warf sie ins Zimmer und grübelte, ob es gut war, von einem Einsatz auf einem Panzerkreuzer oder in den Schützengräben an der Marne verschont geblieben zu sein.
Regyns erster Mann Herman war nach Frankreich verschifft worden und von der Front nie zurückgekehrt. Ihn dagegen hatten bei Kriegsausbruch der Zufall und der Trotz seiner damals siebzehn Jahre ans vergletscherte Ende der Welt geführt. Er war mit Ernest Shackleton auf der Endurance gefahren, im Packeis war der Dampfsegler zerdrückt worden und gesunken, und etwas tief in seinem Innern, das er niemandem je gezeigt hatte, aber das ihn lange hatte begierig sein lassen auf die Weite und die Fremde jenseits von Südwales, war offenbar in der Antarktis geblieben und dort mit ihrer Dreimastbark verloren gegangen.
Shackletons Ruhm gründete darauf, dass er alle 27 Männer, die 1914 zusammen mit ihm ins ewige Eis aufbrachen, nach 635 Tagen Unauffindbarkeit rettete und zurück in die zivilisierte Welt brachte – wo einige schon nach wenigen Monaten in dem Krieg, der die zivilisierte Welt verheerte, elend zugrunde gingen.
An Shackletons Ruhm änderte das nichts. Und dennoch beschlich Merce – der erst sein Küchenjunge, dann sein Steward und Adjutant, schließlich sein Assistent gewesen war – immer öfter der Verdacht, dass von seiner in so jungen Jahren in Stücke gegangenen Person nicht alles aus der Antarktis zurückgekehrt war. Irgendein bedeutsames Bauteil seines Gemüts musste im Packeis des Weddellmeers, auf der felsigen Elefanteninsel oder den Gletschern von Südgeorgien zurückgeblieben sein.
An seinem Kontorzimmerfenster sitzend fragte er sich einmal mehr, was es sein konnte – Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Lebensantrieb, ein Lebensziel? Nur Shackleton war der Lösung dieses Rätsels nahegekommen, und auch bloß einmal. Im vergangenen Jahr hatte Sir Ernest auf einer Vortragsreise Newport besucht und während eines Small Talks an seinem Wagen zu ihm gesagt, er solle nicht vergessen, wer ihn gerettet habe: Niemand habe Merce Blackboro gerettet außer Merce Blackboro selbst.
Selbst dem ruhmreichen Sir nahm er das nicht ab. Nur dass sie zusammenhielten und nicht aufgaben, hatte ihn und die anderen vor dem sicheren Erfrieren bewahrt – der Rest war eine aberwitzige Aneinanderreihung absurdester Zufälle.
Er hatte seine Schwester nie danach gefragt, irgendwann aber war er überzeugt gewesen, dass Reg mit ihrem »Was wohl?« in Trelech-a’r-Ryddws nur das Leben gemeint haben konnte.
Wenn es ein Meer war, dieses Leben – unergründlich, unbeherrschbar, das Reich der Kraken, Seeleoparden und Haie, das gefräßig Schiffe und Küsten verschlang, wie es sich auch selbst verschlang und dabei doch das blieb, was es seit Urzeiten war, der Hort allen Werdens und Vergehens –, dann konnte er in diesem Albtraumatlantik nur ein hundemüder Schwimmer sein. Der Labrador Checker, der durch den Ärmelkanal schwamm, dürfte, als man ihn an einem Strand bei Calais aus dem Wasser zog, nicht so müde gewesen sein. Merce war 24, ein blasser junger Mann ohne besondere Merkmale außer den Narben von Frostbeulen. Er blickte in den Regenhimmel. Er würde eine der ältesten Firmen in einer versinkenden Stadt erben. Er war der letzte Blackboro.
So wie die Fische in den Flüssen ziehen am Himmel die Wolken dahin, unendlich viele riesig große Wolken, lauter Schwärme aus Wolken, sagt Mommy. Hast du so was schon gesehen?
Ja, solche unerklärlich lebendig wirkenden Wolkenschwärme hatte er über dem Weddellmeer gesehen und nie mehr vergessen.
Zwischen den Wolken silbern glänzend tauchte eine Dreipropellermaschine auf und verschwand dann wieder, wie ein Fisch in der Strömung.
Er habe Liebeskummer, hieß es, und höchstwahrscheinlich stimmte, was seine Mutter und seine Schwester, die Erfahrung in Liebesdingen hatten, behaupteten. Ja, er gab es zu: Er hatte immer nur sie geliebt, das eine Mädchen, das jetzt eine Frau war und mindestens so unglücklich wie er. Kummer, das wusste er, konnte keine Grundlage für das sein, was zwei Menschen miteinander verband, zumal wenn es in Wahrheit eine Schwermut war, der nicht mal er selber über den Weg traute. Keiner in seiner Familie war schwermütig. Warum er? Wieso hörte er dieses Kind?