Читать книгу Filmriss - Mitra Devi - Страница 9

5

Оглавление

«Nora Tabani? Sind Sie das?», hauchte eine erstickte Stimme in den Hörer.

Nora hatte den Anruf eigentlich gar nicht entgegennehmen wollen. Es machte sich ganz gut, am Sonntag den Telefonbeantworter eingeschaltet zu lassen, damit die Leute wussten, dass sie es mit einer vielbeschäftigten Ermittlerin zu tun hatten, die sich an ihrem wohlverdienten freien Tag erholte. Dann hatte sie an die längst fällige Rechnung des Fitness-Jahresabos gedacht, an den kommenden Lohn für Jan, der trotz ihres kollegialen Verhältnisses ihr Angestellter war, an Gregors sechsbeinige, giftgrüne Delikatessen, die ein Heidengeld kosteten. Und hatte den Hörer abgenommen.

«Ja, am Apparat.»

«Unsere Kinder …», schluchzte eine Frau, «Lorena und Lukas, Zwillinge… sie sind erst neun Jahre alt, sie … ich kann es nicht glauben, es darf einfach nicht wahr sein!» Ein Schluckauf packte die Anruferin, sie hustete und fuhr fort: «Sie sind nicht mehr da, einfach nicht mehr in ihren Betten! Ich habe ein Geräusch gehört und bin nachschauen gegangen, da –»

«Entschuldigen Sie», unterbrach Nora den Redeschwall. «Worum geht es genau? Mit wem spreche ich?»

«Kaiser, Helen Kaiser. Meine Kinder, neunjährig, erst neunjährig», – ihre Stimme nahm einen schrillen Ton an – »meine Kinder sind entführt worden. Es riecht so komisch in ihrem Zimmer. Süsslich. Bitte helfen Sie uns! Da liegt ein Zettel. Keine Polizei, steht darauf. Sie sind doch keine Polizistin, oder? Sie sind doch Detektivin?»

«Ja, das bin ich», sagte Nora und griff nach einem Kugelschreiber. «Erzählen Sie, was passiert ist.»

«Ich habe ein seltsames Geräusch gehört», sagte Frau Kaiser schniefend. «Ich … ich wollte nachsehen, ob die Kinder schon wach sind, aber als –»

«Wann war das?»

«Vielleicht vor einer halben Stunde.»

Nora schaute auf die Uhr und machte sich Notizen. «Was meinen Sie mit seltsam?»

«Es war eine Art Poltern. Dann glaubte ich, einen Schrei gehört zu haben, mein Gott! Ich war mir nicht sicher. Doch ich hatte eine Ahnung. Irgendwie wusste ich, dass etwas geschehen war. Eine Mutter spürt so etwas. Ich ging also ins Kinderzimmer, als ich …» Ihre Stimme brach erneut. Nora hörte einen Mann im Hintergrund: «Lass mich das machen, Helen.» Ein Rascheln drang aus dem Apparat, dann ein Klicken, als werde die Freisprechfunktion angestellt. «Nein, Markus, es sind meine Kinder!»

«Das ist unfair, Helen. Du weisst, ich liebe sie wie meine eigenen.»

«Hallo?», sagte Nora. «Frau Kaiser?»

«Ich bin da. Wir können Sie beide hören. Mein Mann wollte nicht, dass ich Sie anrufe. Keine Polizei, meinte er, bedeute auch keine Privatdetektive. Aber ich sage, wenn der Entführer –»

«Wer sagt denn, dass es nur einer ist!», warf ihr Mann dazwischen. «Vielleicht sind es mehrere, und du bringst unsere Kinder in Lebensgefahr! Wir beobachten Sie, haben sie geschrieben. Häng auf, Helen, häng endlich den Hörer auf!»

«Nein, das werde ich nicht tun! Helfen Sie uns, Frau Tabani. Bitte helfen Sie uns!»

«Hören Sie, Frau Kaiser, Ihr Mann hat recht. Ich bin nicht die richtige Person für eine Kindesentführung. Ich muss Ihnen dringend raten, die Polizei einzuschalten. Sie hat viel mehr Erfahrung und bessere technische und personelle Möglichkeiten, um –»

«Nein!», rief Frau Kaiser. «Haben Sie denn nicht zugehört? Wir beobachten Sie! Der Entführer würde das erfahren, er würde meinen Kindern –»

«Unseren Kindern!»

«– unseren Kindern etwas antun, sie womöglich gar …» Ein erneutes Schluchzen kam aus dem Hörer, dann vernahm Nora Herrn Kaisers Stimme. «Verzeihung, Frau Tabani. Unser Anruf war ein Irrtum. Meine Frau wird jetzt auflegen, und Sie werden uns einfach vergessen.» Seine tränenerstickte Stimme klang, als ginge ihm das Ganze ebenso nah wie seiner Frau.

«Stop!», rief Nora, «warten Sie! Die ersten vierundzwanzig Stunden nach einem Kidnapping sind die wichtigsten. Danach verliert sich eine Spur sehr schnell. Falls Sie jetzt sofort handeln und die Polizei benachrichtigen, besteht eine gute Chance, dass –»

«Wenn wir das tun», rief Frau Kaiser, «gefährden wir das Leben unserer Kinder! Können Sie das verantworten? Ich habe Ihren Namen im Telefonbuch gefunden. Ich suchte nach einer Privatdetektivin, einer Frau. Wegen des Einfühlungsvermögens, wenn es um … wenn es um Kinder geht. Sie waren die Einzige. Lassen Sie uns nicht im Stich.»

Nora fühlte sich hin- und hergerissen. Was, wenn sie dem Ganzen nicht gewachsen war? Wenn aufgrund ihres Fehlers den Kindern etwas zustiess? Das wäre grauenhaft. Andererseits war es tatsächlich möglich, dass die Entführer Kaisers beobachteten und bei Nichtbefolgen ihrer Warnung die Kinder töteten.

Eine Sekunde herrschte angespannte Stille, dann platzte das Ehepaar gleichzeitig heraus. Er sagte: «Wir legen jetzt auf.» Sie schrie hörbar verzweifelt: «Helfen Sie uns! Wissen Sie überhaupt, wie es ist, um ein Familienmitglied zu bangen?»

Ein Messerstich fuhr in Noras Herz. Das Bild ihres Vaters blitzte auf. Carlo Tabani. Erschossen mit seiner eigenen Waffe. Und Noras Leben danach nie mehr dasselbe. Ihre Entscheidung war gefallen. Sie würde alles tun, was möglich war, um die Kinder heil nach Hause zu bringen. «Ich übernehme den Fall», sagte sie und spürte die Entschlossenheit, die sich in ihr ausbreitete. «Wo wohnen Sie?»

Ein erleichterter Atemstoss kam aus dem Hörer, dann gab Frau Kaiser eine Adresse oberhalb des Toblerplatzes an.

Nora kritzelte den Strassennamen aufs Papier. «Ich komme zu Ihnen, um mir den Tatort anzuschauen.»

«Ausgeschlossen!», gab Kaiser zurück. «Die Entführer könnten unser Haus im Visier haben.»

«Die Täter kennen mich nicht», wandte Nora ein.

«Nein, die Drohung nehmen wir ernst», sagte auch seine Frau und schien sich nun, da sie mit Noras Hilfe rechnen konnte, etwas gefasst zu haben. «Ausserdem graut mir davor, dass jemand davon Wind bekommt. Ich stamme aus einer ehrwürdigen…» Sie zögerte kurz und fuhr dann fort: «Für meine Familie wäre es sehr schlimm.»

«Ich verstehe.»

«Wir werden Sie aufsuchen.»

«Das ist ein kapitaler Fehler, Helen», warf Kaiser ein, aber seine Stimme verriet die Resigniertheit des Verlierers.

«Markus!», drängte Helen Kaiser. «Wir müssen jetzt zusammenhalten!»

Ein Seufzer war zu hören, dann seine apathische Stimme. «In Ordnung. Mach, was du willst. Es sind ja deine Kinder.»

Nora konnte buchstäblich fühlen, wie diese Worte Frau Kaiser trafen. In Extremsituationen kam das Beste und das Schlechteste des Menschen ans Licht. Und ganz besonders zeigte sich, wie eine Beziehung beschaffen war.

«Ich schlage vor», sagte Frau Kaiser, um Kontrolle bemüht, «wir fahren unverzüglich zu Ihrem Büro, damit wir das weitere Vorgehen besprechen können. Markus?»

«Einverstanden, Helen.»

«Gut», sagte Nora. «Sie wissen, wie Sie mich finden. Bringen Sie aktuelle Fotos Ihrer Kinder mit, und schauen Sie nach, ob irgendetwas von ihnen fehlt. Kleider, persönliche Dinge, Spielsachen. Das kann uns Auskunft über die Persönlichkeit der Täter geben. Es eilt. Jede Stunde, die vergeht, ist eine Stunde zu viel.»

Sie hängte auf und versuchte, Jan zu erreichen. Das war definitiv eine grosse Sache, sie würde auf seine Tatkraft angewiesen sein. Immer wieder hatte er ihr angeboten, auch am Sonntag zu arbeiten, doch noch nie hatte sie davon Gebrauch machen müssen. Jetzt war es Zeit für Jans Sonntagseinsatz.

Sie liess es klingeln, bis sich sein Beantworter einschaltete und sprach ihm eine Mitteilung aufs Band. Darauf versuchte sie es auf seinem Handy, fand auch dort nur die Combox vor und hinterliess ihre Botschaft. Komisch. Sie kannte Jan seit über einem halben Jahr, kurz, nachdem sie sich selbständig gemacht und ihr Detektivbüro eröffnet hatte. Jan war sonst Tag und Nacht erreichbar, seine E-Mails las er stündlich, sein Handy nahm er wahrscheinlich mit ins Bett. Noch nie hatte sie es erlebt, dass er einen Anruf nicht entgegengenommen hatte. Wirklich komisch. Sie startete den Computer, schrieb ihm per Mail: «Bitte ruf mich an, dringend!», dann suchte sie die früheren Kidnapping-Fälle aus der Zeit hervor, als sie noch bei der Kriminalpolizei gearbeitet hatte und las sich ein. Die Aussichten waren nicht erfreulich. Einige Fälle wurden erfolgreich gelöst, viele aber endeten mit Blutvergiessen, wurden nie geklärt, die Verschleppten blieben für immer verschollen.

Kurz schaute Nora aus dem Fenster. Es war hell geworden und schneite dicke Flocken, die wie luftige Wattebäuschchen herniederschaukelten. Ein idyllisches Bild, das ihr unter diesen Umständen wie Hohn erschien. In drei Tagen war Heiligabend. Und irgendwo dort draussen harrten zwei neunjährige Kinder in den Händen von Entführern.

Filmriss

Подняться наверх