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Lautlos kletterte Paco Ramirez die Regenrinne hinauf. Bald würde es dämmern. Er hatte die Taschenlampe ausgeknipst und zwischen die Zähne geklemmt. Sein linker Fuss fand sicheren Halt auf einem Mauervorsprung, der rechte schob sich leise zur nächsten Erhebung. Seine mit Noppen versehenen Kunststoffhandschuhe hinterliessen keine Fingerabdrücke. Geschmeidig wie ein Panther bewegte er sich empor.

Er warf einen Blick hinunter, wo Hektor Kant auf dem Rasen stand, und gab ihm ein Zeichen mit nach oben gerichtetem Daumen. Hektor gehorchte und kam hinterher. Seine Glatze schimmerte in der frühmorgendlichen Dunkelheit, sein massiger Körper arbeitete sich erstaunlich wendig nach oben. Er hatte sich im Kraftraum des Gefängnisses nicht nur eine ungeheure Muskelmasse antrainiert, sondern auch eine Ausdauer, die ihresgleichen suchte. Paco hatte ihn erlebt, wie er es mit drei Schlägern gleichzeitig aufgenommen hatte, wie er sich furchtlos in den Kampf gestürzt und ihn gewonnen hatte. «Born to fight», so lächerlich der tätowierte Spruch auf Hektors Hals war, so sehr passte er zu ihm. Er war die perfekte Kampfmaschine, gut abzurichten, verlässlich, ohne die lästige Angewohnheit, selber zu denken. «Born to win» hätte Paco sich auf seine Haut geschrieben, wäre er je so dumm gewesen, sich tätowieren zu lassen.

Er war auf der Höhe des ersten Stockwerks angekommen. Hier schliefen sie, die süssen Kleinen. Das Fenster war einen Spalt breit geöffnet, wie jede Nacht. Damit die Zwillinge frische Luft bekämen. Damit sie gross und stark würden und gesund blieben. Lukas und Lorena, neunjährig, vom Leben verwöhnt, wie es nur die Reichen sind. Er wusste alles über sie. Er kannte ihre hellen Gesichter, als wären es seine eigenen Kinder, er wusste von Lorenas Wangengrübchen, von Lukas’ widerspenstigem Haarwirbel, er kannte ihre Schule, ihre Spielsachen, ihre Lieblingsbücher.

Geschickt schwang er sich aufs Fenstersims und stieg ins Zimmer ein. Hektor kletterte ihm hinterher.

Fluoreszierende Sterne schimmerten von der Zimmerdecke und hüllten den Raum in ein schwaches, grünliches Licht. Von beiden Seiten war leises Atmen zu hören. Paco schaltete die Taschenlampe ein. Der Lichtstrahl tanzte über ein Regal, auf dem neben vielen kleinen Oldtimerautos mehrere Plüschtiere lagen. Ein Elefant, ein Känguru, ein flauschiger Hase und ganz aussen ein weisser Teddy, der ein grosses Stoffherz in seinen Pfoten hielt. Nett. Paco fragte sich, ob er ein Kuscheltier für die Kleinen einpacken sollte, damit sie sich in den kommenden Tagen weniger fürchteten, verwarf den Gedanken aber wieder. Kinder in Angst waren fügsamer. Und hübscher anzusehen.

Der Lichtstrahl tastete weiter einem Schreibtisch mit Farbstiften entlang, über ein Poster des Films «Finding Nemo». Dann streifte er die Silhouette eines Bettes, verweilte auf einem blonden Haarschopf, der unter einem zerwühlten Daunenwulst hervorschaute und sich regelmässig hob und senkte.

Paco nickte Hektor auffordernd zu. Dieser griff in seinen Rucksack und holte die Schutzmasken hervor. Er warf Paco eine hinüber, und beide schnallten sich einen Atemschutz vor die Nase. Hektor nahm das Fläschchen heraus, drehte den Verschluss auf und träufelte eine gehörige Portion der farblosen Flüssigkeit auf zwei Taschentücher. Augenblicklich wurde das Zimmer von einem stechenden, süsslichen Geruch erfüllt, der durch die Masken drang. Paco fühlte einen Anflug von Schwindel.

«Los jetzt!», befahl er. «Bevor wir selber zusammenklappen.»

Hektor trat einen Schritt nach vorn. Ein lautes Scheppern war die Folge. Er musste über irgend etwas gestolpert sein, das aus unzähligen kleinen Teilen bestand. Es klang nach Plastik, klapperte und rumpelte mehrere Sekunden, die Paco wie Ewigkeiten vorkamen.

«Verdammt!»

«Hm?», machte es verschlafen vom Bett des Mädchens.

Paco leuchtete mit der Lampe hinunter und sah die Bescherung. Dutzende blaue, rote und weisse Legoteile waren über den Boden verstreut. Das Bauwerk schien eine Burg gewesen zu sein, einzelne Schiessscharten und die Zugbrücke waren noch zu erkennen. Nun sah sie aus wie von Kanonen bombardiert. «Hast du keine Augen in deinem Schädel, du Schwachkopf? Nun mach schon! Das Mädchen zuerst!»

«Mama?», murmelte es nun schläfrig vom anderen Bett.

Hektor machte einen Satz nach vorn, packte die Kleine grob an den Haaren und drückte ihr den durchtränkten Lappen aufs Gesicht. Sie wehrte sich mit erstaunlicher Kraft, zappelte und strampelte und schaffte es, mit ihren Fingernägeln zwei hässliche Kratzer auf seinem Gesicht zu hinterlassen. Ein paar letzte dumpfe Töne gab sie von sich, dann erschlaffte sie. Ihre Arme fielen zur Seite, ihr Kopf kippte nach hinten, ihr Atem war nicht mehr zu hören.

«Scheisse!», flüsterte Hektor aufgeregt, «sie ist tot!» Er hielt das Kind wie eine Marionette in seinem Griff.

«Quatsch! Mit dieser Dosis ist es unmöglich, jemanden –»

«Und warum zum Teufel atmet sie dann nicht?»

«Psst! Nicht so laut, du Trampel!», zischte Paco. Dann betrachtete er das Mädchen mit seinen blonden Locken. Niedlich sah es aus, wie es so in Hektors starken Armen hing. Nein, mehr als niedlich – unverdorben, unberührt. Ein vertrauensvolles, offenes Wesen. Ein Engel, der das Böse der Welt noch nicht erlebt hatte. Paco liebte Unschuld.

Ein leises Pfeifen kam aus dem offenen Mund des Mädchens.

«Na also!», sagte Paco. «Und nun weiter! Bevor der Junge aufwacht.»

Er drehte sich zur anderen Seite. Und da sass er, der Kleine. Stocksteif in seinem Bett. Starrte ihn mit angstverzerrten Augen an.

«Wir tun dir nichts, wenn du schön ruhig bist», versprach Paco und brachte ein Lächeln zustande. Das schien den Jungen noch mehr zu erschrecken, er erwachte aus seiner Erstarrung, verzog seinen Mund zu einer Grimasse und setzte zu einem hohen Ton an.

«Nun mach schon, Hektor!», forderte Paco leise.

Wie ein Bulle stürzte der sich auf den Jungen, presste ihm den feuchten Stoff ins Gesicht und fauchte mit unterdrückter Stimme: «Wieso muss ich immer die Drecksarbeit machen?»

«Weil du mit Muskeln gesegnet bist und ich mit Hirn. Das hatten wir schon tausend Mal. Ist er hinüber?»

Hektor nickte. «Ich wette, gleich tauchen die Alten auf, weil sie den kleinen Satansbraten kreischen gehört haben. Dann kannst du dein beschissenes Hirn sonstwohin –»

«Komm wieder runter. Die Eltern wohnen auf der anderen Gebäudeseite.»

«War’s das? Können wir raus hier?»

«Das war’s. Und, Hektor?»

«Was denn?» Hektor schien den drohenden Unterton bemerkt zu haben. Er schaute kurz zum Jungen, der schlaff quer über der Bettdecke lag, dann wieder zu Paco.

«Wer hat das Sagen?»

«Ist ja gut, ich hab’s kapiert.»

«Hektor.» Pacos Stimme wurde schneidend, als er jedes Wort einzeln betonte. «Wer hat das Sagen?»

«Du hast das Sagen, Paco.»

Ein paar Sekunden herrschte Stille.

Dann packte Hektor das Mädchen, trug es die Regenrinne hinunter und deponierte es wie einen Kartoffelsack an der Hausmauer. Er kletterte erneut herauf und schleppte den Jungen nach draussen. Ihr Transporter stand gleich hinter dem gusseisernen Gartentor, Klebeband und Fesseln waren bereit. Sie würden ihren Zielort erreicht haben, bevor es richtig dämmerte. Sonntagmorgen in Zürichs reichem Stadtkreis 7. Die Strassenlaternen gaben hier nur ein bescheidenes Licht, um die gern in Anonymität lebenden Anwohner nicht mit nächtlicher Helligkeit zu stören. In keinem Haus brannte eine Lampe, alles schlief.

Paco Ramirez blieb noch einen Moment im Kinderzimmer stehen. Ein eisiger Morgenwind blies herein und bauschte den Vorhang auf. Er legte den computergeschriebenen Zettel gut sichtbar auf den Schreibtisch. «Ihre Kinder wurden entführt. Keine Polizei, sonst sehen Sie sie nie wieder. Verarschen Sie uns nicht. Wir beobachten Sie. Details folgen.»

Dann ging er zum Regal und nahm den Teddy mit dem roten Herz mit. Für die armen Kleinen. Er war schliesslich kein Unmensch.

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