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Nora stieg die Treppe von ihrer Mansarde hinunter in den ersten Stock. Noch immer empfand sie Stolz, wenn sie das Schild «Nora Tabani & Jan Berger, Privatdetektive. Ermittlungen und Nachforschungen» las.

Sie betrat ihr Büro und wusste, was sie in den nächsten Stunden zu tun hatte. Jans Arbeitsraum war pingelig aufgeräumt, Computer abgestaubt, Lineal im rechten Winkel zur Schreibtischkante, Kugelschreiber und Markierstifte farblich sortiert. Ganz zu schweigen von der Aufstellung seiner Ordner, deren ausgeklügeltes System Noras Verstand überstieg. Ihr Partner fand mit einem einzigen Griff jede Akte, was bei Nora je nach Situation Neid, Bewunderung oder Befremden hervorrief.

Leicht überfordert betrachtete sie ihren eigenen Arbeitsplatz. Kreatives Durcheinander wäre eine nette Umschreibung gewesen. Hoffnungsloses Chaos traf es besser. Sollte sie zuerst die Protokolle der erledigten Fälle alphabetisch ablegen? Oder chronologisch oder thematisch oder wie auch immer. Jan wüsste das besser.

Vielleicht erst mal die eingetrockneten Kaffeetassen spülen. Das neue Faxgerät anschliessen. Den Stapel ungeöffneter Briefe liess sie für heute noch einmal durchgehen. Sie krempelte die Ärmel hoch und griff nach dem überquellenden Papierkorb, um ihn zu leeren. Nur keinen Stress. Sie hatte ja den ganzen Tag Zeit.

«Nun, white boy, entscheid dich mal, ich hab Wichtigeres zu tun. Brauchst du was, oder willst du mich hier nur verarschen?»

Jeff starrte das schwarze Gesicht mit den leuchtend weissen Zähnen an, und alles vermischte sich. Die Bellevue-Apotheke mit dem Gepäckschliessfach. Das pampige, braune Laub mit Fledermaus und Kahlkopf. Er holte sich in die Realität zurück. Sal. Das hier war Sal, sein Dealer. Und er, Jeff, war ein Drogensüchtiger.

«Hilft…», begann Jeff, räusperte sich, da er vor lauter Trockenheit im Mund kaum sprechen konnte. «Hilft mir das, was du da hast, gegen die Schmerzen?»

Sal lachte auf. «Das will ich hoffen!»

«Dann gib mir was ab.»

«Erst die Kohle.» Sal streckte die Hand aus.

«Ich hab kein Geld.» Jeffs Zähne klapperten, die Worte kamen abgehackt heraus. Seine Eingeweide krümmten sich.

Sal schob die Augenbrauen zusammen. «Dann verpiss dich, white boy. Freundschaftsdienste liegen nicht drin.»

Er wandte sich ab.

Jeff rannte ihm nach. «Sal! Mir geht’s echt beschissen! Wo krieg ich was umsonst? Oder auf Pump? Kenn ich einen, der mir noch was schuldet?»

Sal schnaubte. «Bin ich dein verdammter Sozialarbeiter oder was?» Er kam ganz nah an Jeff heran, Nase an Nase, und sagte sehr leise und sehr langsam: «Ich hab’s nicht gern, wenn man mich zum Idioten macht. Versuch’s mal bei Lenny, der ist grad in Spenderlaune, hat neue Connections.»

«Wer?», stöhnte Jeff. «Wo?»

«Was ist eigentlich los mit dir, Käsegesicht? Hat dir einer eine Knarre übern Schädel gezogen? Siehst echt Scheisse aus, weiss du das? Lenny. Brauerstrasse 11b, und jetzt hau ab, bevor ich deine hässliche Fresse bearbeite.»

Nora kam besser voran als erwartet. Das helle Holz ihres Schreibtisches schimmerte bereits grossflächig zwischen den Papieren hindurch, in die Protokolle und Berichte war so etwas wie Ordnung gekommen, sogar die Pinwand war jetzt von den alten Notizzetteln befreit. Einzig ein grellgelbes Post-it mit der unerklärlichen Aufforderung «B. Tel! Termin!» flatterte noch unter einem Reissnagel. Sie liess es hängen. Es sah so anregend aus. Befriedigt schaute sie sich um. Die vor einem halben Jahr dazugemietete Wohnung wirkte wieder wie ein richtiges Detektivbüro. Jans Zimmer war sowieso perfekt, ihr eigenes immerhin akzeptabel, der Warteraum beim Eingang sogar richtiggehend einladend mit den beiden roten Sesseln aus dem Secondhand-Laden. Jetzt konnten die Aufträge reinkommen.

Jeff stand schlotternd an der Haltestelle, trat von einem Bein aufs andere und versuchte, im Gedächtnis zu behalten, was die alte Dame vorhin gesagt hatte: Tram Nummer 4 bis Limmatplatz. Dann die Langstrasse entlang, danach sei es nicht mehr weit bis zur Brauerstrasse.

Lenny. Der würde ihn erlösen.

Es hatte zu schneien begonnen. Ein eisiger Wind wehte ihm um die Ohren. Mechanisch griff er in seine Hosentasche, zog die zerdrückte Zigarettenpackung hervor und zündete sich mit zittrigen Fingern die einzige Zigarette an, die seine Gefangenschaft heil überstanden hatte. Die anderen waren zu Papier- und Tabakbröseln geworden. Gierig zog er daran, rauchte sie bis zum Filter hinunter, warf die Kippe auf die Tramschienen. Das Tram kam, nur wenige Fahrgäste waren darin, er stieg zuhinterst ein und hielt sich krampfhaft an einer Stange fest. Er setzte sich nicht, blieb am Fenster stehen, um eine mögliche Billettkontrolle früh genug zu bemerken. Es kam ihm so vertraut vor, als hätte er es immer schon getan, als wären gewisse Verhaltensmuster in ihm gespeichert, in seinen Zellen eingraviert, Amnesie hin oder her. Sein rascher Blick in alle Richtungen, sein Misstrauen, als er einen Mittvierziger mit Ledermappe entdeckte, der sich unauffällig umsah wie ein Kontrolleur, sich dann aber als harmlos erwies; sein sechster Sinn für Gefahr – all das war so bekannt. Er musste seit Jahren diese Art von Leben führen.

Das Tram ruckelte los, der Boden unter Jeff verwandelte sich in ein schwankendes Schiff, er hatte Angst, vom Meer überrollt zu werden, presste seine Hände an die Schläfen, versuchte, an irgendetwas anderes zu denken als an den Schmerz, der seinen ganzen Körper peinigte. Seine Sehnen waren zum Zerreissen gespannt. Sein Blut raste beissend durch seine Adern. In seinem Kopf tanzten Irrlichter. Das war also ein Entzug. Sterben wäre besser gewesen.

Er starrte nach draussen, wo Schaufenster von Kleider-, Souvenir- und Uhrenläden an ihm vorbeirasten, ein verwirrendes Kaleidoskop von Farben und Formen. Eine doppeltürmige Kirche. Menschen, Hunde, Fahrräder. Eine Stadt am Aufwachen, fremd, so fremd. Er schloss die Augen, rieb sie, riss sie wieder auf, schaute auf die andere Seite. Ein Fluss. Vier Ruderer in zitronengelben Trikots in einem Sportboot. Enten. Schwäne. Raben. «Central», ertönte die Stimme aus dem Lautsprecher, dann quietschte das Tram über eine Brücke. «Hauptbahnhof.»

Zwei Jugendliche stiegen ein, die Jeff einen schnellen, wissenden Blick zuwarfen. Einer von ihnen hatte violette Strähnen in seine Haare gefärbt. An der Art, wie die beiden miteinander sprachen, wie sie sich bewegten, erkannte Jeff intuitiv die Seelenverwandtschaft. Zwei Junkies. Süchtige, wie er. Ausgestossene der Gesellschaft.

Wie hatte es nur so weit kommen können mit ihm? Wie war er in diesem Sumpf gelandet? Er hätte verzweifeln können über sein verpfuschtes Leben. Über das er nichts wusste. Dealte er mit Drogen? Raubte er alten Damen die Handtaschen? Brach er in Arztpraxen ein? Würde er es je erfahren?

Erst jetzt, zuhinterst im Tramwagen, wo ihn niemand beobachtete, wagte er es, seine Hemdärmel hochzukrempeln und sah an beiden Armen die Einstiche. Dutzende roter Punkte, verkrustetes Blut überall, Schorf, Striemen, blau unterlaufene Stellen, die seine Armbeugen in eine Landschaft der Selbstzerstörung verwandelten.

Der Junkie mit den bunten Strähnen drehte sich um, machte eine fragende Handbewegung in Jeffs Richtung. Jeff verstand. Das eingravierte Muster. Er schüttelte den Kopf. Er brauchte nichts von den beiden, er hatte Lenny.

«Limmatplatz», verkündete die Stimme aus dem Lautsprecher.

Jeff stieg aus, schleifte seine Beine über den Platz, humpelte über die Kreuzung und quälte sich durch die Langstrasse. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Hier befand er sich in einem ganz anderen Stadtquartier. Es gab viele von seiner Sorte. Immer wieder wurde er gefragt, ob er Stoff brauche, immer wieder schüttelte er den Kopf. Einer, der ihn zu kennen schien, winkte ihm zu. Jeff grüsste halbherzig zurück und ging durch eine graffitiversprayte Bahnunterführung. Kam an zwei Huren vorbei, die so aussahen, als könnten sie sich nach einer langen Nacht kaum mehr auf den Beinen halten, an Dealern, Stripteaselokalen, Kebabbuden. Ein Mann mit schwarzem Schnauzbart öffnete seinen Teppichladen, aus dem es nach Wasserpfeife roch. «Heute Sonntagsverkauf», stand auf einem Plakat, das er an die Scheibe klebte. Dann schob er quietschend das Eisengitter hoch, spuckte vor Jeff auf den Boden und arretierte das Gitter mit einem Holzkeil.

Wo zur Hölle lag diese Brauerstrasse? Jeff fror wie ein Hund. Die verdammten Schneeflocken fielen in wilden Wehen in seinen Nacken, durchnässten sein Hemd, bedeckten seine Haare. Er wankte am McDonald’s und einem Sexkino vorbei, kam an der St.Pauli Bar und der Piranha Bar vorüber. Und da, endlich, die gesuchte Strasse. Hinter einem thailändischen Restaurant ein dunkler Backsteinbau, die Nummer 11b. Nicht sehr gross, etwas zurückversetzt. Die ebenerdigen Fenster waren Kellerluken, eine davon zerbrochen, spitze Glaszacken ragten sternförmig zur Mitte. Vier Klingeln waren neben der Tür angebracht. Keine Namen. Neben die oberste Klingel hatte jemand mit einem schwarzen Filzstift unleserliche Initialen gekritzelt, neben der untersten klebten Überreste eines Etiketts, das nicht mehr zu erkennen war, die zwei dazwischen waren leer.

Wo wohnte Lenny?

Die Haustür war nur angelehnt. Jeff trat ein. Muffiges, dunkles Treppenhaus, das einmal weiss gewesen sein musste. Jetzt war es nikotingelb. Es roch nach Bier und kalter Pizza. Ein Stapel alter Zeitungen, kreuz und quer aufeinandergeschichtet, lag links vom Eingang, daneben ein kaputter, aufgespannter Schirm in spinatgrün.

Jeff kämpfte sich die Treppen hoch. Es war ihm völlig egal, wildfremde Leute aus ihren Wohnungen zu klopfen, wenn nur Lenny darunter war. Aufs Geratewohl hämmerte er an die erste Tür, auf der ein Kleber mit der Aufschrift «fuck off or die» stand. Aus dem Innern dröhnte ein Fernseher.

Es dauerte ein paar Sekunden, dann riss ein übergrosser Dicker mit nacktem Oberkörper die Tür auf. «Was?», bellte er.

«Bist du Lenny?», brachte Jeff hervor.

«Seh’ ich so aus? Kannst du nicht lesen? Hier!» Er tippte erst auf den Kleber, dann auf Jeffs knochigen Brustkorb. «Das gilt auch für dich!» Er schmetterte die Tür ins Schloss.

Jeff hörte die schlurfenden Schritte, bis sie im Fernsehlärm untergingen. Er stieg einen Stock höher, klopfte, wartete, polterte mit den Fäusten an die Tür – nichts. Gott, dachte er, falls es dich gibt, mach, dass Lenny zu Hause ist und mir hilft.

Im dritten Stock öffnete ihm endlich ein drahtiger Typ mit verschlafenem Blinzeln. «Jeff, du? Ich dachte, die hätten dich gekriegt.»

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