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DAS MUSEUM IN DER SKINNER STREET

Hatte er wirklich Liebeskummer, so wie seine Eltern, seine Geschwister und sein Schwager und bester Freund Bakewell behaupteten? Ihm wäre nie eingefallen, seine Traurigkeit so zu nennen. Er liebte Ennid. Vielleicht also hatte er Ennid-Muldoon-Kummer. Doch stärker als der war in jeder Sekunde die Liebe zu ihr.

Wenn er gegen Mitternacht das Licht löschte und sein Kopf auf das Kissen sank, lauschte er noch eine Weile auf die Geräusche des nahen Hafens. Sie drangen durch den schmalen Fensterspalt, aber es dauerte nie lange, bis pochende Stille das ferne Tuten eines Nebelhorns und das Gehämmer von Dockarbeitern überlagerte. Ab da war er allein mit dem Dunkel, allein mit den Gedanken, die ihn an diesem Tag umgetrieben hatten, und nur wenn er die Lider schloss, tanzten noch, wie Schwärme von Tiefseefischen, bunte Bilder an seinen Augen vorüber, so lange, bis er sich auf etwas konzentrierte, das ihren Ansturm abwehrte.

Zwei Zimmer, das eine mit Bett, Stuhl und Schrank, das andere mit Tisch, drei weiteren Stühlen und einer Waschgelegenheit, auf dem Korridor die Abseite mit dem Klosett, das er sich mit seiner Wirtin teilte, die Witwe war und ihm die Wäsche wusch … er hatte diese erste eigene Bleibe von dem Moment an gemocht, seit er letzten Sommer in Pillgwenlly ausgezogen war und Dafydd ihn und seine Habseligkeiten mit einem so riesigen Automobil hier abgesetzt hatte, dass es die ganze Skinner Street verstopfte.

Immer wieder musste er sich klarmachen, dass sie keine Zufälle waren, diese Zimmer, dieses Bett und seit einem halben Jahr des Nachts auch er selber hinter einem Fenster hier, das auf die uralte Gasse hinaussah. Kopfsteinbepflastert, baumlos und farblos bis auf ein verblichenes Wappen überm Hauseingang schräg gegenüber, führte die Straße zum Hafen hinunter. Das Wappen zierte Newports ältesten Pub, der nach Lord Gruffydd ap Rhys hieß, angeblich weil der 1176, als Südwales noch Königreich war und Deheubarth hieß, dort mal übernachtet hatte. Aber »Skinner«? Hatten früher Kürschner in der Straße ihre Werkstatt gehabt, oder war hier ein Abdecker gewesen? Am Ende der Skinner Street, wo sie auf den von Platanen bestandenen Cardigan Place mündete, hatte der alte Muldoon gewohnt und sein Geschäft betrieben, bis der Schiffsausrüster kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe starb. Er hatte in Quiltyn Muldoons Laden dessen Tochter kennengelernt, und im ersten Stock des ganz mit grünen Blechplättchen beschlagenen Hauses oben auf dem Platz, nur einen Steinwurf entfernt, wohnte Ennid noch immer.

Das kleine Mädchen, das er manchmal hörte und das ihm immer wieder überraschend etwas von sich und einer ungewissen Zukunft, von Enttäuschungen, Wünschen und Träumen erzählte – war das Ennid als Kind?

»Mach eine Liste«, sagte er sich, um die herbeischwirrenden Bilder von ihr zu vertreiben. »Sag dir in Gedanken, was du außerdem liebst.« Denn sie konnte jeden Moment durch die Skinner Street gehinkt kommen – sie zog ein Bein leicht nach, jeder zweite Schritt klang verzögert –, noch spätnachts, weil sie Freunde hatte und viel unterwegs war. Schon klappte er im Dunkeln die Lider auf wie ein seit 100 Jahren nicht mehr lebendiger, ebenso wenig aber toter Vampir, vor dessen Fenster die Lichtkegel eines Wagens vorbeistrichen, Indiz dafür, dass ein Mensch aus Fleisch und Blut am Steuer saß.

Eng war es in den zwei Räumen. Die alten Tapeten warfen Blasen, die Durchgangstür ließ sich nicht richtig schließen, und so roch es in Mrs. Splaines Haus beständig leicht muffig, seit Wind und Regen das Lüften verhinderten. Mrs. Cyprian Splaine schien das nicht zu stören. Sie hatte ihren Mann gepflegt, bis er an seinem Zucker zugrunde ging, und teilte sich nun mit ihrer Kartäuserkatze den Rest der Wohnung, in dem ein noch weitaus schlimmerer Geruch herrschte.

Doch gerade diese Enge mochte er an den zwei Zimmern, ja war es nicht sogar so, dass ihm sein Refugium umso besser gefiel, je weniger Platz er darin hatte? Mit kaum mehr als zwei Koffern voller Wäsche, einem Overall und Manchesteranzug, dem Fahrrad, einem Bücherpaket und der Nachttischleuchte, die seinem Schwager Herman gehört und die Regyn ihm überlassen hatte, war er bei Mrs. Splaine eingezogen. An dem zum Möbelwagen umfunktionierten Ungetüm von Cabriolet hatte Dafydd nicht mal das Verdeck öffnen müssen.

In den acht Monaten seither hatten sich die Zimmer gefüllt. Von seinen sonntäglichen Besuchen in Pillgwenlly kehrte er nie mit leeren Händen in seine Bude zurück – obwohl er noch immer über fast jeden Gegenstand, den er aus dem Elternhaus abtransportierte, gleichgültig, wie alt oder winzig das begehrte Objekt war, seiner Mutter Rechenschaft abzulegen hatte. »Wozu das?«, fragte sie, »und für wie lange?« – ehe sich Gwen Blackboro »das Ding aus dem Leib schnitt«, wie sie es nannte, und ihn zähneknirschend damit ziehen ließ.

Für sie lagen seine Motive auf der Hand: Wieso sollte ihr Jüngster die Mumie eines Hirschkäfers mitnehmen wollen, die er als Siebenjähriger bei einem Ausflug an den Ebbw gefunden hatte und die sie seither, als wäre das abscheuliche Insekt ein altägyptischer Skarabäus-Glücksbringer, auf dem Kaminsims aufbewahrte? Wozu brauchte er die Luftpumpe seines Vaters, die nur noch asthmatisch keuchte, und warum das Zelt, das, in lange vergangenen Vorkriegssommernächten im Garten unter der Kastanie aufgebaut, nun so mottenzerfressen war, dass man darin hätte duschen können? Warum, wenn nicht deshalb, weil es nun diese alte Schachtel gab, die ihm – »Ach, Merce, tu doch nicht so!« – vorgaukelte, eine bessere Mutter zu sein.

Im Gegensatz zu seiner Mutter Gwendolyn kam es ihm nie in den Sinn, seine Vermieterin mit ihr zu vergleichen, egal in welcher Hinsicht. Eher verglich er sich selbst mit Agatha Splaines Katze, und das nicht nur wegen ihres Namens. Anders als er wurde Misery von keinem gezwungen, das Haus zu verlassen. Sie schlief täglich 22 Stunden lang. Wollte sie liebkost werden, wurde sie liebkost. Misery war zufrieden mit den Dingen, die sie umgaben, genauso wie mit denen, die sie nicht umgaben – von ihnen wusste sie ja nicht. Verschwand ein Gegenstand oder lag plötzlich irgendwo ein neuer, so staunte sie gleichermaßen oder schien bloß unbeteiligt zu registrieren, dass es etwas weniger zu bestaunen gab.

Nein, Gleichmut war keine seiner ausgeprägten Eigenschaften. Nur sein Staunen war grenzenlos wie Miserys.

Für seine Sammelwut hatte er keine plausible Erklärung. Manchmal war er allerdings überzeugt, dass er den alten Plunder nur deshalb in die Skinner Street schaffte, damit er nachts, wenn er im Bett lag, von Dingen umgeben war, die er auflisten konnte, um nicht an Ennid zu denken.

2 Bücherborde,

57 Bücher, zumeist antarktisch oder poetisch,

6 gerahmte Photographien – Shackleton, Amundsen, die Nimrod, die Fram, die Endurance (aufgenommen von ihrem Expeditionsphotographen Hurley in Buenos Aires), Bakewell und er mit zwei Hunden (Sailor und Shakespeare) vor Packeisgebirgen,

1 alter Holzpropeller – Antrieb der ausgemusterten Sopwith Triplan von William Bishop, mit der Dafydd beim einzigen Flug seines Lebens über Newport und Pillgwenlly gekreist war,

1 mumifizierter Käfer (lucanus cervus),

3 ausgestopfte Seevögel – Möwe, Riesensturmvogel, Skua (der ein Auge fehlte, weshalb er zärtliche Gefühle für sie hegte),

1 Stapel Ansichtskarten, darunter eine von Shackleton, auf der auch Crean unterschrieben hatte, und eine andere – eine Rarität – von Tom Crean allein, beide abgestempelt in Annascaul, wo der Antarktiker, den jeder nur den »Irischen Riesen« nannte, heute einen Pub betrieb,

1 Sicherheitsnadel (diese und vier andere hatten Creans zerfetzte Hose zusammengehalten, als Shackleton, Crean und er selbst nach drei Tagen Fußmarsch über die Gletscher von Südgeorgien zur Stromnesser Walfängerstation gelangt waren),

1 Fahrradgepäckträger (Hermans),

1 Fahrradluftpumpe (Dads), inzwischen repariert,

1 Stück eines Wirbelknochens, faustgroß, Wal (Blauwal), mitgenommen aus Stromness,

1 Speerspitze, vielleicht indianisch (bestimmt indianisch), gefunden in einem Straßengraben von Valparaiso,

1 alter Seesack, auch der aus Valparaiso (und doch walisisch), Geschenk eines skorbutkranken Waliser Matrosen,

1 Spange, eingraviert die Initialen RB (und unverändert seit über 20 Jahren duftend nach Regyns Haar).

Von der Endurance hätte er gern eine Planke gehabt, Orde-Lees’ Grammophon, einen Topf aus Greens Kombüse, ein Stück einer Leine oder nur den Fetzen eines ihrer Klüversegel. Aber mit dem Schiff war alles untergegangen, was sie mit den drei Beibooten nicht mehr übers Eis hatten schleppen können.

So starrte er ins Dunkel des Zimmers, froh, wenigstens die Photographie zu besitzen, die den kleinen Dreimaster am Kai von La Boca zeigte, wenige Tage, bevor sie Buenos Aires Richtung Eis verlassen hatten – eine von 100 Aufnahmen, die Frank Hurley retten konnte und mit Shackletons Erlaubnis mitnehmen durfte.

Mehr besaß er auch von Sir Ernest nicht: eine Photographie und zwei Bücher, die er sich aber erst nach seiner Rückkehr in Newport gekauft hatte. Shackleton hatte dafür gesorgt, dass keiner von ihnen Persönliches aus dem Eis mitnahm. Selbst einen Brief, einen Kamm, eine Haarlocke befand er für »viel zu schwer«.

Erst vor ein paar Wochen hatte er einen Kamm seiner Mutter aus Pillgwenlly mitgehen lassen, der ihn auf unerklärliche Weise an seine Kindheit erinnerte. Im Dunkeln sah er die an die Tapete geklebten Zeichnungen seines Neffen leuchten. Er hatte Regyn ein Dutzend von Willie-Merce’ Buntstiftgemälden abgetrotzt. Briefe von Bakewell, die der ihm von Geschäftsreisen nach Südamerika schrieb, oder Postkarten von Tom Crean aus Annascaul verwahrte er in einer Schatulle, die ihrerseits ein Andenken war: Sein Großvater hatte sie getischlert und mit Intarsien versehen, während er selbst, vier oder fünf Jahre alt, staunend dabeistand und dem alten Mann mit den langen weißen Haaren auf den Fingern die Holzplättchen reichte.

Offenbar war er ein hoffnungsloser Nostalgiker, ein durch und durch sentimentaler Memorabilienjäger, jemand, o Gott, der nicht in sich selbst ruhte, sondern sich verstreute auf Orte, Gegenstände und Menschen, die ihn umgaben. Er drehte sich zur Wand, schloss die Augen und kniff sie fest zusammen. Schluss mit Listen. Schlafen, träumen, aufwachen, weitermachen! Er hörte den gegen die Fenster trommelnden Regen und fragte sich, ob es wirklich so war, dass er von allen Menschen, die ihm etwas bedeuteten, Andenken sammelte und Dinge hortete, als wäre er der einzige Wärter und zugleich einzige Besucher eines Merce-Blackboro-Gedächtnismuseums.

Falls es so war – was besaß er von Ennid?

Nichts! Nicht den kleinsten Gegenstand, keinen Knopf ihres Regenmantels, keine Wimper, die ihr ausgefallen und auf seinem Jackenärmel liegen geblieben wäre. Er drehte sich zurück, mit einem Mal war er wieder hellwach. Nichts von ihr zu besitzen bedeutete keinesfalls, dass sie ihm unwichtig war, im Gegenteil!

Was weiß ich von ihr, fragte er sich im Stillen, warum liebe ich sie … wieso ausgerechnet sie? Was hat sie an sich, das sie so einzigartig macht?

Er überlegte sehr lange.

Dann sagte er sich: »Mach eine Liste …«

Was er von ihr wusste, hatte ihm fast alles Regyn verraten.

Seine Schwester war etwas älter als Ennid, doch weil beide Mari Simms und Gonryl Frazer kannten, wurden auch sie Freundinnen und verloren sich schon aufgrund der Geschäftsbeziehungen ihrer Väter nie aus den Augen.

Sie kannten sich lange (»sind liebe Freundinnen«, würde Ennid es nennen), im Grunde aber mochte Regyn Ennid nicht sehr (was Ennid nicht glauben würde), denn Reg hielt ihre Freundin für großspurig und allürenhaft (»Im Ernst?«, würde Ennid wahrscheinlich sagen. »Dann wird wohl was dran sein …«).

Wenn er nachrechnete – und das tat er immer wieder, ohne je einzusehen, dass stets dasselbe dabei herauskam –, so hatte er sich in den siebeneinhalb Jahren, die auch er sie kannte, zusammengenommen eine gute Stunde lang mit Ennid Muldoon unterhalten – was grotesk war und ihn daran zweifeln ließ, dass Arithmetik irgendetwas über das Leben aussagte.

Von Regyn wusste er, dass Ennid, wenn sie allein war, sich gern vorstellte, was keiner sehen konnte: das Fortleben der Toten. Dabei glaubte sie nicht an Geister (wenngleich die Gespenstergeschichte ihrer gemeinsamen Freundin Mari Simms von dem blonden Mann, der angeblich jeden Sonntagmorgen durch ihr Spiegelbild ging, wenn sie am Frisiertisch saß, auch Ennid verstörte). Sie glaubte vielmehr an die Kraft der Erinnerung, die in ihren Augen die Lebendigkeit bewahrte oder sogar erst stiftete, weshalb sie sich oft ihre verstorbenen Eltern vorstellte, wie sie bei Tisch saßen und lachten.

Sie dachte an die Schiffe, die sie gemeinsam mit ihrem Vater ausgerüstet hatte und die auf den Severn hinausgefahren und nie nach Newport zurückgekehrt, sondern in irgendeinem Sturm auf irgendeinem Ozean gekentert und auf den Meeresgrund hinuntergesegelt waren.

Und natürlich erzählte sie Reg oft von ihrem Flieger-Ass, von Mickie Mannock, davon, wie sie ihn sich ausmalte, im Luftkampf über Paris, mit einem knatternden MG, das Regyns erster Mann Herman entwickelt und eigenhändig an Mickies Dreidecker montiert hatte. Das Maschinengewehr spuckte Funkenblitze, die am Himmel über der Seine davonschossen (»wie brennende Vögel im Traum«, sagte Ennid) und im Leeren verloschen. Manchmal meinte Ennid, Mickies Hand zu spüren, wie sie in ihr Haar fasste und ihren Hinterkopf umfing, und mit geschlossenen Augen hörte sie ihn immer noch flüstern: »Komm her, süßer Schatz« – ehe er sanft ihren Kopf zu sich heranzog, um sie zu küssen.

Laut Regyn existierte angeblich ein Buch, in das Ennid Briefe an Mickie Mannock schrieb, das legendäre Buch an Mick – aber selbst Reg wusste davon nur vom Hörensagen. Ihre gemeinsame Freundin Gonryl Frazer, die Vierte im Bund, behauptete, das Buch gesehen, sogar darin geblättert zu haben. Reg bezweifelte das. Er aber, ihr kleiner Bruder, konnte sich so ein Buch gut vorstellen – und sah bei dem Gedanken sogleich das akribisch von Ennid geführte Auftragsbuch des alten Muldoon vor sich.

Während eines Spaziergangs am Ebbw kurz nach Kriegsende unterhielt sich Ennid mit seiner Schwester einmal über Turmsegler. Dass diese Vögel im Flug schliefen, erzählte sie Reg, und dass sie deshalb im Herbst oft an Turmsegler denke, schlafend in der Luft überm Atlantik, unterwegs nach Afrika.

Ennid war nie weiter gereist als bis nach Irland, einmal nach Gloucestershire und einmal nach Kent. Vielleicht deshalb las sie viel, mehr als er selbst, und lieh Regyn Bücher, um sich mit ihr darüber austauschen zu können, Bücher, die Reg auf dem Marketerietischchen im Kaminzimmer in Pillgwenlly liegen ließ und nicht weiter beachtete, denn Lesen gehörte für Regyn Bakewell zu den verzichtbaren Beschäftigungen.

Ennids Bücher waren für ihn schwierig zu lesen, denn da sie voller Unterstreichungen waren, erinnerten sie ihn an ihre Finger, Hände, Augen und damit ihre Art, die Dinge zu sehen. Er erinnerte sich weniger daran, was er in Ennids Büchern gelesen, als daran, was sie beim Lesen angestrichen hatte.

Er las Blackwoods schaurige Darstellung der Weidenbäume in den Donausümpfen (»eine ungeheure Meute lebendiger Geschöpfe«), er las Bonds Schilderung der Ringe des Saturn und in Einsteins Relativitätstheorien, las Beschreibungen der Dschunken von Hongkong und der Märkte in Timbuktu, und verblüfft erfuhr er (weil Ennid es an den Rand geschrieben hatte), dass John Keats vor 100 Jahren ein Exemplar seines Versromans Endymion einem Sahara-Reisenden mitgab, damit der das Buch in die Wüste warf.

Alle Bücher, die sie Reg lieh, warf auch Ennid in die Wüste, ohne es zu ahnen. Alle waren sie versehen mit Ausrufezeichen, Fragezeichen und Kürzeln, die ihm rätselhaft blieben und keiner erklären konnte, da sich außer ihm niemand für die Lektüren von Quiltyn Muldoons humpelnder Tochter interessierte. Ohnehin war ein paar Wochen später, wenn sich Regyn mit Ennid zum Tee oder Spazierengehen traf (»Ist es schon wieder so weit?«, fragte Reg), jedes Buch für ihn viel zu schnell verschwunden.

Seine Schwester las keine Zeile im Endymion (»Erstickt unter Rosen«, hatte Ennid in das Buch gekritzelt), und Hopkins’ Gedicht »Das Wrack der Deutschland« nötigte Regyn nur ein »blabla, blabla« ab (immerhin jambisch). Dabei war Reg durchaus redegewandt. Um eloquente Ausweichmanöver war seine große Schwester nie verlegen.

Napoleon Bonaparte!

Einmal hatte es in Pillgwenlly Streit über Napoleon gegeben.

Nach einem Nachmittagstee mit Ennid erzählte Regyn, »eine Freundin« behaupte, Bonaparte sei kurz vor seiner Verfrachtung nach St. Helena in Portsmouth gewesen, allerdings könne sie – »die Freundin« – sich nicht entsinnen, von wem sie das gehört, wo sie davon gelesen habe: im Tatler, in der Times?

Dafydd fand die Vorstellung lachhaft – Napoleon in Hampshire! Eine Erfindung. Was sollte das?

Ausgerechnet ihr Vater, beileibe kein Franzosenfreund, verteidigte die Geschichte. Emyr Blackboro sagte, auch er habe davon gehört – nur von wem? Vergessen … Er glaube, die Sache sei wahr, egal, wie abwegig die Vorstellung sei.

Dafydd lachte und wurde wütend. »Dad! Nie und nimmer …!«

Aber ihr Vater beharrte darauf: »Ich hab davon gehört!«

Er selbst hatte dazu keine Meinung. Von heißen Schaudern überlaufen, saß er am Tisch, stocherte in seinem Essen, verfolgte wie aus weiter Ferne das Scharmützel und behielt so schuldbewusst wie sehnsuchtsvoll das Wissen für sich, dass er es gewesen war, der Ennid davon erzählte: Bonaparte, perplex in Portsmouth. Sie könne es ihm glauben: Die Fregatte, die den gestürzten Kaiser zu seiner Gefängnisinsel bringen würde, lag für ein paar Tage vor Portsmouth auf Reede. Ob Napoleon britischen Boden betreten hatte? Warum nicht. Gut möglich. Wahrscheinlich!

Sieben Jahre war es her, dass er sich mit dieser haarsträubenden Geschichte für immer in ihre Erinnerung hatte einschreiben wollen. Und Ennid hatte die Sache offenbar tatsächlich nicht vergessen, sondern nur den Schöpfer des Märchens (das keines war) aus ihrem Gedächtnis getilgt.

In einem dicken Roman von Henry James, den Ennid Regyn lieh (damit das nächste Buch einstauben konnte), war ein einziges Wort unterstrichen gewesen: »Komplementärmenschen«.

Wochenlang hatte ihn dieser Ausdruck beschäftigt – zumal Reg ihn einmal zitiert hatte. An einem Sommertag vor vier oder fünf Jahren war die königliche Familie nach Newport gekommen. Die ganze Stadt war auf den Beinen, um König George, Königin Mary, dem Prinzen von Wales, dessen Schwester und dreien seiner Brüder zuzuwinken, die in einem Automobilkorso nach Caldoen hinausfuhren, wo zu Ehren der Royals eine Flugschau mit neuen Gebrüder-Harper-Maschinen stattfand. Es fehlte nur Prinz John. Der jüngste Königsspross, Epileptiker und Autist, nach Ansicht seiner Geschwister ein Monstrum, die Schande der Familie, hatte wie fast immer in Schloss Sandringham bleiben müssen.

Regyn begleitete Gonryl und Mari nach Caldoen, während er von seinem Ausguck aus dem Jahrmarkttreiben in den Straßen zusah und keine Lust verspürte, sich dem Rummel auszusetzen. Er dachte an Prinz John und erklärte sich auf diese Weise solidarisch mit ihm. Beschwipst und aufgekratzt holte Reg ihn am Abend im Kontor ab, spöttelnd berichtete sie von Ennids neuestem, einer Brombeere ähnelndem Hut und ihrem jüngsten Spleen: dem Liebesleben der Windsors.

In Regyns Augen war alles zu ertragen, aber das, über die Intimsphäre des Königspaars herzuziehen – das ging zu weit, es war lachhaft, und es war »shocking«.

Ennid frage sich ernsthaft, sagte sie, wie der König es angestellt habe, mit der Königin so viele Nachkommen zu zeugen: Wie oft schlief König George mit Königin Mary?

Ein bohrender Schmerz hatte sich in ihm breitgemacht, eine absurde Eifersucht auf den König, als Reg erzählte, Ennid habe genug von ihrem selbstverordneten Witwendasein und wünsche sich Kinder, viele, mindestens so viele wie Königin Mary.

Über den Wiesen von Caldoen wurde ein Feuerwerk gezündet, mit Regyn stand er am Fenster, sah den Harper-Doppeldeckern dabei zu, wie sie aufstiegen, über dem Stadtrand kreisten und Kondensstreifenlettern an den abendlichen Himmel schrieben … und da hatte es seine Schwester gesagt.

»Komplementärmenschen.«

So weltfremd, so verkopft und verstiegen sie auch sei (»entsetzlich!«) – in einem Punkt habe Ennid recht: Den Kindern gehöre die Zukunft.

»Vielleicht fliegen dein Sohn und mein Sohn irgendwann mit Raumschiffen zum Mars«, sagte Ennid in Caldoen zu Reg. »Oder sie erforschen unter Glaskuppeln den Meeresgrund. Egal, welche Musik sie hören und wie sie tanzen werden, auch 2021, in 100 Jahren, werden Leute glücklich sein, wenn sie ihrem Komplementärmenschen in die Augen blicken.«

In dem dunklen Zimmer in der Skinner Street trieb ihm das die Tränen in die Augen. Aller Gedanken müde lag er reglos im Bett. Er horchte auf Mrs. Splaines durch die Wand dringendes Schnarchen, wartete, dass der Ansturm aus Bildern und Wortfetzen weiterging, und er war schon fast eingeschlafen, als ihm etwas einfiel.

Sogar woran Ennid dachte, wenn sie selbst im Bett lag und nicht einschlafen konnte, hatte ihm Regyn erzählt – und ihn seiner betrübten Miene wegen ausgelacht: »An dich leider nicht!«

Ennid versuche vielmehr sich zu erinnern, was sie von ihrem Vater gelernt hatte.

Dass Regen nie schlecht war.

Dass zwischen zu faltenden Segeln und zu faltenden Hemden bloß ein Größenunterschied bestand.

Dass ein namenloses Schiff kein Schiff und ein betrunkener Kapitän kein Kapitän war.

Ebenso wenig war ein Streit ein Gewitter – nichts entlud sich dadurch, denn wozu führten denn schwarze Gedanken? Einzig zu noch schwärzeren.

Als ihr Komplementärmensch verstand er das sofort. Streitigkeiten glichen Bränden in Kohleflözen: Das Feuer schwelte im Verborgenen, oft jahrzehntelang (so war es in einem ihrer Bücher angestrichen gewesen). Daher musste man sich von Menschen abwenden, in denen so ein Schwelbrand wütete – sie verzehrten sich selbst. Ennid, sagte Regyn, glaube oft, ein solcher Mensch, der sich verzehrte und in nicht enden wollendem Streit mit sich und dem Leben lag, so einer sei sie selbst.

Manchmal liege sie wach und versuche sich zu vergegenwärtigen, was sie so lange schon quälte. Hätte sie drei Wünsche frei, sagte sie zu Reg, keiner davon wäre, dass der Schmerz aus ihrem Bein verschwand. Er war ja ein Teil von ihr. Nur dass sie selber bestimmen könnte, wann er kam und ging, würde sie sich wünschen.

Regyn hatte sie gefragt, was sie sich außerdem wünschen würde, und Ennid antwortete, zuerst würde sie ihre Eltern und Mickie auferstehen lassen. Sie lachte, warf den Kopf in den Nacken (Reg hasste es) und sagte, als drittes würde sie sich neun weitere Wünsche wünschen.

War sie wirklich, wie ihre Mutter behauptet hatte, eine »Pragmatikerin vor dem Herrn«? Ennid war überzeugt, dass man den wahren Zustand eines Schiffs weder an Deck noch im Maschinenraum oder in den Laderäumen feststellte – nur die Einstellung der Mannschaft verriet, wie es um das Schiff bestellt war.

Sie war überzeugt, dass man Geld machte, indem man kaufte, und nicht, indem man verkaufte. Und sie war sich sicher, dass immerzu gegen den Strom zu schwimmen zu nichts führte. Man musste den Rand des Stromes suchen, von dort aus die Strömung einschätzen lernen. Liebe und Vernunft, in ihren Augen waren sie ein und dasselbe.

Sie erzählte Regyn, was sie liebte: Möwen, je größer, desto besser. Ihr Geschrei klang wie das Quietschen von Türen, mit denen sich die Ferne auftat. Sie liebte das Jaulen der Pontons, das von den Werften herüberdrang. Und Bücher, besonders Gedichte und Romane über den Wind und die See, Shelleys »Ode an den Westwind«, Conrads Lord Jim, am meisten aber Moby-Dick (zwei Monate lang rührte Reg das Buch nicht an), auch deshalb, weil das einzige weibliche Geschöpf darin Ahabs Schiff war, die Pequod, die alle über das Meer trug und zu allerletzt besiegt wurde von dem von Herman Melville erfundenen weißen Wal.

»Für sie lebt alles, was sie da liest«, sagte Regyn halb spöttisch, halb bewundernd und zuckte mit den Achseln.

Doch ebenso sehr mochte sie es, wenn es still war im Hafen, wenn die Stahlpontons nicht sangen und keine Möwengeschwader auf Beutezug über den Usk und den Severn zogen. Bücher, die ihr nicht gefielen, legte sie weg und rührte sie nicht wieder an. Auch von Büchern sollte man sich keine Unverschämtheit gefallen lassen! Und Dummheit war unverschämt, wenn man nichts dagegen unternahm.

Wann immer möglich, laufe sie barfuß, sagte sie zu Reg eines Sonntags am Ebbw, umgeben von Spaziergängern (von denen sie viele Leute kannten, seit sie auf der Welt waren), und zog Stiefel und Strümpfe aus, obwohl schon fast November war und jeder ihre Beinschiene sehen konnte.

Und einmal sagte sie, dass sie manchmal wegrennen wolle vor lauter Zorn und Kummer, vor dieser Angst, die keinen Namen hatte. Weg, einfach nur weg wolle sie dann, und nie mehr wiederkommen.

Seeland Schneeland

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