Читать книгу Filmriss - Mitra Devi - Страница 12

8

Оглавление

«Frau Tabani, das Wichtigste zuerst: Haben Sie die Kapazität, sich unserer Angelegenheit zu widmen?»

Nora sass gegenüber Kaisers an ihrem Arbeitstisch. Markus Kaiser, in dunklem Massanzug, war gross und schlaksig wie ein Pubertierender, der zu schnell gewachsen war und seine Arme und Beine nicht recht unter Kontrolle hatte. Seine graubraunen Haare lichteten sich an der Stirn etwas, doch sein Gesicht war jugendlich und faltenlos. Seine Augen waren gerötet. «Ich wäre nicht hier», sagte er überflüssigerweise, «wenn meine Frau nicht darauf bestanden hätte.»

«Nun, Frau Tabani? Haben Sie?», fragte Frau Kaiser mit beherrschter Stimme, deren Zittern sie nicht restlos unterdrücken konnte. Ihre Haare waren sehr blond und nur eilig frisiert. Sie hatte sich die Mühe gemacht, ihre Lippen zu schminken, doch die rote Farbe war unregelmässig aufgetragen und in den Mundwinkeln verschmiert, als hätte sie ihre Hände beim Auftragen nicht im Griff gehabt.

Nora bejahte. «Ich werde meine aktuellen Fälle zur Seite legen.» Das war glattweg gelogen, und sie hatte das unangenehme Gefühl, Frau Kaiser wisse das. In Noras Auftragsordner herrschte gähnende Leere, Jans Lohn musste sie von ihrem Ersparten bezahlen. In den letzten Wochen hatte sie sich mehr als einmal gefragt, ob es nicht ihr grösster Fehler gewesen war, sich selbständig gemacht zu haben.

«Mit Kapazität habe ich nicht die Zeit angesprochen», berichtigte Helen Kaiser. «Ich meinte damit: Verfügen Sie über die technischen und personellen Mittel, sich um unsere Angelegenheit zu kümmern?»

Nora wünschte, die Frau würde ihre verschleppten Kinder nicht immer eine Angelegenheit nennen. «Wir arbeiten mit modernsten Mitteln. Ich habe mehrere Jahre Erfahrung bei der Kripo gesammelt, und wir haben Zugang zu verschiedenen Datenbanken. An Ihr Telefon können wir ein Aufnahmegerät montieren, um anhand der Täterstimmen und den herausgefilterten und analysierten Hintergrundgeräuschen – falls sich die Entführer mit einer Lösegeldforderung melden – erste Anhaltspunkte zu bekommen. Dann stehe ich in engem Kontakt zu einer unabhängigen Kriminaltechnikerin, die DNS-Analysen vornehmen kann, und mein Partner, Jan Berger, arbeitet mit –»

«Wo ist er?»

«Wie bitte?»

«Wo ist Ihr Partner?»

«Ich…» Nora versuchte, ihrer Stimme einen selbstbewussten Klang zu geben, was ihr deutlich misslang. Es kam irgendwie kläglich heraus. «Ich habe ihn noch nicht erreichen können.»

«Pardon?», fragte Frau Kaiser pikiert. Ihr bordeauxrotes Kostüm knisterte.

«Es ist Sonntagmorgen. Ich hab ihm Nachrichten auf seinem Telefon, seinem Handy und per Mail hinterlassen, er wird sich innerhalb –»

«Frau Tabani, es handelt sich hier um eine Entführung!»

«Das ist mir bewusst, Frau Kaiser, und ich werde alles unternehmen, damit Sie ihre Kinder so schnell wie möglich wieder –»

«Wie hoch ist Ihr Honorar?» Helen Kaiser griff in ihre Handtasche und zückte ein Checkbüchlein. «Ihre Tagespauschale?»

Nora war einen Moment verwirrt über den schnellen Themenwechsel. «Nur, um noch einmal ganz sicher zu gehen: Sie wollen die Polizei nicht verständigen? Entführung ist ein Offizialdelikt. Die Kriminalpolizei ist viel besser ausgerüstet als ich und verfügt über etliches Personal.»

«Wie hoch?»

Nora schwieg einen Moment. Dann sagte sie langsam: «Ich verrechne keine Tagespauschale, da ich den Aufwand zum voraus nicht abschätzen kann, sondern einen Stundenlohn von 140 Franken. Plus Spesen.»

«Ach?», machte Frau Kaiser, und Nora merkte, dass sie ein Mehrfaches hätte verlangen können. Frau Kaiser schrieb ‹Dreitausend Franken› auf einen Check und reichte ihn ihr hinüber. «Das wird für den Anfang reichen.»

Nora steckte ihn ein. «Gut. Wenn das wirklich Ihre Entscheidung ist, sollten wir keine Zeit verlieren. Haben Sie die Botschaft dabei, die der Kidnapper hinterlassen hat?»

Herr Kaiser griff in die Innentasche seiner Jacke und legte den Zettel vor Nora hin. Sie las ihn, ohne ihn zu berühren. «Ihre Kinder wurden entführt. Keine Polizei, sonst sehen Sie sie nie wieder. Verarschen Sie uns nicht. Wir beobachten Sie. Details folgen.»

Weisses Papier, Computerausdruck, Arial-Schrift, vermutlich Grösse 12. Die Standardeinstellung vieler Computer. Über diesen kleinen Fetzen würde Jan eine ganze Menge herausfinden, das wusste sie. Wenn er sich denn meldete.

«Und die Fotos von Lukas und Lorena?»

Frau Kaiser legte eine Aufnahme daneben. Sie war in einem professionellen Fotostudio gemacht worden, das sah man sofort. Die Konturen der Zwillinge waren optimal ausgeleuchtet, das Lächeln auf ihren Gesichtern eine Spur zu unnatürlich. Der Junge trug eine Schirmmütze, auf der NYC stand, das Mädchen hatte die Haare mit knallroten Maschen zu Zöpfchen geflochten. Beide Kinder waren strohblond und glichen der Mutter.

«Sie sind nicht ihr leiblicher Vater?», bemerkte Nora in Markus Kaisers Richtung.

Er reckte trotzig das Kinn. «Ich habe sie wie meine eigenen angenommen. Von Anfang an.»

«Ja, das hat er», bestätigte seine Frau. «Sie waren zweijährig, als wir geheiratet haben, und kannten ihn nur als liebevollen Vater.»

«Und Sie waren vorher schon einmal verheiratet?»

«Ja», antwortete Helen Kaiser nach einigem Zögern.

«Haben Ihre Kinder noch Kontakt mit ihrem leiblichen Vater?»

«Was spielt denn das für eine Rolle?»

«Alles spielt eine Rolle, Frau Kaiser. Viele Entführungen werden von Elternteilen verübt, die sich um ihre Rechte betrogen fühlen.»

«Manfred würde das nie tun.»

«Haben Lukas und Lorena noch Kontakt zu ihm?», wiederholte Nora.

«Nein. Die Kinder wurden nach der Scheidung mir zugesprochen. Er hätte theoretisch das Recht gehabt, sie an jedem zweiten Wochenende bei sich zu haben und zwei Wochen Ferien pro Jahr mit ihnen zu verbringen, doch er hat nie davon Gebrauch gemacht. Er war immer schon ein unabhängiger Mensch gewesen und wollte eigentlich keine Kinder.» Sie machte eine Pause und fügte dann mit leicht bitterer Stimme an: «Als ich dann gleich Zwillinge bekam, hob das seine Laune nicht gerade.»

Wieso hatte Nora das Gefühl, Frau Kaiser lüge? «Ich verstehe. Und Sie selbst stehen noch in Verbindung mit ihm?»

«Nein», sagte Helen Kaiser eine Spur zu schnell. «Das letzte Mal, als wir uns sahen, war im Gerichtsgebäude nach der Scheidung. Er reist viel. Uns beiden liegt nichts mehr an dieser Beziehung.»

Nora notierte sich stichwortartig das Gehörte. «Ihren Exmann können wir vermutlich als Täter streichen. Es scheint mir sehr unwahrscheinlich, dass er sich plötzlich um die Kinder kümmern sollte, wenn sie ihn all die Jahre nicht interessiert haben.»

«Das sagte ich Ihnen doch.»

«Ich muss jeder Spur nachgehen, Frau Kaiser. Deshalb muss ich Sie auch fragen: Wie steht es um Ihre jetzige Ehe?»

«Wie bitte?», fragte Frau Kaiser empört.

Und ihr Mann fügte etwas lahm hinzu: «Also wirklich.»

«Es tut mir leid», meinte Nora. «Aber könnte es sein, dass Ihre Kinder unglücklich waren und von zu Hause fortgelaufen sind?»

«Auf keinen Fall!», stiess sie aus. «Unsere Ehe ist harmonisch, und Lukas und Lorena würden uns nie so etwas antun! Ausserdem roch das Zimmer merkwürdig, das habe ich Ihnen doch schon erzählt! Süsslich. Nach irgendeinem Narkotikum. Da war jemand drin, das weiss ich hundertprozentig!»

«In Ordnung. Fehlt etwas von den Kindern? Haben die Täter etwas aus ihrem Zimmer mitgenommen? Kleider? Spielsachen? Irgendwas?»

Herr Kaiser nickte. «Der Bär fehlt.»

«Ein Teddybär», erklärte seine Frau, und das Beben in ihrer Stimme wurde wieder stärker. «Ein grosser Teddybär, der ein rotes Herz aus Stoff in seinen Armen hält.»

«War das ihr Lieblingsspielzeug?»

«Nein, im Gegenteil. Die beiden haben den Teddy von ihrem Onkel bekommen und nie damit gespielt. Lukas ist vernarrt in seine Oldtimer, und Lorena macht sich nicht viel aus Plüschtieren. Sie liebt Bücher.»

«Das heisst, die Kinder hätten den Bären nicht ausgewählt, wenn sie etwas hätten mitnehmen dürfen?»

«Bestimmt nicht.»

«Dann wird der Täter –»

«Die Täter!», warf Herr Kaiser dazwischen. «So was macht doch nicht einer allein! Sie schrieben doch: ‹Wir beobachten Sie!›»

«Das kann ein Bluff sein. Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall wird der Täter oder werden die Täter den Bären selbst eingesteckt haben.»

«Wieso ist das wichtig?» Herr Kaiser schaute Nora hinter seiner dünnen, silbernen Brille erstaunt an.

«Bei einem Verbrechen geschieht nichts ohne Grund», erklärte Nora. «Entweder der Entführer hat viel Erfahrung in Kidnapping und weiss, dass die Opfer eher ruhig bleiben, wenn irgendetwas sie an ihr Zuhause erinnert, und sei das nur ein Stoffbär.»

«Oder?», fragte Frau Kaiser atemlos.

«Oder», fuhr Nora fort, «der Täter kennt Ihre Kinder und will ihnen nicht wirklich schaden.»

«Wie meinen Sie das, er kennt unsere Kinder! Wer sollte das denn sein?», rief sie aus.

«Ein Nachbar, Lehrer, Sporttrainer… Das werden wir hoffentlich sehr bald herausfinden. Und jetzt erzählen Sie mir bitte alles über Lukas und Lorena, was ich wissen muss. Wie alt sind sie? Welches sind ihre Freunde? Was mögen sie und was nicht? Haben sie irgendwelche Krankheiten oder Allergien? All diese Dinge.»

Während Kaisers abwechselnd berichteten, machte sich Nora Notizen. Als sie fertig waren und Nora bereits drei A4-Seiten vollgeschrieben hatte, sagte sie: «Nun bräuchte ich noch Ihre Fingerabdrücke.»

Helen Kaiser wurde bleich. «Jetzt gehen Sie zu weit, Frau Tabani! Verdächtigen Sie uns im Ernst, das Ganze nur inszeniert zu haben?» Ihre goldenen Ohrringe vibrierten, der Hauch eines Jasminparfüms wehte herüber.

«Natürlich nicht», beeilte sich Nora zu sagen. «Doch Sie beide haben den Zettel des Entführers berührt. Wenn ich Ihre Fingerabdrücke habe und sie ausschliessen kann, bleiben diejenigen des Täters übrig.»

Sie hielt ihnen Stempelkissen und Fingerprinting-Formular hin, und Herr und Frau Kaiser drückten einen Finger nach dem anderen in die schwarze Farbe und dann aufs vorgesehene Quadrat auf dem Papier.

Herr Kaiser murmelte: «Wenn das nur kein Fehler ist, Helen. Wenn das nur kein grauenhafter Fehler ist, der die Kinder in Gefahr bringt.»

«Ich könnte nicht damit leben, nichts getan zu haben», gab seine Frau zurück und presste ihren Daumen ins tintengetränkte Kissen. «Du etwa?»

Nora betrachtete das Ehepaar. Wer hier den Ton angab, war auf den ersten Blick klar. Doch stimmte es wirklich? Wie oft hatte sich Nora schon geirrt. Plötzlich musste sie an ihre Eltern denken. Ihr Vater hatte energisch gewirkt, hatte die Dinge angepackt, sich damit viele Freunde und einige Feinde geschaffen, und niemand wäre je auf die Idee gekommen, Noras Mutter hätte mit ihrer introvertierten Art die ganze Familie im Griff gehabt. Nach Vaters Tod belastete Mutters Depression Nora so sehr, dass sie sich eine Weile von ihr zurückzog. Und als Mutter dann in Frankreich ein Häuschen kaufte und ihr Leben dort verbrachte, war Nora erleichtert gewesen. Doch Vaters Tod hatte sie nie wirklich verwunden. Tag für Tag wurde sie mit schreiendem Unrecht konfrontiert, aus jeder Zeitung sprangen ihr die Schlagzeilen über Vergewaltigungen, Kriege und Machtspiele entgegen, und eine dieser Ungerechtigkeiten war der ungesühnte Mord an ihrem Vater. Noch immer war sein Mörder auf freiem Fuss. Noch immer hasste Nora ihn abgrundtief und wusste nicht, gegen wen sich dieser Hass richtete.

«Frau Tabani?», sagte Frau Kaiser und wischte sich die schwarzen Fingerkuppen mit einem Taschentuch sauber. «Ich fragte, wann werden Sie das Aufnahmegerät, von dem Sie uns erzählt haben, ans Telefon anschliessen?»

«Dazu müsste ich zu Ihnen kommen», gab Nora zurück. «Das wollten Sie bis jetzt nicht.»

Frau Kaiser schluckte und sah aus, als wäge sie innerlich ab, welches das kleinere Übel war. Dann sagte sie leise: «Kommen Sie zu uns nach Hause. Montieren Sie das Gerät.»

Herr Kaiser schüttelte verständnislos den Kopf, doch seine Frau wiederholte noch einmal, diesmal lauter: «Montieren Sie es. Fassen Sie diesen Verbrecher.»

Nora sah von einem zum anderen, dann nickte sie. «Ich faxe Ihre Fingerabdrücke der Kriminaltechnikerin, dann fahren wir los. Sie arbeitet auch am Wochenende, wir werden die Resultate schnell erhalten.»

Sie ging mit dem Fingerprinting-Formular in Jans Büro und hatte das Gefühl, die falschen Fragen gestellt, die Hauptsache übersehen zu haben. Ein furchtbarer Gedanke schoss ihr durch den Kopf, und sie wusste nicht, warum sie darauf kam: Waren Kaisers vielleicht gar keine Opfer, sondern Täter? Doch weshalb?

In diesem Moment hörte sie, wie Herr Kaiser die Beherrschung verlor und haltlos zu schluchzen begann. «Ich stehe das nicht durch, Helen», stammelte er. «Ich halte das nicht aus. Unsere Kinder werden sterben.»

Nora kam zurück in den Raum und sah, wie Frau Kaiser ihren Mann etwas steif an sich drückte und mit seltsamem Blick in die Ferne starrte.

Filmriss

Подняться наверх