Читать книгу Seeland Schneeland - Mirko Bonné - Страница 12
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TRIBUNAL
Sein Bruder war vielleicht acht gewesen und er sechs, als einen ganzen Sommer lang vom Vertiko ihrer Mutter Woche für Woche immer zwei Apfelsinen verschwanden. Zwei neue wurden dazugelegt, doch schon wenige Tage später fehlten erneut zwei.
Gwendolyn Blackboros auch damals schon betagte Zugehfrau Miss Ings, die zweimal die Woche kam, wusste von nichts, stritt jede Beteiligung ab und bezichtigte stattdessen die beiden Jungs. Dafydd und Merce hielten zunächst zusammen, verdächtigten einander dann gegenseitig, und Regyn gab sich empört – bekam Schnappatmung und rannte aus dem Zimmer –, als ihr Vater sie fragte, ihr nachrief, ob sie, unter Umständen, »nun sag schon, sweetheart, hast du, ich meine, rein zufäll…«
Aber der Apfelsinendieb konnte nicht ermittelt werden. Keiner wollte es gewesen sein, und was das Seltsamste war: Weder das Wegschließen des Obstes im Schrank noch das Verschließen, ja Verbarrikadieren des Esszimmers verhinderte die Fortsetzung des Mundraubs. Spurlos lösten sich Südfrüchte im Haus Blackboro in Luft auf, und nie, niemals wurde auch nur ein Fitzelchen Schale gefunden.
Das Apfelsinenmysterium hatte das erste Familiengericht nach sich gezogen, ein Tribunal, das zwar keinen Täter überführte, das jedoch seither mit schöner Regelmäßigkeit im Esszimmer zusammentrat, sobald es im Haus Unstimmigkeiten gab. Der Räuber gab sich zwar nie zu erkennen, aber alle wussten, dass er – oder sie! – einer – oder eine! – von ihnen sein musste, verschwand doch seit Einsetzung des Tribunals keine einzige von Argusaugen bewachte Apfelsine mehr aus der blauen Schale auf dem Früchte vertilgenden Vertiko.
Reg hatte Herman noch nicht gekannt, 16 war sie gewesen, als ihr Vater sie in der Florentine Road in flagranti dabei ertappte, wie sie sich am helllichten Tag von einem Fremden auf den Mund (sie sagte: Mundwinkel) küssen ließ – in der zugeknöpften Zeit vor dem Krieg nicht bloß unschicklich, sondern eine absolute Unmöglichkeit.
Der Fremde, stellte sich heraus, war ein Matrose (»immerhin«), war weder Waliser noch (»lobet den Herrn!«) Engländer. Er verschwand wieder, wie er gekommen war, nahm seine Herkunft und seinen Namen mit, und doch brauchte Regyn zwei volle Jahre, um ihn zu vergessen.
Sie hatte ihn nie wiedergesehen.
Im selben Sommer – dem »Sommer des Kusses in der Florentine Road« – brannten Dafydd und Merce von zu Hause durch. Sie liefen auf den Gleisen fast bis Lydney, sprangen mehrfach erst beiseite, kurz bevor die Lok vorbeiraste, und schliefen in einer aufgegebenen Weichenstellerbaracke. Nach zwei Tagen kamen sie spät am Abend zerschunden zurück nach Pillgwenlly, wo unverzüglich das Gericht zusammentrat. Nie wieder schmeckte Merce ein Abendbrot so köstlich wie die Henkersmahlzeit, die Miss Ings damals Dafydd und ihm auftischte.
Seit den Apfelsinen war die Rolle des Richters in Familienauseinandersetzungen stets seiner Mutter zugefallen. Gwen Blackboro lagen selbstherrliche Urteile fern, nach ihrer Überzeugung bestrafte einen Missetäter das Leben. Jedoch musste den Kindern auf deren verblendeter Suche nach dem richtigen Weg geholfen werden. Ob es um das Durchbrennen ihrer Söhne ging, deren gedankenloses Katz-und-Maus-Spiel mit herandonnernden Lokomotiven oder, kaum weniger gravierend, einen Kuss ihrer halbwüchsigen Tochter vor aller Welt Augen – in einem Gewirr aus in die Irre führenden Wegen mussten die Kinder den einen, zwar steinigen, aber einzig richtigen Weg finden, den keiner kannte außer der liebe Herrgott und, zum Glück, sie, ihre selbstlose Mutter.
Anschuldigungen führten in ihren Augen zu gar nichts. Das sah ihre Tochter, inzwischen selbst Mutter, anders. Regyn deutete das Verhalten ihres kleinen Bruders nach dem neuesten, im Tatler ja breit diskutierten Trend psychologisch, sie sah darin eine verirrte Selbstverliebtheit, eine »narzisstische, selbstzerstörerische Manie«. Den Namen der Person, die ihr Bruder irrigerweise anhimmelte, den Namen ihrer Freundin nahm sie nicht in den Mund.
Dafydd dagegen sah seinen Bruder vor allem als Opfer. Er jage einem hinkenden Phantom nach, das nach Amerika ausgewandert sei, hoffentlich für immer.
»Merce!«, schien Dafydd zu rufen, »Bruderherz, komm zu dir … komm zurück auf den Boden der Tatsachen!«
Die Ankläger, die die Höchststrafe für Merce Blackboro forderten (Herzausreißen), waren also seine älteren Geschwister, ein Duo, gegen das der Pflichtverteidiger des Delinquenten, ein erschöpfter, gütiger Herr (Dad), nur dann etwas auszurichten in der Lage war, wenn er trickreich vorging.
25 Jahre lang waren Bruder und Schwester des Angeklagten so gut wie nie einer Meinung gewesen. Sobald es aber um diese Person ging, hatten Dafydd und Regyn alle ihre Differenzen vergessen und stimmten sogar darin überein, dass in all den Jahren seit den gemeinsam in der Kinderbadewanne verbrachten Abenden sie stets nur entzweit worden waren durch diese eine Person, diese nichtsnutzige, anmaßende, verlogene, verschlagene, diese sich immerzu für etwas Besseres haltende Ennid Muldoon.
Alle Hoffnungen des Beklagten ruhten auf dem Seelengutachter in dem Verfahren, William Lincoln Bakewell, der nicht nur sein Schiffskamerad, Freund, Schwager und ein großer Liebender war, sondern zudem US-Amerikaner: Bakie stammte zwar nicht aus New York, wo ja die allermeisten Auswanderer anlandeten, immerhin aber kam er aus Joliet, Illinois, war er von dort auch schon mit elf abgehauen.
Bakewell verstand sich als Exil-Amerikaner. Fünfzehn Jahre lang war er zur See gefahren, in dieser Zeit hatte er sich als Meeresbewohner gesehen, und die Liebe hatte ihn nach Südwales verschlagen, seither war seine Heimat Regyns Herz.
Fragte man Bakie, woher sein Akzent kam – Belfast? Derry? Sligo? –, so sagte er bloß: »Bin Yankee.«
Das Tribunal trat im Esszimmer zusammen, am Abend des 27. Februar 1921, desselben Sonntags, an dem am Morgen im Anschluss an das traditionelle Familienfrühstück Merce dabei erwischt worden war, wie er im Zimmer seiner Schwester einen an sie gerichteten Brief nicht nur gelesen, sondern (es gab Spuren) Tränen darüber vergossen hatte.
Das war das Delikt.
Doch die Anklage war eine viel umfassendere.
Aus Mangel an Blackboro-Nachwuchs gab es nur die Hälfte der üblichen zwölf Geschworenen. Willie-Merce wurde für zu jung befunden und ins Bett geschickt (wo man ihn nach Mitternacht am Fußende fand, selig schnarchend zusammengesunken über lauter Bauklötzen). Die sechs Wachgebliebenen hatten zu entscheiden, was geschehen sollte. War Merce überhaupt zurechnungsfähig?
Um die ovale Mahagonitafel versammelten sich dieselben, die auch als Richterin, als Anklägerin und Ankläger, als Verteidiger und als Gutachter fungierten. In Emyr und Gwen Blackboros Haus in Pillgwenlly ging es gerecht zu, deshalb erhielt auch der Beschuldigte ein Stimmrecht. Man setzte ihn zwischen Mutter und Schwester, vor der das Beweisstück und dessen Kuvert lagen. Unbeteiligt blickte er zur Decke, ins Gefunkel des Kronleuchters dort, den er schon als Junge jedem Sternbild vorgezogen hatte, und lauschte der Stimme seiner Mutter, als sie begann, Ennids Brief vorzulesen: »Meine liebe brave herzensgute Regyn …«
Sie sah Reg an. »Sag mal, sie hat eine ziemlich eigensinnige Zeichensetzung, oder?«
Aber seine Schwester ließ sich jetzt nicht mehr bremsen.
»Es geht nicht darum, dass du ohne meine Erlaubnis einen Brief liest, den sie mir geschrieben hat, nicht dir!« Mit zwei spitzen Fingern zog sie ihrer Mutter den Brief aus der Hand und schob ihn in die Tischmitte. »Ich hätte ihn dir sowieso gezeigt!«
»Hättest du? Wieso?«, fragte ihr Vater mit in die Stirn gezogenen Brauen.
»Weil ich Merce von dem Brief schon erzählt habe. Und weil der Brief deutlich macht, was wir alle seit Jahren wissen, nur mein Bruder nicht wahrhaben will.«
Mit kleinen, geröteten Augen, weil er auch sonntags in seiner Werkstatt arbeitete, sagte Dafydd: »Diese Frau empfindet nichts für dich. Regyn hat recht.« Er gähnte. »Wir wollen, dass du dich nicht unnötig unglücklich machst.«
Konnte man anders als unnötig unglücklich sein?
»Bist du unglücklich?«, wurde er von seiner Mutter gefragt. Sie trug ihr dunkelblaues Sonntagskleid mit den großen weißen Blüten, die ihm schon immer gespenstisch vorgekommen waren, dazu um die Schultern eine Stola, die er ihr geschenkt hatte, zu einem lange vergangenen Weihnachtsfest. Es war ihr ernst mit der Frage, geduldig wartete sie auf seine Antwort.
Er saß da, mit weit geöffneten Augen, den Rücken durchgedrückt, die Hände im Schoß, und erwiderte nichts. Hinter sich hörte er den Regen an die Fensterscheiben schaben. Er rechnete nach, wie lange sie weg war, überlegte, wie viele Tage der Dampfer bis New York benötigte und ob er vor der Überfahrt wohl noch einen europäischen, vielleicht sogar weiteren britischen oder irischen Hafen anlief.
Die dicke Wochenendausgabe des South Wales Echo, die Dafydd mitgebracht hatte, lag auf dem Tisch. Er versuchte, unter »Vermischte Meldungen« zu lesen, was in der Rubrik über Ennid berichtet wurde, aber es gelang ihm nicht. Die Schrift der Klatschspalte war zu klein, als dass er sie verkehrt herum hätte entziffern können.
»Ich bin ja nur eine dumme Kuh und kenne mich nicht aus«, sagte Regyn und blies demonstrativ Luft aus. »Aber nach dem zu urteilen, was ich über Leute wie dich gehört habe, solltest du vielleicht überlegen, dich behandeln zu …«
»Papp, papp, papp«, unterbrach sie ihre Mutter. »Kannst du dich erinnern, dass einer dich aufgefordert hat, Dr. Webster oder einen von diesen neumodischen Seelenfritzen aufzusuchen, als du uns zwei Jahre lang Abend für Abend diese Tischplatte vollgeweint hast? Ich glaube nicht, Schatz.«
»Mein Mann ist in den Krieg gezogen, und er ist nicht wiedergekommen, Mom, ich hatte ein Baby von ihm zur Welt gebracht und war allein damit.«
»Alle hier wissen wir, wie sehr Hermans Verlust dir zugesetzt hat«, erwiderte Gwen Blackboro ruhig, mit verständnisheischendem Blick hinüber zu Bakewell. »Aber du warst nie mit Willie-Merce allein, zu keiner Stunde, und genau das, Herzchen, ist der Punkt. Ebenso wenig wird euer Bruder alleingelassen, wenn er Kummer hat. Und eine unglückliche Liebe bedeutet Kummer. Ich jedenfalls lasse es nicht zu, dass mein Sohn zu einem pathologischen Fall erklärt wird. Euer Vater und ich waren und sind hier einer Meinung. Daran wird sich nichts ändern. Mr. Blackboro?«
Alle Blicke, auch die des Beklagten, hoben sich, denn plötzlich war sich jeder des Ernstes der Lage bewusst. Nur in wirklich gravierenden Fällen griff Gwen Blackboro zur formellen Anrede ihres Gatten. Das kam höchstens einmal in zwei Jahren vor. Die Blicke wanderten hinüber, gespannt auf Mr. Blackboros Reaktion.
»Absolut«, sagte er und strich sich ein weißes Haarbüschel glatt, das ihm schon den ganzen Morgen vom Kopf abstand. Die Geste verlieh ihm etwas erstaunlich Würdevolles. Für Sekunden wirkte er wie ein greiser, weiser Monarch.
Kurz darauf wechselte er die Rolle, was aber kaum auffiel. Beide von ihm verkörperten Funktionen, die des Verteidigers seines Jüngsten und die des Gatten der Richterin, nahm er gleich ernst. Er knetete seine Hände. Er war ein Mann der Tat, und Worte waren in seinen Augen keine Taten, so wenig wie sie aus Holz waren. Außerdem war es Zeit für seinen Abendbrandy, aber der rückte, so wie die Dinge lagen, eher in die Ferne, als dass er näher kam.
»Absolut, absolut«, wiederholte er. Merce sah kurz in das schöne Gesicht seines Vaters, durch das inzwischen tiefe Falten liefen. Es sah aus wie die lebende und sich bewegende Landkarte seines Reiches.
Angesichts dieser bedingungslosen Zustimmung ergriff Dafydd das Wort, und der Tonfall seines Bruders, mit dem der anhob und »Es ist nur so« sagte, verriet allen, dass es nun um die Arbeit, das Kontor, die Firma, das Auskommen der Familie und ihrer folgenden Generationen ging. Ab und zu warf Merce einen Blick hinüber, während sein Bruder redete, und betrachtete dessen große Nase mit dem feinen Kranz aus geplatzten Äderchen auf dem Rücken, die Stirn, wo das Haar licht, und die Augenwinkel, wo die Krähenfüße Jahr für Jahr deutlicher wurden.
Sein Bruder wäre gern Flieger geworden, hatte aber stattdessen die Maschinen von Flieger-Assen mit Maschinengewehren bestückt. Nach dem Krieg hätte er gern Automobile konstruiert und gebaut. Dafydd hatte auf Basis eines Vauxhall Prince Henry Torpedos einen Blackboro No. 1 mit seitengesteuerter Vierzylinder-Reihenmaschine entworfen, doch zur Umsetzung seiner Entwürfe war es nie gekommen, und keiner verstand recht, weshalb. Er hatte Mädchen gehabt, gar nicht wenige, aber nie eine feste Freundin oder gar Verlobte. Was in Dafydd Blackboro vor sich ging, wusste niemand in Südwales, niemand in Newport und keiner in der Familie, auch ihre Mutter nicht, am wenigsten aber sein kleiner Bruder.
»Es ist nur so, dass hier nicht die Antarktis ist«, begann er also. »Kein Shackleton und kein Tom Crean wird mit einem umgebauten Beiboot übers Meer gesegelt kommen und uns retten. Für unser Wohl, unser Essen und ein Dach überm Kopf müssen wir selbst sorgen, und, Dad, bei aller Liebe, wir sollten alles dafür tun, dass die Firma überleben kann.«
Reg pflichtete ihm bei: »Das meinte ich. Wie soll Merce in ein paar Jahren das Ruder übernehmen, wenn ihn niemand aus diesem Loch holt?«
»Weshalb, was meinst du, Herzchen, sitzen wir hier zusammen?«, fragte ihre Mutter.
Herzchen habe keinen blassen Schimmer, erwiderte Regyn.
»Sag du’s mir, Mom!«
Einige Sekunden lang blickten sich die Frauen über den Mahagoniglanz hinweg an. Keine der beiden sagte etwas, und in dem betretenen Schweigen, das zwischen Eskalation und Versöhnlichkeit entschied, fiel Merce unvermittelt etwas ein, an das er lange nicht mehr gedacht hatte: Berge in der Küche. Wenn früher Gäste zum Essen da waren und Dafydd, Reg und er noch Hunger hatten, sagte ihre Mutter entweder »In der Küche ist noch jede Menge«, was bedeutete, dass erst die Tischgäste gefragt wurden, ob sie einen Nachschlag wollten, denn es war nicht genug für sie und die Kinder da, oder aber sie sagte freudig: »In der Küche gibt es Berge, holt euch, Kinder. Es gibt Berge!«
Ihr Vater sagte in die Stille: »Nicht noch mehr Streit, bitte. Seid friedlich. Es ist Sonntag, auch für Mom und mich. Gwenny?«
Ihre Mutter nickte.
»Reg-Schatz?«
Regyn blickte indigniert, aber kaum merklich nickte sie.
Und Dafydd sagte: »So ist es im richtigen Leben. Nicht die Eisberge sind das Problem.«
Endlich meldete sich Bakie: »Eisberge sind auch in der Antarktis nicht das Problem.« Er sah Dafydd an. Und so, als wäre er allein mit ihm, erläuterte er ruhig: »Sie treiben. Sie ziehen durchs Wasser. Sie lösen sich auf. Manchmal dauert das Jahre. Einige sind größer als Cardiff, größer als Chicago. Solange ihnen ein Schiff nicht zu nahe kommt, sind sie ungefährlich. Gefährlich im Eis sind der Wind, weil er so schwankt, die Temperatur, die bis auf minus 80 Grad sinken kann, und die Dunkelheit, die monatelange Nacht, Dafydd. Gefährlich ist eigentlich kein Ausdruck dafür. Denn falls man ihnen entkommt – dem Wind, der Kälte und dem Dunkel –, falls sie einen am Leben lassen, vergisst man sie nicht mehr. Man hat sie dann in sich und trägt sie mit sich rum, so lange man es aushält.«
Dafydd behielt seinen Schwager fest im Blick, während der erzählte, er hörte Bakie zu, und dabei erschien an seiner Schläfe eine dicke blaue Ader, die seine Erregtheit verriet.
Aber er erwiderte nichts.
»Diese Höllenfahrt, von der Merce und du zum Glück heimgekehrt seid, liegt lange zurück«, sagte stattdessen ihre Mutter.
Ihr warmer Blick ruhte auf ihm, doch sie unterhielt sich dabei weiter mit Bakewell, der am anderen Tischende saß und nun seinerseits nickte.
»Juli ’16. Bald sind es fünf Jahre, Gwen.«
»Willst du ernsthaft behaupten, William, der Kummer meines Sohnes geht auf diese verfluchte Endurance-Expedition zurück?«
»Als wäre das was Neues! Bei Billy ist es doch dasselbe!«, platzte Regyn dazwischen, nuschelnd, weil sie eine Haarnadel zwischen den Lippen hielt. Auf dem Kopf suchten ihre Hände nach aus der Verankerung gegangenen Strähnen. »Alle, die mit diesem Irrsinnigen gefahren sind, hat er in seinen Bann gezogen und für den Rest ihres Lebens verdorben mit Bildern, die sie nicht mehr loswerden.«
»Ein Irrer, Liebling, ist Shackleton wirklich nicht. Man kann ihm viel nachsagen, doch er hat uns alle gerettet, selbstlos …«
Sie prustete. »Selbstlos! Gerettet! Ohne ihn wäre doch keiner von euch überhaupt nur ins Eis gefahren!«
»Jahrelang hat er nicht aufgegeben, bis auch der Letzte von der Elefanteninsel gerettet wurde«, sagte Bakewell besonnen und lächelte versöhnlich. Woher nahm er die Besonnenheit? Was war er für ein Draufgänger, was war er jähzornig, ungerecht, verschlagen und hartnäckig gewesen, der wundervolle Bakie von früher.
»Der Krieg hat mich verschont«, sagte er, als hätte er Merce’ Gedanken gelesen. »Ich bin glücklich verheiratet. Ich habe eine Frau, die ich liebe, eine Familie, ich reise und verdiene als Reisekaufmann so viel, dass ich mir Dinge leisten kann, von denen ich schon als Kind geträumt habe. Alles das hat Merce nicht.«
Das stimmte. Daher wusste Merce auch, worauf sein Freund anspielte. Bakie redete seit anderthalb Jahren davon, ein amerikanisches Motorrad mit Beiwagen kaufen zu wollen, und kürzlich hatte er es wahrgemacht und die Maschine in Ohio bestellt. Noch wusste Reg nichts davon.
Alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet, und er glaubte sie zu spüren, Bakewells, Regyns, Dafydds Blicke, die Blicke seiner Eltern und selbst die von Miss Ings, die zur Tür hereinsah, um zu ergründen, ob sie endlich Tee und die Pies auftragen konnte.
»Er verdient genug«, sagte ihr Vater. »Genug für eine eigene Familie, aber auch für eigene Ansichten.«
»Und er wird die Firma übernehmen, weil ich eine eigene habe«, fuhr Dafydd unbeirrt fort. »Er wird sie leiten, so wie ich meine leite, wenn er nur erst die Bilder von Eisbergen, Polarnächten und dem ganzen weltfremden Unfug loswird.«
»Bin ich eigentlich gestorben und habe es nur nicht mitbekommen?«, fragte Emyr Blackboro.
Regyn rief: »Dad!«
Und Dafydd sagte: »Miss Muldoon ist so ein Bild, das Merce nicht loswird. Wer das bezweifeln will, melde sich bitte.«
Keiner sagte etwas.
Also fuhr sein Bruder fort, wenn auch in anderem Ton: »Übrigens fallen mir auf Anhieb fünf junge Damen ein, die nur darauf warten, dass Merce –«
Reg riss die Augen auf. »Wer denn, ha? Gonryl Frazer?«
»Zum Beispiel.«
»Lass mich sterben, bitte, lieber will ich sterben.« Sie ließ ihr schnappendes Lachen hören.
»Du kannst nicht bestreiten, dass sie eine Erscheinung ist.«
»Gonny eine Erscheinung, sonst noch was? Eine Göttin?«
»Jedenfalls eine ziemlich gute Partie.«
Gonryls Vater Hugh verkaufte und vermietete Lastwagen und war damit steinreich geworden. Überall in Südwales fuhren gelbe Frazer-Lastwagen herum. Man konnte keine Stunde am Ufer des Severn verbringen, ohne dass so eine viereckige Sonne auf der Straße zwischen Undy und Portskewett langrumpelte.
»Dafydd! Gonryl Frazer ist meine Freundin, sie ist reich, ja, und energisch, ja, leider aber ist sie auch hirnlos wie … ein Lastwagen!«
So ging es weiter. Regyn stichelte, Dafydd gab sich altväterlich, sie gerieten aneinander und versöhnten sich, nur um wieder von vorn zu beginnen.
Er saß da, hörte ihnen zu und verfolgte stumm, wie ihr Vater aufstand und sich von Stuhllehne zu Stuhllehne zu dem Vertiko hinübertastete, das bereits Großmutter Bronwen, Urgroßmutter Enfys und Ururgroßmutter Gwladys gehört hatte. Noch immer lag dort in derselben blauen Steingutschale mit den zwei weißen Emailledrachen das Obst. Auch die Anrichte war ein Erbstück aus den guten Zeiten in Pontyprydd, als ihre Familie noch Söhne hervorgebracht hatte, die heirateten und Kinder zeugten, die wiederum heirateten und Kinder zeugten, und so weiter bis zum heutigen Tag, an dem unvermittelt zwei wie Dafydd und Merce am Tisch saßen, missmutig und verschlossen der eine, traumtänzerisch und vernarbt der andere. Aus der Art geschlagen waren sie beide.