Читать книгу Auf Liebe und Tod - Molly Katz - Страница 12

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»Du hast das Frauenhaus gefunden und trotzdem nichts ausrichten können?« fragte Harry aufgebracht.

Ronald Brale, neben Harry auf der Parkbank, lehnte sich zurück. »Es ist nicht gerade eine Kleinigkeit, Harry.«

»Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße.«

Brale hatte sich dessen, was er seine »Klettermaxe-Ausrüstung« nannte, wieder entledigt und trug ein hellblaues T-Shirt und Jeans. Er und Harry saßen auf einer Bank im Carl Schurz Park, und jeder Vorübergehende hätte sie für zwei alte Freunde gehalten, die in einer Sommernacht frische Luft schnappen. Die Tatsache, daß diese Bank unter einer Lampe stand, die nicht funktionierte – wie schon seit anderthalb Jahren, dank der Effizienz der zuständigen Stellen –, verhinderte, daß Passanten Harry erkannt oder sich später an die Szene erinnert hätten. Außerdem war die Zahl der Passanten um drei Uhr nachts recht eingeschränkt, und es handelte sich überwiegend um solche, die es nicht mal bemerkt hätten, wenn das Ungeheuer von Loch Ness hier auf der Bank gesessen und ein Picknick verspeist hätte.

»Und was soll ich jetzt machen?« fragte Brale.

»Wo könnte sie deiner Meinung nach sein? In einem anderen Frauenhaus?«

Brale rieb sich das Kinn. »Möglich. Aber ich habe eine Menge Geld und Beziehungen gebraucht, um sie dieses eine Mal zu finden. Nein ... Ich glaube nicht, daß sie in einem anderen Frauenhaus ist. Ich hab sie zu Tode erschreckt.« Er überlegte einen Augenblick länger. »Ich würde sagen, sie ist abgehauen.«

»Und wohin?«

»Bin ich Hellseher? Keine Ahnung ... vielleicht zu Verwandten? Freunden? Was glaubst du denn, wo sie sein könnte?«

»Wir wissen, daß sie nicht im Krankenhaus ist. Sie hat keine Verwandten, wenn man mal von einer Schwester in Kuba absieht. Und mit der hat sie schon vor Jahren jede Verbindung verloren. Es gibt ein paar Leute ... ein Professor am Johns Hopkins, von dem wir Weihnachtskarten bekommen, eine Freundin in Boston. Sie heißt Julie, äh, Gerstein. Eine Augenärztin.«

»Wie würde sie nach Baltimore oder Boston kommen?«

Das schwache Mondlicht umriß Harrys Züge – das vorstehende Kinn, die perfekte Nase, das dichte Haar, das ihm in die Stirn fiel. Aber statt der liebenswerten, schelmischen Miene, die er immer fürs Fernsehen aufsetzte, sah Brale die Entschlossenheit, die Harry in seinen Tagen als Alleinunterhalter gezeigt hatte, wenn er seine gesamte Energie auf die nächste Vorstellung konzentrierte, auf den nächsten Club.

»Zug, Flugzeug, Auto?« sagte Harry. »Keine Ahnung. Wenn du dich früher zurückgemeldet hättest, hätten wir uns was ausdenken können, du hättest die wahrscheinlichste Strecke überwachen können ...«

»Wenn ich mich schneller zurückgemeldet hätte, dann wahrscheinlich von einer Polizeiwache aus. Du kannst nach einem Mordversuch in einem Frauenhaus nicht einfach davonschlendern. Ich mußte meine Spuren verwischen.«

»In öffentlichen Verkehrsmitteln laufen sie und Josh zu sehr Gefahr, erkannt zu werden«, meinte Harry. »Es sei denn, sie hat Josh irgendwo anders gelassen. Gott, ich wünschte, ich könnte mit ihm reden. Ich brauche ein bißchen Zeit mit ihm, um ihm alles zu erklären. Er weiß nicht genau, was er da gesehen hat.«

»Im Radio hat er sich ziemlich überzeugend angehört.«

Harry hatte denselben Eindruck gehabt, wagte aber nicht, es zuzugeben – weder Brale noch sich selbst gegenüber. Joshs Aussage im Radio hatte ihn erschreckt. Verstand der Junge denn nicht, daß er damit seinen Vater ans Messer lieferte? Wie hatte der liebe, sich nach seinem Vater sehnende Junge ihn plötzlich so verraten können?«

Er war zutiefst wütend auf Josh. Aber diese Gefühle mußten im Verborgenen bleiben – oder Harry würde erheblich größere Schwierigkeiten bekommen, als er jetzt schon hatte.

Zu Brale sagte er nur: »Er ist den ganzen Abend bei Caron gewesen.«

»Die Sache mit dem FBI war übrigens nicht übel«, stellte Brale fest. »Wir wissen also, daß er noch bei Caron war, als sie mit dem Sender telefonierte. Wird sie ihn irgendwo lassen und ein Flugzeug oder einen Bus nehmen? Kann ich mir nicht vorstellen. Nicht, nachdem sie beim Sender angerufen hat, nachdem die Leute wissen, was los ist. Man würde sie immer noch erkennen können; Leute könnten sich an die Geschichte mit dem Hurrikan erinnern. Und du bist der erklärte Liebling der Massen. Für die Öffentlichkeit ist sie nur deine Frau. Also gehen wir mal davon aus, daß sie und Josh immer noch zusammen sind. Welche Möglichkeiten haben sie denn? Mir fallen zwei ein. Sich in New York verkriechen oder die Stadt verlassen, ohne auf öffentliche Verkehrsmittel zurückzugreifen. Würde sie jemand mitnehmen? Wen könnte sie deshalb angerufen haben?

Harry schüttelte den Kopf. Einen Augenblick lang schwiegen beide. Ein Schwarzer ging vorbei und summte vor sich hin.

Brale sagte: »Fangen wir doch mal mit dem was an, bevor wir uns um das wohin oder wie kümmern. Was wird sie jetzt vorhaben? Wie wird sie zurückschlagen wollen?«

»Felhammer oder Julie«, sagte Harry. »Sie braucht einen Arzt, um die Hirntumor-Diagnose abzustreiten, und sie ist unter Ärzten nicht besonders beliebt.«

Brale bemerkte, daß Harry von Diagnose gesprochen hatte, nicht von einer Hirntumor-Geschichte oder Behauptung. Harry schien schon halb davon überzeugt, daß er tatsächlich die Wahrheit sagte.

Aber wenn Harry kein heimlicher Soziopath wäre, würden weder er noch Brale selbst hier frei auf dieser Bank sitzen können und darüber nachdenken, wie sie Harry aus dieser Krise helfen könnten.

Harry hatte eine leichte Unruhe verspürt, als der Schwarze vorbeigekommen war. Die leicht gebückte Haltung, das ziellose Schlendern hatten etwas zu bedeuten.

Er hatte wieder an Josh denken müssen. Dieser verräterische Bengel, der ihn verpetzte und sein Vertrauen mißbrauchte.

Jetzt, nachdem seine Besprechung mit Brale zu Ende war, wartete er nur darauf, daß dieser endlich außer Sichtweite war. Dann setzte er sich selbst in Bewegung, in Richtung Norden. Mit geübter Lässigkeit zwang er sich, nicht zu schnell für diese Tageszeit zu gehen, aber immer noch rasch genug, daß er den Mann, falls er den Park nicht verlassen haben sollte, noch erwischen würde.

Harrys Handflächen kribbelten. Joshs Worte dröhnten in seinem Kopf: »Ich habe es nie jemandem erzählt ... mein Dad hat mich darum gebeten ... Immer hat er geschrien und manchmal Sachen geworfen ... er hat Caron weh getan.« Er spannte die Armmuskeln an und entspannte sie wieder, wiederholte das mehrmals, als wollte er Joshs Angst und Schmerz damit aufsaugen.

Plötzlich hörte er ein Rascheln in der Hecke, dann ein Zischen. Er blieb stehen, lauschte. Er spähte durchs Gebüsch.

Ein Mann urinierte. Aber er war um die zwanzig, mit wirrem Haar und nacktem Rücken, und Harry drehte sich schnell um und ging lautlos weiter.

Schließlich fand er den Schwarzen. Er saß auf der Kante einer Parkbank, die Hände beinahe bescheiden im Schoß gefaltet. Er hatte Spuren von Grau im Haar, die im Licht der nächsten Lampe recht gut zu sehen waren.

Harry hakte ihm den Arm um den Hals und schleppte ihn ins Dunkel hinter der Bank. Die wild um sich schlagenden Hände des Mannes konnten nichts gegen ihn ausrichten.

Das war nicht Harrys ältestes Geheimnis, nicht einmal sein schlimmstes. Aber es war das einzige, von dem absolut niemand je erfahren durfte.

Das erste Mal war es im Frühjahr 1967 passiert. Er hatte eine kleine Wohnung an der East 32nd Street gehabt, hatte aber die meiste Zeit bei seiner damaligen Freundin Hermine an der West 10th verbracht. Hermine war üppig und liebenswert und großzügig, und sie stand gern noch einmal auf und briet ein paar Burger, wenn Harry hungrig um 2 Uhr nachts nach Hause kam, nach seinem letzten Auftritt als Alleinunterhalter.

»Ich bin sowieso wach«, sagte sie immer, wenn Harry sie dankbar umarmte. »Es macht doch keinen Unterschied, ob ich im Bett liege und lese oder am Herd stehe.«

Eines Abends hatte Harry an einem klebrigen Tisch seitlich der Bühne von Snickers, einem Comedy-Club in Brooklyn, gesessen und ohne ein Lächeln darauf gewartet, daß sein Vorgänger, ein aufsteigender Stern namens Darren Davies, endlich mit seiner antisemitischen Tirade fertig wurde. Die Witze hatten Harry so getroffen, daß er aufs Herrenklo geflüchtet war ... und dort waren dann die alten Gefühle zurückgekehrt.

Als er dastand und sich an die verschlossene Tür der winzigen Toilette lehnte und den nicht vom Fichtennadel-Aroma zu überdeckenden Abflußgeruch einatmete, hatte Harry sich an einen ähnlichen Geruch erinnert, an unerträglichen Schmerz, an einen seiner Kindheitstage damals in Craig Head.

Es gab nicht viele Juden in North Carolina, und Harrys Vater Aaron, der seinen Namen von Kravitz in Crane geändert hatte, als er eine Christin heiratete, behielt sein Judentum lieber für sich. Aber als Harry in der zweiten Klasse war, war seine frisch verwitwete Tante Darcy Levy von New York nach Craig Head gezogen und hatte kein Geheimnis aus ihrer Religion gemacht, und dann war alles herausgekommen.

Eines Tages waren Harrys beste Freunde, Sam MacArthur und George Beech, ihm nach dem Nachmittagsunterricht auf die Jungentoilette gefolgt.

»Wir gehen nachher Angeln, ja?« fragte Harry. »Ich muß noch heim und meine Sachen holen.«

Ihm war aufgefallen, daß Sam und George nur dastanden und ihn genau beobachteten, als er den Reißverschluß aufzog und zu urinieren begann.

»Müßt ihr nicht noch heim?« fragte Harry.

»Sieht überhaupt nicht anders aus als unsere«, sagte Sam zu George.

George ließ sich auf die Knie nieder und betrachtete Harrys Penis aus der Nähe.

Plötzlich hatte Harry ein seltsames Gefühl. »Was soll das denn?« fragte er. Er war fertig und machte den Reißverschluß wieder zu.

Sam grinste. »Ein Bericht.«

»Alle in der Klasse wollten wissen, ob deiner am Ende abgeschnitten ist«, sagte Sam. »Weil du doch Jude bist. Sie meinten, George und ich sollten das rausfinden.«

Harry spürte ein Stechen in der Brust. »Halt die Klappe«, sagte er und wurde rot.

»Hol ihn noch mal raus«, schlug Sam vor, »damit George und ich eine Zeichnung davon machen können. Für den Bericht.«

Das seltsame Gefühl brannte weiter. Harry wollte raus aus diesem Alptraum und wieder Pläne fürs Angeln mit seinen besten Freunden schmieden. Er rannte zur Tür.

»Zum Teufel mit euch«, sagte er. »Hört doch auf mit dem Mist. Wir holen jetzt unsere Sachen und –«

In diesem Augenblick hatten sie ihn an den Armen gepackt.

Es waren nicht nur George und Sam. Russ MacArthur, Sams älterer Bruder, wartete draußen im Flur mit zwei anderen aus der sechsten Klasse, Melvin Clark und Jerry Albert. Zu fünft brachten sie Harry runter zum Mantle Beach, zu einer schattigen Lichtung in einem Fichtenwäldchen, auf der Harry und George schon Hunderte von Nachmittagen mit Angeln verbracht hatten.

Sie stießen Harry auf den sandigen, nadelbedeckten Boden. Er schlug mit dem Kopf auf einem Felsen auf, fest genug, daß sich einen Augenblick lang alles vor seinen Augen drehte; und in diesem Augenblick konnte Harry sich und Sam und George sehen, wie sie sonst auf dieser Lichtung waren, ausgestreckt über die Felsen, Angelruten im Wasser. Sie hatten für gewöhnlich eine große Dose Eistee und eine Tüte Kartoffelchips dabei.

Einmal war Harry von einem gewaltigen Ruck an der Angel aufgeschreckt worden. Die beiden anderen waren ebenfalls aufgesprungen, hatten ihn um die Taille gepackt und aufgeregt gebrüllt, während er mit dem Ding gerungen und schließlich einen riesigen, zappelnden Blaufisch aus dem Wasser gezogen hatte.

»Mann!« hatte George geschnaubt.

»Mordsfang.« Sam hatte Harry auf den Rücken geschlagen.

Alle hatten in der Schule mit diesem Abenteuer angegeben.

Und nun lag Harry da, Sand im Mund und Schmerzen im Bauch, in den Sam ihn gerade getreten hatte, und die fünf Jungen sahen ihn an, wie er und seine beiden Freunde damals den Blaufisch angesehen hatten, während sie überlegten, ob sie ihn am Leben lassen sollten.

»Zieht ihm die Hose aus«, sagte Russ und hielt Harrys Arme am Boden. Sam und Melvin bückten sich.

Das Aufflackern eines Streichholzes war zu hören, als Jerry sich eine Zigarette anzündete.

Melvin fragte: »Wollen wir ihn da unten ein bißchen verbrennen? Verbrennt die Haare zuerst. Die stinken.«

»Zweitkläßler haben noch keine Haare«, meinte Jerry.

»Juden schon. Die sind haarig.«

»Der da nicht«, stellte Russ fest, als die anderen Harrys Hose herunterzogen.

Harry schrie und trat mit beiden Beinen zu, aber er hatte keine Chance. Sie stürzten sich auf ihn, drückten ihn zu Boden.

»George«, meinte Russ. »Willst du nur zusehen?«

Aus seiner Position, auf dem Rücken liegend, konnte Harry gerade noch seine geschrumpften Genitalien sehen, die bebten wie der Rest seines Körpers. Er triefte vor Schweiß.

George kam auf ihn zu. Harry beobachtete mit starrem Entsetzen, wie George den nackten Fuß hob und mit der Ferse auf seinen Hodensack trat.

Es fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit dem Schwert durchbohrt. Er bekam keine Luft mehr, dann keuchte er schluchzend und stöhnend. Das Stöhnen wurde zu einem schrillen Schrei, als Jerry mit der Zigarette die Spitze seines zitternden Penis berührte.

Harry stand in der Toilette von Snickers, hielt sich die Ohren zu gegen das Gift, das von der Bühne dröhnte, und er spürte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. Die Gefühle waren wieder da, droschen auf ihn ein, die Wut und der Schmerz.

Damals hatte sich die ganze Schule gegen ihn gewandt; Bewunderung und Freundschaft waren Mißtrauen und Verachtung gewichen. Sam und George waren ihm aus dem Weg gegangen. Mindestens einmal im Monat gelang es Harry nicht, seinen Folterern aus der sechsten Klasse auszuweichen, und wenn sie guter Laune waren, bekam er nur einen Tritt zwischen die Beine oder sie schlugen ihm ein Buch über den Kopf. Einmal zwang Russ MacArthur Harry, eine lebende Kaulquappe zu schlucken, und dann rief er andere Jungen herüber, die zusahen, wie Harry seine beiden letzten Mahlzeiten auf den Bürgersteig erbrach.

Diskriminierung war schon lange kein Thema mehr für Harry. Er hatte seinen Nachnamen wieder in Kravitz geändert und stand mit trotzigem Stolz zu seinem Erbe. Er war in New York. Er hatte Legionen von Freunden, die es auch nicht gestört hätte, wenn er Moslem gewesen wäre.

Aber auf keinen Fall würde er sich die eigene Karriere verderben. Darren Davies hatte in der Hackordnung einen erheblich besseren Platz als er und wurde oft bei Snickers beschäftigt. Sich offen mit dem Mann anzulegen, wäre beruflicher Selbstmord gewesen.

Harry wußte, wem seine Tränen galten.

Nicht den lange verlorenen Freunden.

Er weinte um sich selbst, um das, was er an diesem Abend verloren hatte – seine letzten Prinzipien, seine Selbstachtung.

Zum Ende des Abends hin konnte Harry den Ansturm der Gefühle nicht mehr ertragen. Nachdem die Zuschauer weg und die anderen Künstler zu einem Schwatz an die Bar gegangen waren, stürzte Harry zur Tür. Wenigstens konnte er gehen, ohne Darren noch in den Arsch kriechen zu müssen. Darauf zumindest würde er stolz sein können.

Aber kaum hatte Harry den Club verlassen, fühlte er sich von Darren herzlich an der Schulter gepackt. Harry hatte den sauberen Duft der Frühlingsnacht in der Nase, und er hatte es fast geschafft, wegzukommen und noch eine Spur seines Stolzes zu bewahren, da sagte Darren: »Prima Auftritt heute. Gute Arbeit.« Und Harry mußte antworten: »Du warst auch gut. Wirklich witzig.«

Mit wachsender Übelkeit hatte er in der U-Bahn auf dem Weg zurück zu Hermine gesessen. Aber als er in ihre Straße kam, bemerkte er, daß sein Schritt langsamer geworden war.

Er bemerkte, daß er nicht nur keinen Hunger hatte – er hatte auch keine Lust, mit Hermine zusammenzusitzen, bei ihr zu sein, sie zu lieben.

Er wollte ihr weh tun.

Was für ein Schleimer er doch war, sie immer für sich kochen zu lassen, alles zu nehmen, was sie ihm anbot. Hermine versuchte, ihn in die Falle zu locken. Sie glaubte offensichtlich, daß es sich auszahlen würde, wenn Harry erst einmal gut verdiente.

Je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, daß Hermine vorhatte, ihn zu umgarnen, daß all ihre scheinbar liebenswerten Gesten eigennützigen Motiven entsprangen.

Er ging an dem Haus, in dem sie wohnte, vorüber und lief weiter, um den Block, um den nächsten. Er wurde immer wütender, so wütend, daß er Fleisch unter den Händen spüren wollte, er wollte hören, wie sie erschrocken und schmerzerfüllt schrie ...

Er war jetzt fast wieder an der U-Bahn, aber er hätte auch innerhalb einer Minute vor Hermines Tür sein können, wenn er sich beeilte ...

Etwas sagte ihm, er solle es nicht tun.

Er rannte in die andere Richtung, zur U-Bahn, die Treppe hinunter und zum Bahnsteig, wo er drei Minuten lang auf- und abtigerte, bis ein Zug kam.

Er ging in den Prospect Park, lief dort noch länger umher. Als er unter den Bäumen hindurch den betonierten Weg entlangkam, fragte ihn ein Obdachloser nach Streichhölzern.

Harry setzte an, in die Tasche zu greifen, hielt dann inne, hob beide Hände und legte sie dem Mann um den Hals. Als der Mann entsetzt die Augen aufriß – weiter, immer weiter – hatte Harry gespürt, wie so etwas wie Hochstimmung über ihn kam.

Er hatte losgelassen, zugesehen, wie der Mann zu Boden sackte. Harrys Füße hatten sich fast von selbst bewegt, er hatte mit seinen Lederschuhen auf den sich kaum mehr bewegenden Körper eingetreten.

Leises Wimmern, dann Schweigen.

Harry starrte ihn eine Minute lang an, sah, daß sich die Brust des Mannes hob und senkte.

Er floh.

In der U-Bahn zurück nach Manhattan hatte Harry ein merkwürdiges Gefühl verspürt, das er erst nach einiger Zeit identifizieren konnte: Erleichterung. Das Gefühl hielt sich für Wochen und setzte sich immer wieder über die nur sachte aufsteigende Reue hinweg.

Jetzt waren die Augen des Schwarzen geschlossen, aber nicht freiwillig. Blut lief aus dem Mund des Mannes und über seine linke Hand, auf die Harry getreten hatte.

Harry überprüfte seine eigenen Hände, seine Kleidung, und eilte davon.

Nach so vielen Jahren spürte er den Selbsthaß nur noch direkt nach der Tat. Er wählte sich immer Leute aus, die er für entbehrlich hielt, für unwichtig, und er ließ sie immer am Leben, damit sie gefunden und mit Hilfe seiner Steuergelder wieder zusammengeflickt werden konnten.

Was er immer noch empfand, jedesmal, war diese Erleichterung. Er war dankbar, sie sich auf diese Weise verschaffen zu können – daß er diese Obdachlosen verprügeln konnte, statt sich auf andere zu stürzen: die Kinder... seinen eigenen Sohn ... und normalerweise die Frauen, die ihn liebten.

Normalerweise ...

Aber er hatte immer noch qualvolle Stunden vor sich, bevor die Erleichterung einsetzen würde, Stunden, in denen er noch einmal selbst den Schmerz der Schläge spüren würde, die man ihm damals am Fluß verabreicht hatte, seine ehemaligen Freunde ... und in der Toilette des Clubs, wo er sich so danach gesehnt hatte, an die Spitze zu kommen.

Auf Liebe und Tod

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