Читать книгу Ausweitung der Kampfzone - Мишель Уэльбек - Страница 8
Drei
ОглавлениеDie Schwierigkeit ist, dass es nicht genügt, wenn Sie genau den Regeln entsprechend leben. Es gelingt Ihnen ja (wenn auch oft nur ganz knapp, aber alles in allem schaffen Sie es doch), den Regeln entsprechend zu leben. Ihre Steuererklärung ist in Ordnung. Die Rechnungen werden pünktlich bezahlt. Sie gehen nie ohne Personalausweis aus dem Haus (nicht zu vergessen: das kleine Etui für die Scheckkarte ...).
Trotzdem haben Sie keine Freunde.
Die Regeln sind komplex und vielfältig. Außerhalb der Arbeitsstunden sind da die Einkäufe, die Sie wohl oder übel erledigen müssen, die Bargeldautomaten, von denen Sie Geld abheben müssen (und vor denen Sie oft Schlange stehen). Vor allem sind da die verschiedenen Zahlungen, die Sie den Institutionen zukommen lassen müssen, die die verschiedenen Aspekte Ihres Lebens verwalten. Zu allem Überfluss können Sie auch noch krank werden, was zusätzliche Kosten und Formalitäten mit sich bringt.
Dennoch bleibt ein Stück Freizeit übrig. Was tun? Wie sie nützen? Vielleicht sich den Mitmenschen widmen? Aber im Grunde interessieren die Mitmenschen Sie kaum. Platten hören? Das war einmal eine Lösung, aber im Lauf der Jahre mussten Sie einsehen, dass Musik Sie von Mal zu Mal weniger berührt.
Basteln, im weitesten Sinne, könnte ein Weg sein. Aber in Wahrheit kann nichts die immer häufigere Wiederkehr jener Augenblicke verhindern, in denen Ihre absolute Einsamkeit, das Gefühl einer universellen Leere und die Ahnung, dass Ihre Existenz auf ein schmerzhaftes und endgültiges Desaster zuläuft, Sie in einen Zustand echten Leidens stürzen.
Trotzdem haben Sie immer noch keine Lust zu sterben.
Sie haben ein Leben gehabt. Es gab Augenblicke, in denen hatten Sie ein Leben. Natürlich erinnern Sie sich nicht mehr genau daran; aber es gibt Fotografien, die es beweisen. Wahrscheinlich war das in Ihrer Jugendzeit oder ein wenig später. Wie groß war damals Ihr Lebenshunger! Die Existenz schien Ihnen reich an ungeahnten Möglichkeiten. Sie hätten Schlagersänger werden oder nach Venezuela gehen können.
Was noch überraschender ist, Sie hatten eine Kindheit. Sehen Sie sich ein siebenjähriges Kind an, das mit seinen Spielzeugsoldaten auf dem Wohnzimmerteppich spielt. Bitte sehen Sie aufmerksam hin. Seit der Scheidung hat es keinen Vater mehr. Seine Mutter, die einen wichtigen Posten in einer Kosmetikfirma bekleidet, sieht es eher selten. Trotzdem spielt das Kind mit seinen Miniatursoldaten und bekundet für diese Figuren aus der Welt des Krieges ein lebhaftes Interesse. Sicher, es fehlt ihm bereits ein wenig an Zuneigung; aber wie es sich mit ganzer Seele für die Welt interessiert!
Auch Sie haben sich für die Welt interessiert. Das ist lange her; versuchen Sie bitte, sich daran zu erinnern. Das Gebiet der Vorschriften hat Ihnen nicht mehr genügt; Sie konnten nicht länger im Gebiet der Vorschriften leben; also mussten Sie in die Kampfzone eindringen. Versetzen Sie sich bitte genau an diesen Zeitpunkt zurück. Es ist lange her, nicht wahr? Erinnern Sie sich: Das Wasser war kalt.
Jetzt sind Sie weit weg vom Ufer. O ja, wie weit weg Sie vom Ufer sind! Lange Zeit haben Sie an die Existenz eines anderen Ufers geglaubt; jetzt nicht mehr. Trotzdem schwimmen Sie weiter, und jede Ihrer Bewegungen bringt Sie dem Ertrinken näher. Sie bekommen keine Luft mehr, Ihre Lungen brennen. Das Wasser kommt Ihnen immer kälter vor, immer bitterer kommt es Ihnen vor. Sie sind nicht mehr ganz jung. Sie werden sterben, jetzt gleich. Es ist nichts. Ich bin da. Ich lasse Sie nicht fallen. Lesen Sie weiter.
Erinnern Sie sich noch einmal an Ihr Eindringen in die Kampfzone.
Die folgenden Seiten bilden einen Roman. Ich verstehe darunter eine Abfolge von kleinen Geschichten, deren Held ich bin. Es ist wirklich nicht eine Entscheidung für einen autobiographischen Stil; so oder so bleibt mir keine andere Wahl. Wenn ich nicht aufschreibe, was ich gesehen habe, werde ich ebenso leiden – vielleicht sogar ein wenig mehr. Nur ein wenig, das will ich betonen. Das Schreiben bringt kaum Erleichterung. Es zieht Linien nach und grenzt ab. Es führt die Spur eines Zusammenhangs ein, eine Ahnung von Realismus. Man watet zwar immer noch in einem blutigen Nebel, doch gibt es wenigstens ein paar Anhaltspunkte. Das Chaos ist nur noch ein paar Meter entfernt. Ein schwaches Ergebnis, schon wahr.
Welch ein Kontrast zur absoluten, wunderbaren Macht des Lesens! Ein Leben lang nichts als Lesen, das hätte meine Wünsche erfüllt; ich wusste es schon mit sieben Jahren. Die Beschaffenheit der Welt ist schmerzhaft und ungeeignet; ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern lässt. Wirklich, ein mit Lesen ausgefülltes Leben hätte mir besser gepasst.
Ein solches Leben war mir nicht vergönnt.
Vor kurzem bin ich dreißig geworden. Nach chaotischem Beginn verlief mein Studium ziemlich erfolgreich; heute bin ich eine mittlere Führungskraft. Als Programmierer in einem EDV-Dienstleistungsbetrieb verdiene ich netto das Zweieinhalbfache vom Mindestlohn; das ist eine ganze Menge Kaufkraft. Im Schoße meiner Firma wird sie mit der Zeit deutlich ansteigen; es sei denn, ich entschließe mich wie viele andere, bei einem unserer Kunden einzusteigen. Im Großen und Ganzen kann ich mit meiner gesellschaftlichen Stellung zufrieden sein. In sexueller Hinsicht dagegen sieht es weniger berauschend aus. Ich habe mehrere Freundinnen gehabt, aber immer nur für kurze Zeit. Da ich nicht besonders schön oder charmant bin und zudem häufig unter Depressionen leide, entspreche ich dem, was die Frauen in erster Linie suchen, nicht im Geringsten. Auch habe ich bei den Frauen, die mir ihre Organe geöffnet haben, immer einen leichten Widerwillen gespürt; im Grunde war ich für sie nicht viel mehr als ein Notbehelf. Nicht gerade ein idealer Ausgangspunkt für eine dauerhafte Beziehung.
Seit meiner Trennung von Véronique vor zwei Jahren habe ich nicht eine einzige Frau kennengelernt. Die schwachen und inkonsequenten Versuche in dieser Richtung haben bloß zu vorhersehbaren Misserfolgen geführt. Zwei Jahre, das erscheint als eine lange Zeit. Aber in Wirklichkeit vergehen sie, vor allem wenn man arbeitet, sehr schnell. Das wird Ihnen jeder bestätigen: zwei Jahre vergehen sehr schnell.
Vielleicht sind Sie, geneigter Freund und Leser, ja selbst eine Frau. Das kann schon vorkommen; machen Sie sich nichts daraus. Außerdem ändert es wenig an dem, was ich Ihnen zu sagen habe. Bei mir gibt es für jeden Geschmack etwas.
Nun will ich Sie nicht mit feinsinnigen psychologischen Darstellungen bezaubern. Es geht mir nicht darum, Ihnen durch Raffinesse und Humor Beifall zu entlocken. Es gibt Autoren, die ihr Talent zur subtilen Beschreibung verschiedenartigster Seelenzustände, Charakterzüge usw. benutzen. Zu ihnen gehöre ich nicht. Die Anhäufung realistischer Details, durch die vor dem inneren Auge des Lesers differenzierte Figuren entstehen sollen, ist mir immer als, entschuldigen Sie, wenn ich das sage, reines Gewäsch erschienen. Daniel, der mit Hervé befreundet ist, aber eine gewisse Abneigung gegen Gérard verspürt. Das Phantom Paul, das sich in Virginia verkörpert; die Venedigreise meiner Kusine ... Damit könnte man Stunden zubringen. Was dasselbe ist, wie wenn man Hummer beobachtet, die in einem Aquarium aufeinander herumkriechen (es genügt dazu, in ein Fischrestaurant zu gehen). Im Übrigen verkehre ich wenig mit Menschen.
Im Unterschied dazu werde ich, um mein Ziel zu erreichen, das mehr ins Philosophische geht, vor allem Streichungen vornehmen müssen. Ich werde vereinfachen müssen. Schlag um Schlag eine Menge Details vernichten. Dabei wird mir das simple Spiel der Bewegung der Zeitgeschichte helfen. Vor unseren Augen uniformiert sich die Welt; die Telekommunikation schreitet unaufhaltsam voran; neue Apparaturen bereichern das Wohnungsinventar. Zwischenmenschliche Beziehungen werden zunehmend unmöglich, was die Zahl der Geschichten, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, entsprechend verringert. Und langsam erscheint das Antlitz des Todes in seiner ganzen Herrlichkeit. Das dritte Jahrtausend lässt sich gut an.