Читать книгу Auf Liebe und Tod - Molly Katz - Страница 14
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ОглавлениеHorace hatte dafür gesorgt, daß Caron nach Amerika reisen konnte. Sie schrieb sich am Johns Hopkins ein, was kein großes Problem darstellte, da ihr IQ und ihre Bildung mehr als überzeugend waren.
Caron sollte Kuba im August 1976 verlassen und ihr erstes Semester in Baltimore antreten. Aber im Juli erreichte sie eine Nachricht von Dr. Felhammer, dem Kollegen ihres Vaters, daß es Horace nicht gut gehe.
Die Spätnachmittagssonne fiel in orangefarbenen Pfützen auf Carons Bettvorleger, als sie für die Abreise aus Santa Conda packte. Ihre wichtigsten Sachen hatte sie in Kleidungsstücke gewickelt: Familienbilder und die Lieblingsstatuetten ihrer Mutter, darunter eine Büste von Vasco da Gama. Caron wollte sie ihrem Vater mitbringen, der sie Greta einmal geschenkt hatte.
Die Büste ließ den Koffer sehr schwer werden, aber ein Rest von Kinderglauben ließ Caron denken, daß Horace wieder gesund würde, wenn sie sie ihm brachte, und sie würden endlich wie Vater und Tochter zusammenleben können.
Carons Schwester Elisa und Elisas Mann Reco begleiteten Caron zum Flughafen. Die Frauen klammerten sich weinend aneinander.
Im Flugzeug schaute Caron auf das endlose Meer hinab und fühlte sich verlassener als je zuvor in ihrem Leben – sogar mehr als bei Gretas Tod. Sie hatte nicht gewußt, daß der Schmerz der Leere einem immer erhalten bleibt.
Aber bald würde sie wieder bei ihrem Vater sein, und vielleicht würde er sich jetzt, weit entfernt von Santa Conda und den Geistern seiner Jahre dort, enger an sie anschließen.
Caron hatte sich Dr. Felhammer immer wie die verrückten Wissenschaftler in Filmen vorgestellt. Aber der Mann, der sie am Flughafen abholte, war groß und schlank und hatte einen Schnurrbart.
Er nahm ihr das Handgepäck ab und setzte es ab. Er hielt ihre Hände und küßte sie auf beide Wangen. Dann sagte er ihr, Horace sei tot.
Eine Lungenentzündung hatte seine letzten Widerstandskräfte dahingerafft, trotz aller Antibiotika. Die Beisetzung sollte an diesem Nachmittag stattfinden; man hatte nur auf Caron gewartet.
Die Tage nach der Beisetzung vergingen in tiefer Trauer. Caron verbrachte sie zusammengerollt unter der Decke des großen Bettes ihres Vaters in dem vornehmen Apartmenthaus, in dem er gewohnt hatte. Sie weigerte sich, bei Dr. Felhammer zu wohnen oder das Essen anzurühren, das er ihr brachte. Aber er war ausdauernd, pflegte sie wie ein krankes Tier, und schließlich begannen ihre Wunden zu heilen.
Felhammer half Caron, die Wohnung zu verkaufen und einen Platz am Smith College in Massachusetts zu finden, denn er glaubte, die Wärme einer Kleinstadt würde ihr guttun. Caron kam am College zurecht und fand auch ein paar Freunde, aber sie fühlte sich einsam. Sie wachte vor dem Weckerklingeln auf, und der Schmerz, die Leere zogen ihr den Magen zusammen. Sie gewöhnte sich an, früh am Morgen die Wettervorhersage anzurufen, denn der Sprecher dort hatte eine rauhe Stimme und einen Akzent wie ihr Vater damals in Santa Conda, wenn er gerade aufgewacht war.
Caron studierte Medizin in Harvard und zeichnete sich besonders in Chirurgie und Kinderheilkunde aus. Sie liebte Babys und Kleinkinder, verbrachte viel ihrer kostbaren Freizeit mit ihnen und war jedesmal verzweifelt, wenn sie eines verloren. Der Schmerz überzeugte sie davon, daß es richtig war, bei der Chirurgie zu bleiben.
Sie graduierte mit Auszeichnung in beiden Fachgebieten.
Dr. Felhammer war ihr einziger Gast bei beiden Abschlußfeiern. Zu Elisa hatte sie jede Verbindung verloren.
Carons Zimmergenossin bei ihrem Praktikum im Massachusetts General Hospital war Julie Gerstein – breitschultrig, ernsthaft und entschlossen, Carons Sicherheitszone zu durchbrechen.
»Du glaubst, daß alle, die du liebst, verschwinden«, sagte Julie eines Abends, als sie aus dem Kino zurückkamen. »Also hast du Angst, andere an dich heranzulassen.«
»Das ist meine Entscheidung.«
»Diese Entscheidung wird dich zu einer miesen Ärztin machen.«
Caron blieb stehen. »Nicht in der Chirurgie.«
»Egal wo. Es schränkt auch den gesamten Rest deines Lebens ein. Sieh mal, Caron, ich weiß, daß du schlimme Zeiten hinter dir hast, aber jetzt bist du erwachsen. Es ist Zeit, aus deiner Höhle zu kommen und ein paar Risiken einzugehen. Komm, versuch zu fliegen, oder wenigstens zu springen.«
Caron dachte über den Rat ihrer Freundin nach und begann, ihn in die Praxis umzusetzen, und sie fing mit Julie an. Wie konnte man keine Liebe und Dankbarkeit gegenüber einem Menschen empfinden, der sich um halb sechs aus dem Bett quälte, um seine Zimmergenossin zu den Sechs-Uhr-Vorlesungen zu bringen, damit sie nicht allein durch die dunklen Unterführungen gehen mußte?
Im Operationssaal begann sie, Forderungen zu stellen, bat um Möglichkeiten zu assistieren, machte Vorschläge. Sie zeigte erste Anzeichen echter chirurgischer Begabung. Sie gewann unter ihren Altersgenossen einen gewissen Ruf wegen ihrer mutigen, einzelgängerischen Art, die Arbeit anzugehen.
Dann fiel sie auch ihren Vorgesetzten auf, und man bot ihr eine Stelle als Assistenzärztin in der Chirurgie an.
Eines Abends wurde Caron in die Kinder-Intensivstation gerufen, um sich ein Brandopfer anzusehen.
Wayne Snow war ein sommersprossiger Neunjähriger, von dessen rötlichem Haar nichts mehr geblieben war. Eine Dose Zündflüssigkeit, die zu dicht an einem Hibachi gestanden hatte, war vor ihm explodiert. Von einem seiner Ohren war nur noch ein Stück übrig, und nichts von seiner Unterlippe.
Um nicht in Schluchzen auszubrechen, begann Caron sofort, sich Notizen zu machen. Sie machte das mit der rechten Hand. Mit der linken hielt sie die von Wayne. Während sie schrieb, drückte sie die Hand immer wieder ermutigend. Als er es einmal schaffte, den Druck zu erwidern, hob Caron seine Hand an die Lippen und küßte sie.
Wayne wurde operiert. Während der Genesung sah Caron ihn drei- oder viermal täglich. Sie brachte ihm Eis und Videos. Eine Weile ging es ihm besser.
Caron spürte den Rückschlag beinahe schon, bevor er meßbar war. Die medizinischen Daten waren nicht einmal beunruhigend, aber sie spürte, daß der Junge davondriftete.
Sie hätte ihn am liebsten gepackt und ihn voll mit Medizin und Blut und Atemluft gepumpt. Sie wollte ihn anschreien, er solle nicht aufgeben. Es brachte sie fast um, daß all ihre Ausbildung und ihr Können und ihre Leidenschaft ihr nicht die Macht gaben, Wayne zu retten.
Er starb drei Wochen später. Bei seiner Beerdigung brach Caron zusammen und mußte die Kirche verlassen.
Sie träumte immer wieder von dem Jungen. Sie sah ihn gesund und munter beim Spielen oder wie er auf einem Fahrrad an ihr vorübersauste.
Eines Nachmittags nach zwei Nachtschichten, als Caron eigentlich schlafen sollte, konnte sie die Träume nicht mehr verdrängen. Sie stand auf und ging zum Hafen, stemmte sich gegen den böigen Novemberwind. Sie beschloß, sich ein paar Tage freizunehmen und sich in einem Tennisclub bis zur Erschöpfung anzutreiben. Vielleicht würde das ihren Kummer erleichtern, vielleicht würden dadurch die Bilder der Operation und der Zeit danach, die sich immer wieder in ihrem Kopf abspulten, verschwinden.
Caron ging beim Krankenhaus vorbei, um ihren Dienst zu überprüfen, bevor sie sich für das Tennistraining eintrug.
Ein anderer Chirurg stand gerade am Schwarzen Brett, als sie hinkam, ein Argentinier namens Pier Natillo.
»Wie geht’s?« fragte er Caron.
Sie setzte zu einer Routineantwort an, aber dann sah sie sein Gesicht und merkte, daß er die Frage ernst gemeint hatte.
»Ich glaube, ein bißchen besser. Ich denke immer noch die ganze Zeit an Wayne, und ich träume von ihm. Ich muß damit aufhören.«
»Warum?«
Caron starrte ihn an.
»Es ist angemessen, daß wir die Patienten betrauern, die wir verlieren«, sagte Pier. »Wenn Ärzte das nicht tun, dann ist mit ihnen etwas nicht in Ordnung. Möchten Sie, daß ein Kind von seinem Arzt vergessen wird?«
Bei ihrem langen Wochenende auf dem Tennisplatz fand Caron ein wenig Trost im ununterbrochenen Spiel ... und in Piers Worten, die von Menschlichkeit, von Freundlichkeit kündeten. Die Distanz in der Medizin hatte sie oft erschreckt. Pier war ein Arzt, der über Wärme verfügte.
»Ruf ihn an«, sagte Julie, nachdem Caron schon wieder eine Woche lang zu Hause war und Pier nicht begegnet war. »Los, jetzt gleich.«
»Nein.«
»Dann bring ihn wenigstens irgendwie dazu, daß er dich anruft.«
Also sah sich Caron die Dienstpläne etwas genauer an und schaffte es, Pier »zufällig« zu begegnen.
»Hallo«, sagte er und berührte sie am Arm. »Sie sehen besser aus.«
Sie hatte vergessen, wie attraktiv er war, mit seinem glänzenden schwarzen Haar und den großen eckigen Händen. Sie überlegte, wie sie es erreichen konnte, daß er sie wirklich anrief, aber er machte es ihr leicht.
»Ich hatte gehofft, daß ich sie bald wiedersehe«, sagte er. »Würden Sie mit mir essen gehen?«
An einem verschneiten Freitagabend in der darauffolgenden Woche holte Pier sie mit seinem Jeep ab. Sie aßen Meeresfrüchte in einem dunklen, holzgetäfelten Restaurant an einer Straße oberhalb des Hafens.
»Träumen Sie immer noch von Wayne?« fragte Pier Caron.
»Nicht mehr so viel, aber ja, er verfolgt mich immer noch.«
»Diese Verluste sind einfach schrecklich. Es tut weh. Mir ist es viermal passiert.«
Caron schüttelte den Kopf. Sie konnte sehen, daß er auf das Sterben dieser Kinder mit derselben finsteren Hoffnungslosigkeit reagierte, die sie nach dem Tod von Wayne erlebt hatte. »Wie kann man damit zurechtkommen? Manchmal wünschte ich, ich wäre wie die anderen –«
Pier hob abwehrend die Hand. »Ich werde diesen Gedanken für Sie zu Ende bringen. Sie wünschen sich, Sie könnten diese Tode so ausblenden wie die anderen, indem Sie sie irgendwo in einer Datei speichern, zwischen Sterberaten und Durchschnittsquoten.«
Caron blinzelte. »Genau.«
Pier nahm ihre Hände und drückte sie fest.
Am nächsten Wochenende gingen sie in einen spanischen Film, wo sie immer schon vor den anderen Zuschauern über die Gags lachten, weil die anderen auf die Untertitel warten mußten – was alles noch komischer machte. Am Wochenende danach lud Pier Caron zu einem Brunch in sein Haus ein.
Er wohnte in einem gemieteten Cottage in einer beinahe ländlichen Gegend von Lexington, drei Zimmer mit einem angebauten Gewächshaus. Im Gewächshaus fehlten mehrere Scheiben, und es war überwuchert, aber die ständige Sonne hielt es warm, und es roch nach Erde.
»Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir hier bleiben?« fragte Pier und servierte ihr Geflügelsalat.
»Ich freue mich sogar darüber«, erwiderte Caron.
Sie ließen sich auf einer Decke auf dem gestampften Boden nieder. Im Radio erklang eine Klaviersonate. Nach dem Essen holte Pier einen Teller mit Obst, das sie zu dem Rest einer Flasche Riesling aßen.
Er fütterte sie mit einem Stück Melone, und sie gab ihm eine Erdbeere. Aber er hielt ihre Hand fest und küßte sie. Dann zog er sie dichter an sich. Er nahm sie in die Arme, und sie küßten sich.
Sie liebten sich auf der Decke, und danach lagen sie dort noch Stunden und hörten den Vögeln zu, die sich um die Körner im Futterhäuschen draußen stritten.
Caron hatte die Formulierung »verliebt sein« nie sonderlich gemocht, als wären es Worte aus einer fremden Sprache, die sie eigentlich verstehen sollte, aber nicht wirklich begriff.
Nach dem Tag im Gewächshaus fielen sie ihr aber immer öfter ein, wenn sie an Pier denken mußte, was häufig geschah.
Sie waren gern zusammen. Sie erzählten sich ihr Leben in allen Einzelheiten. Kümmerten sich umeinander.
Zum erstenmal seit ihrer Kindheit hatte Caron nicht mehr so sehr das Gefühl, verlassen zu sein.
Im April machte Pier ihr einen Heiratsantrag.
»Wir werden ein wunderbares Paar abgeben. Das weißt du so gut wie ich«, sagte er. »Wir wollen beide ein Heim und Kinder. Warum noch warten?«
Als der Mond in ihrer Hochzeitsnacht aufging, schlenderten sie über den Strand in Bermuda, und Pier sagte: »Wirst du jetzt aufhören, die Pille zu nehmen?«
»Noch nicht gleich.«
»Wann?«
»Im September, wenn meine Zeit als Assistenzärztin zu Ende ist. Darüber haben wir doch schon gesprochen.«
»Geht es denn nicht früher?«
Caron lachte. »Hab doch Geduld, Pier. Wir werden unsere Brut schon früh genug bekommen.«
Aber Pier fing immer wieder davon an. Er wollte unbedingt Kinder. Er konnte einfach nicht warten. Es würde vielleicht Monate dauern, bis sie schwanger würde. Sie sollten jetzt schon anfangen, es zu versuchen.
Caron packte die Pillen weg. Pier hatte sich genau informiert, wie man die Empfängnismöglichkeiten verbessern kann – achtundvierzig Stunden zwischen den einzelnen Beischlafakten warten, danach die Beine höher legen – und sie warteten gespannt darauf, daß Carons Periode ausblieb. Aber sie kam jeden Monat.
»Vielleicht strengen wir uns zu sehr an«, sagte Caron im August und verbiß sich nur mühsam die Tränen. »Vielleicht sollten wir aufhören, an Kinder zu denken, und uns einfach nur lieben.«
Pier starrte wütend die Tamponschachtel in ihrer Hand an. »Ich verstehe das einfach nicht.«
»Ich auch nicht.«
Sie streckte die Arme nach ihm aus, brauchte seinen Trost, wollte ihn trösten. Sie sehnte sich danach, ihr Kind im Arm zu halten, an diesem unbeschreiblichen Schöpfungsprozeß teilzuhaben. Ihr stummer, unveränderlicher Körper erstaunte sie. Zweimal hatte sie bereits davon geträumt, in sich einen wunderbar möblierten, aber mit Spinnweben überzogenen Raum zu haben.
Aber Pier ließ sie einfach stehen und sagte, er müsse sich um seine Patienten kümmern.
Immer noch auf die Theorie vertrauend, daß sie sich entspannen sollten, versuchte Caron mehrmals, die Bühne für eine jener ausgiebigen Liebesnächte zu bereiten, wie sie sie vor ihrer Hochzeit gekannt hatten. Sie kaufte neue Unterwäsche, neue Platten. Statt bis zur Schlafenszeit zu warten, sprach sie Pier zu Zeiten an, wenn sie glaubte, der Gedanke an Sex wäre eine angenehme Überraschung für ihn.
Aber er meckerte nur über die Musik und schien kein Interesse an Carons Verführungsversuchen zu haben.
Caron versuchte, nicht überempfindlich zu reagieren, aber Piers abweisende Haltung verletzte sie. Er war immer anspruchsvoll gewesen, aber nun, da sie beide Caron als Versagerin betrachteten, war jede neue Zurückweisung vernichtend.
Als sie sich eines Nachmittags rasch umzog, um Pier nicht in Arbeitskleidung begrüßen zu müssen, beschloß Caron, einen Fruchtbarkeitstest machen zu lassen. Pier hatte das abgelehnt; er fand diese Untersuchungen zu kompliziert und erniedrigend.
Aber alles war besser als dieses Warten.
Sie ließen sich testen. An dem Morgen, an dem sie die Ergebnisse bekommen sollten, stand Caron in der Küche und trank drei Tassen Kaffee, aber sie konnte nichts herunterwürgen.
Pier trat hinter sie und faßte sie um die Taille. Er hatte so etwas in der letzten Zeit so selten getan, daß seine Berührung wie eine wunderbar warme Decke wirkte. Caron schmiegte sich an ihn, voller Dankbarkeit und Liebe.
Das Wartezimmer war nur durch eine Glaswand vom Wartezimmer eines Gynäkologen getrennt. Die Stühle waren mit dem Rücken zueinander aufgestellt, aber Caron war sich der schwangeren Bäuche hinter ihr nur allzu bewußt.
Nach einer Weile drehte sie sich um und sah hin.
Ihr wurde klar, daß sie schon fast davon ausging, daß sie nie zu diesen Frauen gehören würde.
Einige von ihnen waren hübsch, besonders eine zierliche Latina mit einem strahlenden Lächeln. Ihre lila Umstandsbluse betonte ihre riesigen braunen Augen. Auf ihrem Schoß schmiegte sich ein Zweijähriger dicht an den schwangeren Bauch seiner Mutter.
Carons Hals brannte vor ungeweinten Tränen, als sie so deutlich vor sich sah, was Pier sich in seinem Leben über alles wünschte.
In ihrer Phantasie sah sie die Frau in einem kurzen Nachthemd, die Brüste darunter prall und reif, wie sie im Cottage in das große Bett schlüpfte. Pier betrat die Szene und legte sich neben sie und streckte seine Hand aus, um ihr übers Haar zu streichen ...
Die Szene war so realistisch, daß Caron ganz übel wurde. Der Kaffee stieg ihr bitter in der Kehle auf.
Sie mußte Pier einen Blick zuwerfen, um festzustellen, ob er die Frau ebenfalls ansah.
Das tat er selbstverständlich nicht. Er las in einer Fachzeitschrift.
Caron zwang sich, sich wieder umzudrehen. Sie hatten die Ergebnisse noch nicht erfahren. Es gab keinen Grund anzunehmen, daß überhaupt ein physisches Problem bestand. Manchmal brauchten Frauen Monate bis zur Empfängnis. Sie konnte gut an einem der nächsten Tage schwanger werden.
Sobald Caron und Pier das Büro des Spezialisten betraten, kam dieser hinter seinem großen Schreibtisch hervor, um sie zu einer Sitzgruppe zu bitten. Caron drückte sich die Hände an die Brust. Sie wußte, was das bedeutete. So etwas taten Chirurgen ebenfalls, wenn sie schlechte Nachrichten hatten. Sie sorgten dafür, daß sich alle erst einmal bequem hinsetzten und taten so, als seien sie selbst ganz ruhig, und dann erzählten sie den Angehörigen, daß ihr Verwandter gestorben war.
»Es tut mir leid«, sagte der Mann. »Das Ergebnis der Spermauntersuchung ist ausgesprochen gut. Ihre Eileiter sind nicht funktionsfähig, Caron. Wir können die üblichen Maßnahmen versuchen, aber ich kann Ihnen nichts versprechen.«
Wieder mußte Caron an die Frau in der lila Umstandsbluse denken, und Tränen fielen ihr in den Schoß. Pier stand auf und nahm sie in die Arme und drückte seine Wange an ihre.
»Wir schaffen das schon«, sagte er, und sein Atem war warm an ihrem Ohr.
Caron ließ sich die Eileiter durchblasen. Es tat schrecklich weh, aber es änderte nichts. Man riet ihr von Fruchtbarkeitsmitteln ab, das würde nichts helfen.
Aber wie durch ein Wunder war die Kälte aus ihrer Ehe verschwunden. Pier schien ihren Trost ebenso zu brauchen wie sie den seinen.
Eines Abends gingen sie in einen Film, in dem eine rührende Geburtsszene vorkam. Caron griff nach Piers Hand, im selben Moment, als er nach ihrer griff. Er zog ihre Hand an die Lippen und küßte sie. »Wir haben immer noch uns«, sagte er leise.
»Ja«, flüsterte sie. »Aber ich kann einfach nicht aufhören, mir zu wünschen –«
»Doch, du kannst. Wir hören beide auf. Was vergangen ist, ist vergangen. Wir beide sind eine Familie. Ich liebe dich mit allem, was ich habe.«
Trotz Piers tapferer Worte konnte Caron den Gedanken an ein Kind nicht völlig aufgeben. Die Wochen vergingen, und sie sah, wie ihre Kollegen nach der Arbeit nach Hause zu ihren Familien eilten, und sie sehnte sich nach einem Kind.
Es fiel ihr schwer, auf der Kinderstation zu bleiben. Am liebsten hätte sie die Kleinen immer nur im Arm gehalten, statt zu arbeiten.
Ohne Pier etwas davon zu sagen, ging sie zu einer Versammlung zum Thema Adoption.
Aber es war schwer, wenn man ein eigenes Kind wollte, daran zu denken, einem fremden eine Heimat zu bieten. Sie und Pier hatten jedoch nur noch die Wahl zwischen Adoption und Kinderlosigkeit.
Die Versammlung fand in einer Kirche in Waltham statt. Ein paar allzu vergnügte Männer und Frauen klebten sich Namensschilder an und tranken Saft. Aber Caron erfuhr, was sie wissen wollte. Es gab Kinder, die man adoptieren konnte, besonders, wenn man bereit war, ein älteres zu nehmen.
Sie verließ die Kirche mit einem Umschlag voller Broschüren, aber sie war noch nicht bereit, nach Hause zu gehen. Sie fuhr zu dem kleinen Dorfanger von Lexington, stieg aus und setzte sich im Dunkeln auf eine Bank, den Umschlag fest an sich gedrückt.
Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie an all die Babysachen dachte, die sie so hoffnungsvoll angeschafft hatte. So oft hatte sie von ihrer Schwangerschaft geträumt – wie sich die ersten Anzeichen einstellten, wie sie einen Test machte, es Pier erzählte. Die Monate freudiger Erwartung. Selbst die Wassereinlagerung, die Übelkeit – der Oberarzt, den sie im Krankenhaus am liebsten mochte, sagte immer, es gäbe keine gesünderen Vorboten, und er genösse es, eine schwangere Frau sich übergeben zu sehen.
Caron hatte sich ihr Baby bei der Geburt vorgestellt, feucht und faltig. Die Ratespiele darüber, wem er oder sie ähnlich sah. Die Namen: Greta, Elisa. Pier Junior, Horace.
Die Wehen, die Entbindung. Beim Stillen von Pier im Arm gehalten zu werden, während er zärtlich mit ihr flüsterte.
All das würde sie nie erleben.
Sie hatte keine Chance, sie war ihr genommen worden, wie man Wayne Snow die Zukunft genommen hatte.
Also trauerte Caron wieder einmal, diesmal nicht um ein bestimmtes Kind, sondern um all die Kinder, die sie nie haben würde.
Als Caron Pier von der Versammlung und ihren Gedanken und Gefühlen erzählte, war er derjenige, der weinte.
Caron nahm ihn in den Arm und legte den Kopf an seine Schulter. »Es ist so schwer«, sagte sie. »So traurig.«
Sanft schob Pier sie weg. Er sah ihr in die Augen. »Ich kann das einfach nicht. Es tut mir leid«, sagte er.
Caron schluckte. Sie betete, es möge nicht seine endgültige Entscheidung sein. Sie mußte einen Weg finden, ihn von einer Adoption zu überzeugen. Nie ein Kind zu haben, das sie im Arm halten konnte, würde unerträglich für sie sein.
Dann kam der größere Schock. »Ich liebe dich, Caron, wirklich. Es ist schrecklich, dich verlassen zu müssen. Aber ich habe lange darüber nachgedacht. Den Gedanken an eigene Kinder aufzugeben ist noch schrecklicher.«
Caron wartete nicht, bis sie eine neue Wohnung gefunden hatte, sondern zog sofort aus. Es war zu quälend, in der Nähe von Pier und all ihren verlorenen Hoffnungen zu sein. Sie packte einen Koffer, zog in ein Hotel in der Bostoner Innenstadt und legte sich ins Bett.
Den ganzen ersten Tag lang lag sie nur da, zu elend, um zu schlafen oder auch nur zu weinen. Die Sonne ging unter. Caron träumte, daß ein Skalpell sie vom Kopf bis zu den Zehen aufschnitt und daß sie innerlich nur aus Staub bestand; er wurde in Wolken aus ihr herausgeweht.
Als es Morgen wurde, ging Caron ans Fenster. Sie schob es auf und setzte sich auf die Fensterbank.
Sie brauchte sich eigentlich nur noch zu ducken und das Gewicht zu verlagern, und in ein paar Sekunden würde alles vorbei sein.
Sie stellte sich vor, wie sie auf dem Bürgersteig da unten liegen würde, wie die Passanten auswichen, sich dabei gegenseitig umrannten.
Sie saß dort, bis die Hauptverkehrszeit zu Ende war und nicht mehr so viele Menschen auf dem Bürgersteig waren. Jetzt konnte sie es tun, ohne jemanden zu verletzen.
Nein.
Die Leute da unten würden nicht verletzt werden. Aber was war mit denen, die sie gern hatten, ihren beiden Freunden, Julie Gerstein und Dr. Felhammer?
Das war vielleicht das erbärmlichste von allem, dachte Caron und beobachtete, wie eine Fliege gegen das Fensterglas stieß. Ihr Selbstmord würde nur zwei Menschen auf der ganzen Welt etwas ausmachen. Es gab niemanden sonst, dem sie etwas bedeutete. Ihre Mutter und ihr Vater waren tot; Elisa und Reco waren von Santa Conda weggezogen, und keiner von Carons Versuchen, etwas über ihren neuen Wohnort herauszufinden, hatte zu etwas geführt.
Aber ... das bedeutete auch, daß ihr Tod weniger Leid verursachen würde: keine Eltern, kein Mann, keine ungeborenen Kinder, die sie betrauerten.
Sie hätte so weiterleben sollen wie damals, bevor sie Pier kennengelernt hatte.
Wenn sie nie wieder jemanden an sich heranließ, brauchte sie so etwas nie wieder durchzumachen.
Sie konnte nicht verlieren, was sie überhaupt nicht hatte.
Caron schloß das Fenster und ging ins Bett.
Sie beendete ihre Zeit als Assistenzärztin im Mass General einsam, lehnte alle Einladungen ab, konzentrierte ihre Gefühle auf die Kinder, die sie nun hauptsächlich behandelte. Es lag eine gewisse Sicherheit darin, immer mit mehreren Leuten zu tun zu haben. Wenn man sich nicht nur auf einen Mann konzentrierte, eine Frau, ein Kind, dann konnte der Verlust dieser Person nicht so vernichtend sein.
Ihre nächste Assistentenstelle brachte sie wieder ans Johns Hopkins, wo Dr. Felhammer, obwohl ihr arbeitsreicher Alltag häufigen Kontakt verhinderte, immer in der Nähe war.
Danach mußte sie entscheiden, was als nächstes anstand. Sie hatten die besten Häuser zur Auswahl. Zurück ans Mass General und zu Julie? Oder am Hopkins bleiben?
Keine dieser Alternativen schien ihr die richtige zu sein.
Sie war allein, das war alles. Sie konnte sich auf niemanden wirklich verlassen, nur auf sich selbst. Vielleicht würde sie den inneren Frieden, der immer nur eine kurze Strecke entfernt schien, finden, indem sie diese Wahrheit akzeptierte.
Caron bewarb sich beim New York Hospital/Cornell Medical Center um eine Vollzeitstelle – plastische und rekonstruktive Chirurgie –, und wurde mit derselben Begeisterung aufgenommen wie in ihrer bisherigen Abteilung. Ihr Ansehen wuchs. Sie stellte sich beruflichen Herausforderungen mit ungeheurer Leidenschaft, sie lehnte nichts ab, versuchte das Unmögliche. Fälle, die jeder andere Arzt abgelehnt hätte, wurden zu ihrer Spezialität.
Sie gewöhnte sich an die Stadt. In ihrer spärlichen Freizeit machte sie lange Spaziergänge, bei denen sie manchmal das Gefühl hatte, der einzige Mensch zu sein, der nicht ganz freiwillig allein unterwegs war.
Sie besuchte die Bibliotheken der Stadt. Sie hatte Bibliotheken schon immer geliebt, kannte ihre Geräusche, ihre Gerüche. Auch ein unbequemer Holzstuhl konnte etwas Tröstliches haben, das Rascheln einer Zeitung auf der Tischplatte.
Ironischerweise war es in einer Bibliothek, wo sie einen letzten vernichtenden Schlag erhielt. Beim Durchblättern einer Fachzeitschrift fiel ihr Blick auf ein quälend vertrautes Lächeln. Pier – mit Frau und Sohn. Nicht ganz die Frau in der lila Bluse, aber fast. Die Bildunterschrift berichtete, sie verließen die Vereinigten Staaten, um in Argentinien eine Praxis zu eröffnen.
Bevor sie sich beherrschen konnte, entfuhr Caron ein gequältes Aufstöhnen.