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»Ich habe keinen Hunger«, sagte Josh.

»Ich weiß, ich auch nicht. Aber wir sollten trotzdem etwas essen.« Demonstrativ schob sich Caron einen Bissen von dem Thunfisch-Sandwich in den Mund, das der dicke Polizist ihnen gebracht hatte. Um nicht zu würgen, trank sie sofort Kaffee hinterher.

Josh begann zu weinen, und Tränen tropften auf das Sandwich, das er in der Hand hielt. »Was Dad da getan hat ... Ich kann es kaum glauben...«

Caron legte das Sandwich hin. Plötzlich hatte sie die Szene wieder vor sich, spürte das Entsetzen, die Ausweglosigkeit. Sie hätte am liebsten ihre Angst, ihre Qual laut herausgeschluchzt, aber sie mußte sich zusammennehmen. Und sie mußte sicherstellen, daß Josh genau wußte, was da passiert war. »Das meiste davon hast du gar nicht gesehen. Er hat mir sehr, sehr weh getan.«

Joshs Tränen flossen, und Caron wünschte sich, sie wären schon im Frauenhaus, wo es wenigstens ein paar Antworten, ein paar Ratschläge geben würde. Eine Möglichkeit, in diesem Alptraum wach zu bleiben.

Es klopfte an der Tür. Beide zuckten zusammen. Gott sei Dank – die Leute vom Frauenhaus.

Sie öffnete die Tür, ließ aber die Kette vorgelegt.

Harry griff ins Zimmer und entfernte die Kette mühelos.

Er spürte es genau, er war wieder er selbst. Dieser schreckliche Zorn war verschwunden. Und er wußte, er würde Caron alles erklären können. Um Josh machte er sich weniger Sorgen. Die Liebe im Blick des Jungen sprach Bände. Sein Sohn vertraute ihm und verstand ihn, wie es nur ein Blutsverwandter konnte.

»Du bist mir so wichtig. Ich liebe dich so sehr«, sagte Harry zu Caron, bemüht, sie auf keinen Fall zu berühren. »Ich hasse mich für das, was ich getan habe. Am liebsten hätte ich mich heute von der Terrasse gestürzt. Ich wußte, daß du in deiner Tasche im Schrank Skalpelle hast, und es ist mir schwergefallen, sie nicht gegen mich zu richten –«

»Wie hast du uns gefunden?« fragte Caron.

Harry schüttelte den Kopf. Seine Augen waren feucht und rot. »Laß mich ausreden. Dann kannst du sagen, was du willst. Ich werde zuhören. Ich werde mir alles anhören, was du mir sagen willst. Bitte, Caron, vertrau mir. Ich weiß, was für ein Verrat das war, und ich verspreche, daß es nie wieder passieren –«

Es klopfte. Caron rannte zur Tür. Der Polizist. »Bitte«, sagte sie, »bleiben Sie bei uns. Gehen Sie nicht weg. Dieser Mann hier ist mein Mann. Er ist derjenige, der –«

»Ich weiß, Ma‘am. Ich wollte nicht stören, nur fragen, ob Sie noch etwas zu essen möchten.«

Harry schenkte dem Mann sein berühmtes Lächeln – jenes Lächeln, das Filmstars veranlaßte, ihm vor laufenden Kameras Dinge zu erzählen, die sie ansonsten nicht einmal ihrem Agenten bei einem Kir anvertraut hätten.

Caron hatte sich entschieden. Es gab nur eine einzige Möglichkeit. Sie packte Josh am Arm. »Wir müssen jetzt gehen.«

Der Junge zögerte, sah zur Tür, dann zu seinem Vater.

»Sofort«, beharrte Caron, zog ihn mit sich und ging.

Harry folgte ihnen. »Caron, ich liebe dich. Dich und Josh. Ich weiß, wie dir zumute ist. Aber bitte, verlaß mich nicht.«

Caron wandte sich an den Polizisten und zeigte mit zitterndem Finger auf ihr Gesicht.

»Sehen Sie das hier?« fragte sie. »Das war Harry. Er hat mich zusammengeschlagen. Er hat noch viel mehr getan, aber das können Sie nicht sehen, weil ich angezogen bin. Er hat mich vergewaltigt. Vaginal und anal.« Sie haßte es, in Joshs Gegenwart davon zu sprechen, aber ihr blieb keine andere Wahl. Sie mußte den Polizisten unbedingt überzeugen. Er starrte Harry an, ignorierte sie und Josh. Seine Miene zeigte deutlich, daß er kaum glauben konnte, so ein Glück zu haben: Er stand direkt neben Harry Kravitz.

Caron sagte: »Harry ist nicht der Mensch, den Sie vom Fernsehen kennen. Er ist nicht Scott, und er ist nicht charmant und freundlich. Er ist ein gefährlicher, gewalttätiger Verrückter. Er hat gedroht, mich umzubringen.«

Sie hatte die Stimme erhoben. Sie keuchte, spürte wieder die Erstickungsangst, die sie gehabt hatte, als Harry ihr das T-Shirt übers Gesicht gezogen hatte. Sie klang so verrückt, wie sie behauptete, daß Harry es war. Aber das war gleichgültig. Der Polizist hörte sie kaum. Er wußte, daß Harry nie so etwas tun würde.

»Ich hab die Nerven verloren«, sagte Harry sanft. »So etwas ist mir noch nie passiert. Sag das dem Officer.«

»Hat er Sie je zuvor geschlagen, Ma’am?«

»Nein. Aber er –«

»Meinen Sie nicht, Sie sollten sich beruhigen, bevor Sie eine Entscheidung treffen, die Sie vielleicht bereuen könnten?« fragte der Polizist.

Caron packte Joshs Hand fester und rannte an dem Polizisten vorbei aus dem Zimmer.

Sie rannten den überfüllten Bürgersteig entlang. Caron hielt Josh fest an der Hand, und der Junge spürte, wie ihr Schweiß ihren Griff rutschig machte.

Er spürte körperlichen Schmerz, denn ein Teil seiner selbst war immer noch im Hotel, bei seinem Dad.

Er hätte alles dafür gegeben, daß all dies nicht passiert wäre.

Seine Nase tat normalerweise kaum mehr weh, aber jetzt kam der Schmerz zurück. Es war wie Kopfschmerzen, aber konzentrierter, als hätte sich alles Gefühl, das er normalerweise im Kopf hatte, in der Nase geballt. Er legte die freie Hand vorsichtig auf die Nase, während sie weiterrannten.

Bald schon brachte der Schmerz ihn zum Weinen; Tränen liefen über seine Hand, sein Gesicht.

Er wußte, es war unmöglich, aber er wollte nach Hause. Nicht nur einfach nach Hause gehen, am liebsten wäre er jetzt immer noch zu Hause. Er wünschte sich, diese Straße, die er mit Caron entlangrannte, würde sich einfach in Luft auflösen, und sie wären wie Toto und Dorothy wieder zurück in der East End Avenue, wo sein Dad einen Telefonhörer in einer Hand hielt und mit der anderen Joshs Haar zauste.

Bei diesem Gedanken flossen die Tränen noch heftiger, bis er die Hand von der Nase nehmen und sich das Gesicht abwischen mußte.

»Telefonischer Notdienst gegen Gewalt in Familien.«

»Ich rufe von einem Münzfernsprecher aus an.« Carons Herz klopfte ihr bis zum Hals. Ihre Stimme zitterte. »Mein Stiefsohn ist bei mir, und wir ... wir sind in Gefahr. Mein Mann hat mich geschlagen und vergewaltigt. Er wird mich umbringen, wenn er kann. Wir brauchen eine sichere Zuflucht.«

»Wie ist denn Ihr Vorname, Liebes?«

»Caron.«

»Wo ist Ihr Mann jetzt, Caron?«

»Das weiß ich nicht.«

»Könnte er in der Nähe sein?«

»Noch nicht.«

»Sind Sie und der Junge verletzt?«

»Ich ja. Er ist nicht verletzt worden.«

»Waren Sie bewußtlos? Ist Ihnen irgendwie übel, oder –«

»Ich bin Ärztin.«

Eine Sekunde Schweigen. »Oh. In Ordnung, Caron. Wo –«

»Ich war bei der Polizei. Sie haben uns in ein Hotel gebracht, wo uns Leute von einem Frauenhaus abholen sollten. Aber irgendwie hat mein Mann uns gefunden ...«

Caron hielt inne. Die Erinnerung daran, wie Harry die Sicherheitskette gelöst hatte, mit dieser Hand, die ihr das Blut abgeschnürt hatte, ließ sie aufkeuchen, als wäre sie in eiskaltes Wasser gefallen. Harrys Hand, die einmal – gestern, eine Million Jahre zuvor – so tröstend gewesen war, die sie gestreichelt, geführt hatte. Ihr Haar oder ihren Knöchel berührt, ihre Hand gehalten, wenn sie nervös gewesen war ...

Sie schauderte und kämpfte gegen die Übelkeit an.

Ununterbrochen ließ sie den Blick über die Bürgersteige schweifen. Vor dem Anruf hatte sie ein Taxi quer durch die Stadt genommen, und sie war sicher, daß Harry ihr nicht hatte folgen können, aber sie kam sich jetzt vor, als wäre ihre Gestalt mit Neon ausgeleuchtet, als wären sie und Josh Ziele in einer Schießbude. In jedem der vorbeifahrenden Taxis konnte Harry sitzen, Harry mit einer Pistole.

Würde er so weit gehen? Würde Harry sie auf offener Straße niederschießen?

Und was hätte sie geantwortet, wenn sie gestern jemand gefragt hätte, ob sie glaube, daß Harry sie je zusammenschlagen und vergewaltigen würde?

»Wo sind Sie jetzt?«

»Fünfundfünfzigste und Sechste.«

»Auf der Straße?«

»Ja. Ich habe schreckliche Angst, daß er mich findet.«

»Das verstehe ich. Wir werden unser Bestes tun, damit das nicht passiert. Was –«

»Ich muß Ihnen sagen, wer mein Mann ist. Er ist Harry Kravitz.«

»Scott?«

»Ja.«

Verblüfftes Schweigen, und dann kam die Frau zum Thema zurück. »Wie sehen Sie aus, Caron?«

»Ich bin eins dreiundsechzig, dünn, hellbraunes Haar. Schwarze Hose, graues T-Shirt. Ich ... Ich sehe ziemlich wüst aus.«

»Sehen Sie ein Café oder so etwas irgendwo in der Nähe? Einen Ort, an dem es hell ist, wo viele Menschen sind?«

Caron drehte sich, um sich umzusehen. »Hier ist ein Delikatessengeschäft neben einem Restaurant, ein kleines Stück die Fünfundfünfzigste runter.«

»Gehen Sie dort hinein. In etwa zwanzig Minuten wird eine Frau in einem roten T-Shirt mit einem blauen Ford Taunus mit Jersey-Nummernschild vorbeikommen. Suzette wird reinkommen und Sie abholen.«

Auf dem Anrufbeantworter waren einige Nachrichten eingegangen, als Harry nach Hause kam, aber keine von den Medien. Noch nicht. Er rief Tomas an, der erklärte, er habe gerade ein anderes Gespräch in der Leitung und werde zurückrufen.

Harry ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sacken. Auf dem gesamten Heimweg hatte er dieselbe Szene vor Augen gehabt: Josh, der ihn ansah, während er von Caron mitgezogen wurde. Mit jeder Faser seines Körpers hatte Harry ihnen hinterherrennen wollen, um seinen Josh in die Arme zu nehmen und ihn festzuhalten.

Er erinnerte sich daran, wie Josh sich als Baby in seinen Armen angefühlt hatte, wie er sich gewunden hatte wie ein unruhiges kleines Kätzchen. In Harrys Geruchssinn war immer noch die Abfolge von Gerüchen gespeichert, von der Babyzeit bis heute: Babycreme, Windeln, Sandburgen in Atlantic City ... ein Baseballhandschuh ... das Notebook.

Er sackte tiefer zusammen und wurde von jener Verzweiflung befallen, die er oft auf den Gesichtern von Menschen gesehen hatte, die einen Unfall oder eine Naturkatastrophe hinter sich hatten und ein Kind betrauerten.

Wenn ihr kostbares Kleines gerade erst aus ihrem Leben gerissen worden war und einen Krater des Schmerzes hinterlassen hatte.

Er konnte seinen Josh nicht gehenlassen.

Harry setzte sich aufrecht hin und griff nach dem Bildwürfel auf seinem Schreibtisch, der diverse Fotos von Josh enthielt. Er schaute die beste Porträtaufnahme an und starrte in Joshs Augen, bis er fast spüren konnte, wie eine Verbindung zwischen ihnen entstand.

Du stehst jetzt unter Carons Einfluß, Sohn. Du kannst mich nicht hören. Aber ich verspreche dir, von einem Herzen zum anderen, daß ich alles tun werde, um dich bei mir zu behalten. Ich werde der Vater sein, den du liebst, den du brauchst.

Auf dem Foto wurde Joshs Haar vom Wind hochgewirbelt, und jetzt berührte Harry es. Ich werde finden, was ich brauche, Sohn. Ich werde zum Psychiater gehen. Ich weiß, ich habe Caron etwas Schreckliches angetan, noch Schlimmeres als dir vor zwei Jahren. Ich verspreche dir, daß ich nichts Schlimmes mehr tun werde. Du kannst zurückkommen und bei mir bleiben, und ich werde dich nur noch liebevoll berühren.

Ich werde ein besserer Vater werden und ein besserer Mensch, größer und größer, und wir werden meinen Aufstieg miteinander teilen. Nur wir beide.

Das Telefon klingelte. »Ist sie heimgekommen?« wollte Tomas wissen.

»Nein.« Harry seufzte. Er stellte den Bildwürfel wieder auf den Schreibtisch.

»Wo warst du, als ich angerufen habe?«

»Ich habe nach Caron gesucht. Sie ist ... sie ist nicht mehr sie selbst.«

»Das war zu befürchten.« Tomas hielt inne. »Gibt es etwas, was ich wissen sollte, Harry?«

Er antwortete nicht sofort, und Tomas fuhr fort: »Jegliche Enthüllungen in der Öffentlichkeit sollten zuerst von dir kommen. Aber das muß ich dir sicher nicht sagen.«

»Selbstverständlich.«

»Und? Wie sieht’s aus? Wird Caron in der Öffentlichkeit verkünden, daß du sie geschlagen hast? Und wenn ja, wie lauten die Tatsachen, die wir präsentieren werden?«

Caron hatte ihm keine Wahl gelassen. Er mußte antworten – und sich dann nach dieser Antwort richten. Seine Zukunft, seine und die seines Sohnes, waren in Gefahr. Caron stellte eine ungeheure Bedrohung dar.

Er legte auf und starrte lange die Wand neben dem Schreibtisch an. Die Besetzungsfotos von Scott ... Plakate seiner Filme ... auf einem war er mit John Goodman zu sehen, wie sie oben auf einem Schulbus rauften. Auf einem anderen hielt Harry Meg Ryan im Rettungsgriff, während andere schöne Frauen neidisch zusahen. Er gab gerahmte Fotos von Harrys Fernsehauftritten mit David Letterman, mit Barbara Walters, mit praktisch jedermann.

Wieder sah sich Harry die Bilder von Joshie an.

Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer von Ronald Brale.

Das Frauenhaus war ein großes, mehrstöckiges Doppelhaus an der Siebenten, nahe der Avenue A, die sie nach einer Reihe unnötiger Wendungen und langer Umwege erreicht hatten. Es war ein heruntergekommenes, unauffälliges Haus. Frauen sahen fern und aßen Kartoffelchips. Auf einem Kaffeetisch wurde ein geschälter, aufgeschnittener Apfel langsam braun. Mehrere Kinder in Schlafanzügen saßen herum und spielten.

Suzette war ein kleine, zarte Frau, kaum eins fünfundfünfzig groß, aber sie hatte sofort berichtet, sie habe einen schwarzen Gürtel und eine Magnum. Sie führte Caron und Josh in den zweiten Stock, in ein winziges Zimmer an der Rückseite des Hauses, in dem ein Etagenbett stand. Vom Fenster aus konnte man eine Feuertreppe erreichen, auf der ein Hibachi und große Topfpflanzen standen.

»Ruht euch einen Augenblick lang aus«, sagte Suzette. »Dann wird eine von uns sich um die Aufnahme kümmern. Das Bad ist gegenüber.«

Josh ging sofort hin. Caron, nun allein, ließ sich aufs Bett sinken. Sie mußte sich waschen, aber erst einmal würde sie Suzettes Rat befolgen.

In ihrer Handtasche hatte sie ein paar Schmerztabletten gefunden, die sie irgendwann einmal eingesteckt hatte, als Josh sich den großen Zeh gebrochen hatte. Das Mittel half ein wenig, aber sie fühlte sich schmutzig. Überall auf ihrer Haut waren Blutkrusten. Sie hätte gern geduscht und frische Unterwäsche angezogen, aber Suzette hatte sie, ebenso wie die Polizei zuvor, angewiesen, sich nicht zu waschen, ehe nicht die ärztliche Beweisaufnahme vorüber war.

Und es würde genügend Beweise geben.

Ihre Vagina und ihr Rektum sahen vermutlich aus, als hätte ein wildes Tier an ihr gefressen.

Sie schloß die Augen, aber sie schlief nicht ein. Ein wildes Tier, das traf es genau.

In den Nachrichten, in Zeitungen hatte sie die Worte oft gehört oder gelesen, diese formellen, klinischen Phrasen, mit denen Vergewaltigungen beschrieben wurden: erzwungener analer und vaginaler Geschlechtsverkehr. Sie hatte Frauen in der Notaufnahme gesehen. Aber nichts davon hatte sie auf die Realität vorbereitet, auf dieses unmenschliche Reißen und Stoßen, die widerwärtige Ungeheuerlichkeit, daß jemand sie schlug und mit Fäusten und Fingern, Zähnen und Penis in sie eindrang.

Ihr wurde übel. Sie setzte sich auf, klammerte sich an den Bettrahmen. Keuchend und schwitzend blieb sie sitzen, und die Übelkeit ließ langsam wieder nach.

Zitternd ging sie zum Fenster, öffnete es und lehnte sich hinaus in die schwüle Luft, atmete tief ein, um ihren Magen zu beruhigen. Das Geländer der Feuertreppe bebte leicht. Wahrscheinlich fuhr irgendwo in der Nähe die U-Bahn vorbei. Caron lauschte, erwartete, das Rumpeln eines Zuges zu hören.

Plötzlich bemerkte sie, daß es kein Geräusch gab und daß nur ihr Teil der Feuertreppe bebte.

Hinter einer der Pflanzen regte sich ein Schatten. Ein Mann in Schwarz, ein metallisches Glitzern. Er stürzte sich auf Caron.

Sie schrie und sprang zurück ins Zimmer. Er setzte einen Fuß in einem schwarzen Turnschuh aufs Fensterbrett. Caron sah sich hektisch nach einem Wurfgeschoß um, entdeckte einen Globus auf dem Schreibtisch und schleuderte ihn nach dem Eindringling.

Suzette trat Scherben zur Seite und beugte sich hinaus. Aus dem Flur konnte man aufgeregte Stimmen hören. Josh starrte gebannt das Fenster an.

»Er ist weg. Nichts mehr zu sehen«, sagte Suzette. »Und Sie sind sicher, daß es nicht Ihr Mann war?«

»Ja. Er hat jemanden geschickt.«

Suzette nahm Carons Hände. »Das hier ist nicht die sicherste Gegend. Es wird eingebrochen, Leute werden überfallen. Niemand weiß, daß du hier bist. Dieses Haus ist geheim. Die Chancen, daß er es tatsächlich auf dich abgesehen hatte, sind tausend zu eins.«

»Er hatte ein Messer.«

»Das überrascht mich nicht. Aber jetzt ist er weg und wird andere damit bedrohen. Du hast ihn verscheucht.« Suzette öffnete die Tür. »Selbstverständlich kannst du nicht hierbleiben, nachdem das Fenster zerbrochen ist. Du wirst das Zimmer mit einer anderen Frau teilen müssen.«

»Ich bleibe nicht hier«, sagte Caron.

In dem engen Badezimmer wusch sich Caron das Gesicht und zuckte zusammen, als das heiße Wasser an ihre Wunde kam.

Suzette und die anderen drängten sie, nicht zu gehen. Sie waren überzeugt, daß der Eindringling es nicht auf Caron abgesehen hatte.

Aber Caron wußte es besser.

Im gnadenlos glitzernden Spiegel sah sie die Veränderung in ihrem Gesicht, ihren erstarrten Mund. Auch der Teil von ihr, der bisher alles geleugnet und sich an den dünnen Hoffnungsfaden geklammert hatte, daß dies alles wieder anders werden würde, kannte nun die Wahrheit. Es würde keine Erklärungen geben, keine Erste Hilfe, die sie wieder zurück in die scheinbare Sicherheit ihrer Ehe, ihres Lebens und ihrer Arbeit führen würden, dieser vertrauten Tage und Nächte und Monate und Jahre.

Ihre Psyche suchte nach Halt und griff gnadenlos ins Leere.

Einen Monat zuvor hatte sie mit Harry und Josh auf einer Decke im Central Park gelegen, unter einem niedrigen Ast, nahe dem See mit den Segelbooten; Harry hatte sich mit einer Sonnenbrille und einem weichen Fischerhut unkenntlich gemacht. Er fütterte sie mit Zitroneneis von einem Plastiklöffel. Sie hatte den Geschmack auf der Zunge gespürt, das flirrende Sonnenlicht im Gesicht, und eine grenzenlose Zufriedenheit, wie sie sie niemals empfunden hatte, nicht, bevor sie Harry kannte.

Und nun wollte er sie auslöschen. Und in den vergangenen Minuten hatte er genau das versucht.

Die Vorstellung, durch Harrys Hand zu sterben, war nun mehr als eine Angst. Sie war wirklich geworden, so wirklich wie das Blut, das sie immer noch schmeckte. Beinahe wäre es passiert. Harry hatte diesen Mann mit dem Messer geschickt. Ihre Chirurgenreflexe, oder auch einfach Glück, hatten sie gerettet, sonst würde sie nun bereits verblutet sein, auf dem Bettvorleger in diesem kleinen Zimmer ... und ihr Stiefsohn hätte seine einzige Überlebenschance verloren.

Sie sah im Spiegel, wie ihr Tränen in die Augen traten, wie sich ihr Mund verzog, und dann gaben ihre Beine unter ihr nach, und sie sank auf den kalten Boden. Sie und Josh waren gestrandet. Sie konnten nicht hierbleiben, und es gab für sie keine andere Zuflucht. Julie hatte Caron angefleht, nach Boston zu kommen, aber dort könnte Harry sie leicht finden, und das würde auch Julie in Gefahr bringen. Caron sehnte sich nach Sicherheit, aber sie hatte nichts anderes vor sich als einen finsteren, klaffenden Tunnel.

Auch als sie ihre Mutter verloren hatte, war dieser Tunnel dagewesen. Seit ihr Vater zum erstenmal dieses falsche Lächeln aufgesetzt und Caron und ihrer Schwester Elisa beteuert hatte, ihrer Mutter ginge es gut, hatte sich dieser Tunnel vor ihr aufgetan, unerträglich leer, unendlich.

In Santa Conda war man entweder reich oder sehr arm, und die Familie Alvarez war reich.

Die Stadt lag an der Südküste der Isla de Tampas, der drittgrößten Insel der Republik Kuba. Carons Vater Horace war Leiter der kardiologischen Abteilung des Krankenhauses von Santa Conda; er hatte seine Frau Greta kennengelernt, als sie als Oberschwester auf seine Station kam.

Caron war im vorletzten Highschooljahr, als Greta, die nie ihre Arbeit aufgegeben hatte und allgemein um ihre Lebenskraft beneidet wurde, immer mehr abnahm. Ihre Haut wurde gelblich. Ein Nierenproblem; man zog Spezialisten zu Rate. Als nichts half, bestach Horace die entsprechenden Würdenträger und ließ sie nach San Diego bringen, nach Kalifornien, zu einem berühmten Facharzt. Aber von dort kamen nur schlechte Nachrichten, und dieser Arzt sah sich, da er die Alvarez’ und ihren Einfluß nicht kannte, nicht zum Leisetreten veranlaßt.

Gretas linke Niere arbeitete überhaupt nicht mehr, und die rechte würde ebenfalls bald versagen.

Zurück in Santa Conda begannen sie mit der Dialyse. Sie suchten einen Organspender. Die Mädchen waren inkompatibel. Schließlich fand sich eine Cousine Gretas, aber als alles bereit war, hatte Greta bereits Sepsis entwickelt, und eine Operation war unmöglich.

Caron konnte sich noch gut an jenen bewölkten Montag im März erinnern, als Greta, die in einem Krankenhausbett lag, ein letztes Mal mit ihren abgemagerten Armen ihre Töchter umklammert hatte. Sie hatte immer noch Kraft; die Knochen hatten sich fest gegen Carons Rücken gepreßt. Caron hatte den Schmerz als vorübergehende Versicherung, daß ihre Mutter noch lebte, begrüßt.

Sie hatten die ganze Nacht an ihrem Bett gesessen.

Horace hatte die Mädchen nach Hause schicken wollen; er wollte die wenige Zeit, die Greta noch blieb, für sich allein. Aber das hatte er den Mädchen ebensowenig eingestehen können wie jedes andere Gefühl, denn er empfand ihnen gegenüber nur selten etwas. Er liebte Greta abgöttisch und trauerte schon jetzt. Und dafür benötigte er alle emotionale Energie, die er aufbringen konnte.

Greta starb am darauffolgenden Nachmittag.

Caron erinnerte sich an die blumenübersäte Krankenhauskapelle, in der Tausende von Kerzen brannten, und an ihren verzweifelten Vater, der sich, bläulichweiß im Gesicht, durch die Messe kämpfte. Ohne Gretas vereinende Wärme waren er und Caron und Elisa drei gebrochene Individuen, nicht imstande, sich selbst oder andere zu trösten.

Schon nach einem Monat hatte Horace endgültig genug von dem Heim der Familie in Santa Conda. Er hatte das Angebot eines Dr. Felhammer an der John Hopkins School of Medicine in Baltimore akzeptiert, der ihn schon seit Jahren gedrängt hatte, und war in die Staaten gereist, um dort seine neue Stelle anzutreten.

Elisa war freundlich und kümmerte sich um Caron, aber das Haus hallte wider vor Leere, und Elisas Streitereien mit ihrem Mann Reco verstörten Caron. Manchmal saß sie in der Badewanne und ließ mehr und mehr heißes Wasser ein, um ihr ständiges Frieren zu bekämpfen, und dann hörte sie die Stimmen ihrer Eltern. Sie waren weit entfernt, aber so real, daß Caron erschrocken auffuhr. Immer wieder klammerte sich ihr Geist dann an den Frieden des Traums, an die Chance, daß alles nur ein Witz, ein Fehler gewesen wäre. Ihre Mutter und ihr Vater waren immer noch hier. Das Haus war wieder ein Heim.

Aber dann verstummten die Stimmen, und das Wasser wurde kalt, und Caron hatte nun vor sich, was bereits die ganze Zeit dagewesen war: den Tunnel. Die kalte, dunkle Leere von Carons Tagen, die sich in die Ewigkeit erstreckten, ohne Umarmungen – nicht einmal schmerzhafte, knochige –, ohne alles. Und jetzt, in dem kleinen Bad des Frauenhauses, stand Caron wieder auf und schlang die Arme um sich selbst. In den ersten sechzehn Jahren ihres Lebens war Greta immer für sie da gewesen – und da sie gewußt hatte, daß ihr Mann als Vater nur begrenzt zugänglich war, und weil sie vielleicht auch Schuldgefühle hatte, weil sie die einzige war, der Zugang zu Horaces Herzen gestattet war, hatte sie sich doppelt um die Mädchen gekümmert. In schlimmen Zeiten konnte Caron immer mit den starken Armen ihrer Mutter rechnen, ihrer ruhigen Stimme und dem vertrauten süß-verschwitzten Geruch ihrer Umarmung.

Aber noch nie hatte sie sich so danach gesehnt, Greta wiederzuhaben, wie jetzt.

Nur für eine einzige Minute, nur, um sie davor zu bewahren, endgültig zusammenzubrechen.

Caron ließ die Arme sinken. Das Badezimmer war heiß und feucht, aber dort, wo es keine Berührung mehr gab, nicht einmal mehr ihre eigene, breitete sich Kälte aus, wie um Caron zu zeigen, wie hoffnungslos einsam sie war.

In der First Avenue nahm Caron ein Taxi und dirigierte den Fahrer nach Westen und dann nach Norden. Als sie die Menschenmenge sah, die die laue Nacht am oberen Broadway genossen, stieg sie mit Josh aus.

Die Angst und die Übelkeit würden sie wieder einholen, würden sie überwältigen, wenn sie es zuließ. Aber bis dahin hatte sie nur ein Ziel: Sie wollte weg von hier.

In den zwei Jahren ihrer Ehe hatte sie sich daran gewöhnt, Harrys Freunde und Bekannte auch als die ihren zu betrachten. Alle, auch Harry, hatten sie dazu ermutigt. Aber das waren nicht ihre Freunde. Jeder einzelne Anruf in »ihrem« Kreis hatte ihr an diesem Abend nur Erstaunen und Unglauben eingebracht.

Sie wagte nicht, mit ihrer Freundin Julie Gerstein in Massachusetts Kontakt aufzunehmen, oder mit ihren Kollegen und Bekannten in New York, und sie derselben Gefahr auszusetzen, in der sie selbst sich befand.

Die Polizei hatte sie nicht beschützt.

Das Frauenhaus hatte ihr keine sichere Zuflucht bieten können.

Ich bringe dich um.

Niemand konnte ihr helfen. Sie mußte für sich selbst sorgen.

Um sie herum waren Verkehrslärm, Gesprächsfetzen, das warme Summen einer geschäftigen Sommernacht in der Stadt. Aus einer Pizzeria duftete es nach Oregano, und Caron wurde wieder übel. Sie legte die Hand auf den Magen.

»Ist alles in Ordnung?« fragte Josh ängstlich. Seine Verzweiflung klang durch jedes Wort. Wenn sie nicht in Ordnung war, was dann?

Caron drückte seine Hand. Sie umarmte ihn und wäre bei seiner vertrauensvollen Erwiderung beinahe in Tränen ausgebrochen. Er war nicht mehr der blasierte Teenager. Er legte den Kopf an ihre Schulter, und sie spürte, wie er zitterte, wie im vergangenen Juni, als er eine Grippe gehabt hatte und sie sein Zittern selbst mit ihrer eigenen Körperwärme nicht hatte heilen können.

»Was machen wir jetzt? Wohin können wir gehen?« fragte Josh mit brechender Stimme.

»Darüber denke ich gerade nach«, sagte sie ruhig, dann drückte sie ihn noch einmal an sich und ließ ihn los.

Im Geist hakte sie ab, was sie tun könnte, ebenso, wie sie bei Operationen vorging, immer sechs Schritte vorausdenkend, die Sinne aufmerksam auf jeden falschen Ton gerichtet.

Zunächst einmal sollten sie normaler aussehen. Die neugierigen Blicke waren gefährlich.

Zweitens sollten sie New York sofort verlassen.

Sie überquerten den Broadway und gingen in eine Apotheke. Sie hatten kein Dermablend, aber eine ähnliche Creme, die die blauen Flecken abdecken und heilen würde. Caron kaufte das Präparat und ging mit Josh in einen Coffee Shop einen Block weiter. In der Toilette wusch sie sich das Gesicht und bedeckte die Bereiche, die sich bläulich und rötlich verfärbt hatten, mit einer dicken Schicht Creme. Danach kaufte sie eine dünne beigefarbene Strickjacke in einer Boutique für Abendkleidung, dem einzigen Kleidergeschäft, das geöffnet war. Das Material hatte einen merkwürdigen Goldschimmer, aber die Jacke bedeckte ihre zerschlagenen und zerkratzten Arme.

An einem Geldautomaten hob sie von drei unterschiedlichen Konten Geld ab, so viel wie jeweils möglich. Insgesamt brachte das 1200 Dollar. Sie sah sich nach einem Taxi um.

»Und wohin jetzt?« fragte Josh.

»Zum Port Authority Busbahnhof.«

»Das ist von hier aus Richtung Downtown.«

»Ja. Aber so kommen wir am besten aus New York raus. Ein Bus ist billiger als ein Flugzeug und schwieriger zu verfolgen...«

»Das meine ich nicht. Schau doch mal.«

Caron sah in die Richtung, in die Josh zeigte. Drei Blocks weiter den Broadway entlang bildete sich ein Stau. Rücklichter stehender Autos, so weit das Auge reichte.

Wie konnte sie das übersehen haben?

Panik stürmte auf sie ein. Was hatte sie sonst noch übersehen ? Sie wäre beinahe in diese Falle gegangen, die sie unendlich viel Zeit gekostet hätte. Harry hatte ihnen einen Killer auf die Fersen gesetzt. Vielleicht auch mehr als einen. Seine Mittel waren unerschöpflich. Die Leute würde alles für ihn tun.

Sie erinnerte sich an den Fuß im schwarzen Turnschuh und das Messer ...

Sie merkte, daß ihre Hände zu zittern begonnen hatten, Sie versuchte, sich zu beherrschen.

»Gehen wir nach Kuba?« fragte Josh. Seine Augen waren wieder feucht.

»Nein.« Caron gab ihm die Antwort, die ihr verzweifeltes Hirn schließlich hervorgebracht hatte. »Nach Maryland. Zu einer Freundin.«

»Nicht nach Massachusetts? Zu Julie?«

Caron schüttelte den Kopf. Erst als die verklebten Locken ihr ins Gesicht fielen, bemerkte sie, daß sie vergessen hatte, sich um ihr Haar zu kümmern. »Dein Dad erwartet vermutlich, daß wir zu Julie gehen. Aber Barbara kennt er nicht, er weiß nicht mal, daß ich jemand in Maryland kenne. Barbara ist eine alte Freundin aus dem College.«

»Wird sie uns denn helfen?«

Gute Frage, dachte Caron und erinnerte sich an die warmherzige, aber unbeständige Frau, mit der sie seit dem College nur hin und wieder Karten ausgetauscht hatte.

Einen Augenblick lang wurde sie von einem Auto abgelenkt, das vor dem Lebensmittelladen weiter unten hielt. Einen Augenblick lang glaubte sie voller Schrecken, es wäre der Buick des Polizisten; aber dann stieg der Fahrer aus – eine dünne, verwahrlost wirkende Frau in einer Anstreicherhose – und ging in den Laden.

Caron sah sich das Auto noch einmal an. Es war sogar noch verbeulter als der Wagen des Polizisten, die Stoßstange mühsam mit Draht befestigt, die Türen verrostet.

Sie hatte eine Idee. »Komm«, sagte sie und nahm Joshs Hand.

Sie sprach die Fahrerin an, als diese mit einer Tüte wieder aus dem Laden kam. »Ich würde gern Ihr Auto kaufen«, sagte Caron. »Wieviel möchten Sie dafür?«

Die Frau wich einen Schritt zurück. Caron bemerkte ihre Blässe und die unnötig dicke Kleidung und die anderen Anzeichen und dachte: Eine gute Wahl.

»Mein Auto?«

»Ja. Ich zahle fünfhundert.« Sie wartete ab, wie die Frau den Vorschlag verdauen würde. »Bar«, fügte sie hinzu.

Die Frau sah Caron an, dann Josh. Sie drückte ihre Einkaufstüte fest an sich. Sie wandte sich dem Auto zu, dann sah sie wieder Caron an.

»Tausend.«

»Das ist es nicht wert.«

Die Frau blinzelte. »Sie sind aber mächtig scharf drauf.«

»Sechshundert.«

»He«, meinte die Frau, »mir kann’s egal sein.« Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus.

Caron berührte sie an der Schulter, spürte, wie knochig sie war. »Warten Sie. Siebenhundert.«

»Nein. Kapieren Sie das endlich. Ich will mein Auto behalten. Ich hab nur auf Sie gehört, weil ich dachte, es springt wirklich was dabei raus.«

Caron sah sich um. Es schien keine andere Möglichkeit zu geben, und sie konnte wohl kaum weiter auf dem Broadway herumlaufen und versuchen, anderer Leute alte Autos zu kaufen.

Die Frau beobachtete sie. »Wollen Sie die Karre nun oder nicht? Eintausend.« Sie streckte eine leicht zitternde Hand mit dem Schlüssel aus.

Caron griff danach, klappte die Handtasche auf und zog hektisch einen Packen Banknoten heraus.

Auf Liebe und Tod

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