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ОглавлениеNachdem Nora fertig gefrühstückt hatte, kam Gregor, ihr Chamäleon, an die Reihe. Sie füllte den Fressnapf in seinem Terrarium mit appetitlichen Heuschrecken, das Trinkgefäss mit frischem Wasser und brachte etwas Ordnung in seine Umgebung. Die Kletterwurzel schob sie mehr nach rechts und verteilte die künstlichen Lianen strategisch besser unter dem Glasdach.
Gregor dankte es ihr mit Nichtbeachtung. Er hatte sich am höchsten Ast festgekrallt, seine Glupschaugen starrten bockig geradeaus, sein grün-gelber Nasenhöcker ragte arrogant zum Himmel. Nora seufzte. Ihr Chamäleon hatte einen etwas schwierigen Charakter. Aber sie war zuversichtlich, irgendwann würde Gregor schon auftauen. Bis dann hiess es durchhalten und an der Einseitigkeit der Beziehung nicht verzweifeln.
Er keuchte, japste nach Luft, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab, hörte die besorgten Stimmen der Frau und des Bahnarbeiters, vernahm das Wort «Polizei» und wusste mit absoluter Sicherheit, dass er damit nichts zu tun haben wollte. Er schüttelte benommen den Kopf, brachte ein heiseres «keine Bullen, alles in Ordnung» hervor, das bei den beiden ungläubiges Staunen auslöste. Noch immer hielten sie ihn fest, sprachen beruhigend auf ihn ein, der Bahnarbeiter zückte sein Handy und machte Anstalten zu telefonieren. Alles drehte sich vor seinen Augen. Er stiess die helfenden Arme von sich, schrie «lasst mich endlich in Ruhe!» und wankte dem Perron entlang.
Wo war er?
Kleiner Quartierbahnhof, drei Geleise, die in beiden Richtungen in einem Tunnel verschwanden, moderne Architektur. Zwischen stählernen, geschwungenen Trägern, die eine gewölbte Betondecke trugen, las er die weisse Schrift auf blauem Grund: Zürich Stadelhofen.
Nie gehört.
Zürich, das wusste er, lag in der Schweiz, diese in Europa, das sich von Lappland bis Portugal, von Island bis Griechenland zog; sieben mal sieben war neunundvierzig; die drei Grundfarben waren rot, blau und gelb; die Beatles hatten sich 1970 getrennt; die Titanic war gesunken, der Himalaya 8846 Meter hoch, und Wale waren Säugetiere und keine Fische. Alles noch da. Alles, ausser ihm selbst.
Er griff in seine Hosentasche. Kein Ausweis, kein Name. Etwas Kleingeld fand er, ein Stück Schnur, ein Taschentuch, an dem Blut klebte, eine Streichholzschachtel und eine zerknautschte Packung Marlboro.
Er stolperte eine Rolltreppe hinunter, welche in eine Art Einkaufsstrasse unter dem Bahnhof führte, kam an einer Boutique mit farbigen Winterjacken vorbei, einem hell erleuchteten Coop, aus dem es nach frischen Backwaren roch. Vor dem Eingang lagen zwei leere Coladosen. Alle anderen Geschäfte waren geschlossen, der Kiosk, die Kleiderreinigung, die Buchhandlung. Die Schaufenster waren voll mit Weihnachtsdekorationen, überall glänzende Kugeln, goldene Sterne, kleine, kitschige Christbäumchen, auf denen fette Engel sassen und Nikoläuse aus Schokolade. Doch kein Mensch ausser ihm in diesem ausgestorbenen Untergeschoss. War heute Weihnachten? Oder Silvester?
Und warum hatte er solche Schmerzen? Überall, am ganzen Körper. Jetzt hatte er doch genügend Sauerstoff. Hatten ihn die beiden Schläger so übel zugerichtet? Er brauchte eine öffentliche Toilette, musste sich anschauen, seinen Körper kontrollieren, Wasser trinken. Eine dunkle Welle schwappte in ihm hoch, und er brauchte einen Moment, bis er merkte, dass es Angst war. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung. Er lief im Kreis, sah sich um, eilte an einem Kopiergeschäft vorbei und einem Coiffeursalon, an dessen Glastür orthographisch falsch stand, man könne sich auch ohne Anmeldung die Haare schneiden lassen. Während er das WC suchte, fragte er sich, weshalb ihn die Orthographie interessierte. War er womöglich Lehrer? Kaum, er fluchte zu viel, Scheisse noch mal. Er irrte weiter, schaute in die Auslagen der Läden, die Seite an Seite aneinandergereiht und mit Unwichtigem und Unnötigem gefüllt waren für einen, der nicht wusste, wer er war.
Dann fand er die Herrentoilette. Drei Waschbecken, weisse Kacheln. Er eilte auf den Spiegel zu. Und blickte in ein vollkommen fremdes Gesicht. Das erschütterte ihn zutiefst. Irgendwie hatte er erwartet, dieser ganze Horror würde sich augenblicklich auflösen, wenn er nur wieder sein vertrautes Äusseres gesehen hätte. Die Gedächtnislücke würde sich als kurzer, aber verständlicher Aussetzer herausstellen, entstanden in einer aussergewöhnlichen Situation, der er zum Glück entronnen war. Er würde heimkehren zu Frau und Kindern, sich im Büro bei seinem Boss für sein Fehlen entschuldigen und den Alltag wieder in den Griff kriegen.
Doch dieses Gesicht, das ihn anstarrte, war nicht das Gesicht eines zufriedenen Ehemannes und Vaters, nicht das eines Büroangestellten – es war eine bleiche, totenkopfähnliche Maske eines Kerls Ende zwanzig. Eingefallene Wangen, tiefe Augenringe, ausgetrocknete, spröde Lippen. Er sah aus wie einer, der direkt aus der Unterwelt kam.
Er fuhr sich mit den Fingern über seine Bartstoppeln, strich durch seine strähnigen, maisgelben Haare und konnte den Blick nicht von diesen Augen lassen. Er weigerte sich, sie als die seinen anzuerkennen. Dieser Mann im Spiegel war nicht er! Das war ein Fremder, ein Niemand. Er befeuchtete seine Hände, wischte sich das Blut vom Kopf und zuckte zusammen. Auf seiner Stirn klaffte eine hässliche Delle.
«Darf ich mal, bitte!», drängte ein älterer Herr, der eingetreten war, und drehte den Wasserhahn auf. «Andere wollen sich auch mal die Hände waschen», fuhr er fort, sah ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu an und fügte hinzu: «Täte Ihnen auch gut.»
«Tut mir leid. Ich… ich weiss nicht, wer ich bin.» Als würde das seinen Zustand erklären. Er musste sich idiotisch anhören.
Doch es entlockte dem Älteren ein Schmunzeln. «Ja, ja, ich weiss, was Sie meinen, geht mir manchmal auch so.» Das Lächeln erstarb so schnell, wie es entstanden war, so, als hätte er dieser seltsamen Vogelscheuche schon zu viel Freundlichkeit entgegengebracht. Der Herr trocknete sich die Hände und verliess die Toilette.
Nun war er, der Namenlose, wieder allein. Seine Schmerzen wurden immer schlimmer. Er zitterte, sein Körper zog sich krampfhaft zusammen. Was um alles in der Welt war los mit ihm? Er sah nicht nur furchtbar aus, er fühlte sich auch furchtbar. Er war krank, das musste es sein. Mit einem Mal war er überzeugt, an Diabetes zu leiden und ohne Insulin zu sterben. Natürlich! Er war komplett unterzuckert. Daher diese Schmerzen. Er musste eine Apotheke aufsuchen, dringend. Hatte er erst mal sein Insulin, würde er wieder klar denken können und seine Erinnerungen zurückbekommen.
Er quälte sich die Rolltreppe hoch, verliess den Bahnhof und warf einen Blick auf die Uhr gegenüber: Es war halb neun. Welcher Monat? Welches Jahr? Jedenfalls irgendwann um Weihnachten, November oder Dezember. Zwischen pampigem Laub lagen Reste halb geschmolzenen Schnees, kleine, schmutzige Häufchen, in welchen die Hunde ihre gelben Spuren hinterlassen hatten. Der Himmel über ihm war bedeckt mit grauen Wolken und Nebelfetzen. Es roch nach Sonntagmorgen. Er wusste nicht, wie er darauf kam, aber plötzlich war er sich sicher. Diese Verschlafenheit der Stadt, die geschlossenen Geschäfte, das Fehlen von Verkehrslärm und Kindergeschrei – es musste Sonntag sein.
Ein einsames blaues Tram der Linie 11 quietschte mit einem einzigen Fahrgast um die Kurve, dahinter tuckerte ein oranger Putzwagen und fegte aufgeweichte Zigarettenstummel vor sich her. Er überquerte einen parkähnlichen Platz. Ein paar Punks lümmelten frierend auf mit Zeitungen belegten Bänken herum und rieben sich den Morgenmief aus den Augen, zwei zerzauste Hunde spielten mit einer Bierflasche.
Er zog sein rechtes Bein nach, sah an seinen zerschlissenen Hosen hinunter und entdeckte getrocknetes Blut auf Kniehöhe. Dann kam er an einem grossen, halb vereisten Brunnen vorbei, verscheuchte dabei ein paar Tauben und bog rechts ab. Er erreichte eine Strasse, die nicht von Autos befahren war. Tramschienen liefen ihr entlang und mündeten weiter vorn in eine überdachte Haltestelle. Auf der anderen Strassenseite war eine grosse, morastige Wiese. Abgasgraue, aufgeschichtete Schneehaufen waren an den Rand eines Steinmäuerchens geschaufelt worden. Daneben standen Hunderte kleinere und grössere Christbäume zum Verkauf. Weihnachten war also noch nicht vorbei.
Hinter der Wiese erkannte er einen See und in der Ferne einen verschneiten Berg, auf dessen höchstem Punkt eine Art Antenne in den Himmel ragte, nur undeutlich zu sehen zwischen den Nebelschwaden. Einige Sonnenstrahlen fanden ihren Weg durch die feuchte Luft in die Stadt. Das musste Zürich sein.
Zürich. Vollkommen unbekannt.
Eine Woge von Schmerz überwältigte ihn. Er stützte sich an einer Wand ab. Ein Mann, der seinen Dalmatiner an straffer Leine hielt, runzelte die Stirn, eine dünne Frau, die an ihm vorbeijoggte, starrte ihn abschätzig an, und er rief ihnen hinterher: «Noch nie einen Diabetiker gesehen?»
Er rappelte sich auf, wankte weiter, kam an einem Kiosk vorüber, einer Pizzeria, einem Kino. Endlich. Neben einem kleinen Tabakladen fand er die Bellevue-Apotheke, die von sich behauptete, Tag und Nacht geöffnet zu sein. Sie war gerammelt voll. Wieso mussten sich all die Verschnupften und Verstopften ausgerechnet den Sonntagmorgen für ihren Apothekengang aussuchen? Er drängte sich mit den Ellbogen an zwei Frauen vorbei ins Innere und stolperte vor die hölzerne Theke.
«Bitte…», krächzte er.
«Hinten anstehen», fauchte eine Grauhaarige empört und wies mit ihrem arthritischen Zeigefinger Richtung Tür.
«Ich bin ein Notfall!», brachte er heraus und konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten.
«Das sind wir alle, junger Mann», gab sie eisig zurück, «ich sagte: hinten anstehen!»
Er wich zurück. Neben einem kleinen Waschbecken standen Gläser auf einem Tablett. Er nahm sich eins, füllte etwas Wasser hinein und trank mit gierigen Zügen. Verschluckte sich, spuckte aus, liess sich auf einen Stuhl fallen und versuchte, die missbilligenden Blicke zu ignorieren. Er starrte auf ein Tischchen mit Werbebroschüren, auf denen eine lachende Familie abgebildet war. «Fühlen Sie sich geschwächt?», stand darunter. «Ginseng hilft.»
Kalter Schweiss tropfte ihm vom Gesicht, seine Zunge fühlte sich schwer und dick an, sein Herz raste. Er würde hier krepieren! Vor den Augen rheumatischer Greise und übernächtigter Teenies, die sich über die Vorzüge der neuesten Pickelsalbe aufklären liessen. Seine Zähne begannen hörbar zu klappern, er zog seinen Hemdkragen höher. Wieso trug er keine Jacke, Teufel noch mal? Wo waren seine Handschuhe, seine Mütze, sein Schal? Saukälte in diesem Laden. Warum drehte keiner die Heizung auf, was war bloss los mit allen? Wo blieben die mit der Insulinspritze, die müssten doch sehen, wie es ihm ging, die konnten doch nicht einfach… Das Licht war so hell, die Geräusche so laut, alles drehte sich in seinem Kopf. Die Gesprächsfetzen aus den viel zu weit geöffneten Mündern der Kunden jagten spitz und scharf in seine Ohren, und es stank, es stank ganz grässlich hier drin, wonach, konnte er nicht feststellen. Alle hatten sich gegen ihn verschworen, wollten ihn sterben sehen, das war doch nicht normal! Wo ging’s hier zum Ausgang? Alles kreiste, schwankte, schrillte, gellte, er zog sich vom Stuhl hoch, wankte zur Theke, schob einen Mann grob zur Seite und packte eine weissgekleidete, extrem Orangehaarige am Kragen. «Insulin!»
Die Frau lächelte unsicher, sah hilfesuchend von einer Seite zur anderen, und erst jetzt merkte er, dass es nicht orange Haare, sondern eine Kappe war, rot, wie die von Rotkäppchen. Da eilte eine andere herbei, braun, mit tiefliegenden Augen, öffnete ihr Gebiss und dröhnte: «Ihr Rezept bitte», und ihre Zähne wurden grösser und reissender, wurden zu den Zähnen eines Wolfes. Sie zog die Lefzen hoch, ihr weisser Kittel wurde zu einem braunen, zottigen Fell, und wo war Rotkäppchen? Er stiess den Wolf von sich weg, brüllte: «Ich habe kein Rezept!» Das war ein Alptraum, manifest gewordener Nachtmahr eines zornigen Gottes – was geschah hier mit ihm? Wer waren all die Leute? Was schauten die ihn an, als wäre er ein Aussätziger? Endlich kam einer. Das musste der Jäger sein, er fasste den Wolf, rettete die Grossmutter, fragte Rotkäppchen: «Macht er Ihnen Probleme?» Sie nickte, der Jäger zog ihn zur Seite, jetzt war er, der Namenlose, allein mit ihm und hauchte seinem Retter zu: «Ich brauche Insulin! Oder etwas gegen die Schmerzen!»
Der Jäger rümpfte die Nase. «Ich kenne Sie, junger Mann. Sie versuchen es immer wieder, aber jetzt reicht’s. Verlassen Sie bitte unsere Apotheke!»
«Mörder!», schrie er, «ihr wollt mich alle umbringen! Ihr wollt –»
«Halt die Klappe, Jeff!», zischte ihm eine Stimme ins Ohr.
Er drehte sich um und blickte in ein dunkelbraunes Gesicht. Begriffsstutzig starrte er es an. Hatte er eben seinen Namen erfahren? Hiess er Jeff? War er Amerikaner, Engländer, Austra –
«Hey, white boy!», machte der Dunkelhäutige, «hörst du wohl auf, mich so anzuglotzen, als wär ich ein verdammtes Gespenst?»
«Heisse ich Jeff?», krächzte er, und sein Rücken brach fast vor lauter Schmerz. Rotkäppchen und der Jäger kümmerten sich um die anderen Kunden, der Wolf war verschwunden.
«Was?»
«Heisse ich Jeff? Ist das mein Name?»
«Natürlich, du Blödmann! Mach nicht so einen Aufstand. Ich hab was für dich, komm raus.»
Der Fremde zog ihn am Ärmel um die Apotheke herum, an einem grünen Marronihäuschen vorbei in eine Seitengasse, wo er stehen blieb, sich kurz umschaute und dann ein durchsichtiges Plastiktütchen aus der Innentasche seiner Jacke holte. Ein weisses Pulver war darin. «Erstklassige Ware», sagte er. «Thai-Sugar.»
«Was um alles in der Welt ist das?», fragte er, der nun Jeff hiess. «Und wer bist du?»
«Willst du mich verschaukeln oder was?» Der andere verdrehte die Augen. «Nur, weil du auf dem Turkey bist, kennst du plötzlich deine Kumpel nicht mehr! Oder bist du jetzt auch einer dieser weissen Arschgesichter geworden, die finden, alle Afrikaner sähen gleich aus? Ich heisse Sal, falls du das nicht mehr weisst! Kommt von Salomon. Heiliger Name, kapiert! Was ist jetzt? Willst du was abhaben? Sechzig Franken das Gramm.»
Jeff schnürte es den Magen zusammen.
Langsam machte das Ganze Sinn. Sein ausgemergeltes Gesicht, seine schmuddeligen Kleider, die leeren Hosentaschen, sein furchtbarer Zustand. Die Puzzleteile fügten sich zu einem Bild des Grauens zusammen. Er hatte nicht nur sein verdammtes Gedächtnis verloren und irrte wie ein Zombie durch die fremde Stadt – er war ein Junkie auf Entzug.