Читать книгу Ohne jede Schuld - Molly Katz - Страница 10

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Sean klingelte an der Haustür seiner Eltern und hörte das Glockenspiel im Inneren. Als er heute zum erstenmal hier gewesen war, hatte er die Haustür mit seinem Schlüssel geöffnet. Dadurch hatte er seine Mutter erschreckt, die sich im Augenblick sehr leicht aus der Bahn werfen ließ.

Nancy machte ihm die Tür auf. Sean hatte ein Spiegelbild dessen vor sich, was er vor zehn Minuten noch im Toilettenspiegel seines Restaurants gesehen hatte: ein weißes Gesicht, umrahmt von dunklen Haaren. Allein die Haltung seiner Mutter verriet die Trauer, als würde ihr ein körperlicher Schmerz Krämpfe verursachen.

»Komm rein, mein Lieber.« Sie zog ihn nach drinnen und umarmte ihn auf Zehenspitzen.

Bruce kam aus der Küche. Er küsste Sean auf die Wange. »Danke, dass du gekommen bist. Danke, dass du dich so um uns kümmerst.«

Sean zuckte mit den Schultern. Von Bruce hatte er die Größe und die breiten Schultern geerbt und von Nancy das Aussehen. Seine Haare hatten denselben fast schwarzen Schimmer wie die ihren und lagen im Nacken wie Seide auf dem Kragen auf. Seine Backenknochen waren wunderschön geschwungen – jede Art Kopfbedeckung stand ihm ausgezeichnet. »Das tue ich ja auch für mich.«

Sie gingen in die Küche. Auf dem Tisch stand ein selbst gebackener Streuselkuchen.

»So habe ich was zu tun«, sagte Nancy und deutete auf den Tisch. »Wenn meine Hände beschäftigt sind, dann kann mein Kopf ein bisschen besser abschalten.«

»Auch wenn sie nichts davon essen kann«, sagte Bruce.

Sie blickte ihn besorgt an. »Na, das musst du gerade sagen.«

»Ich weiß«, schaltete Sean sich ein. »Ich kann auch kaum essen. Oder schlafen.«

Bruce nahm ein Glasfläschchen von einem Tablett mit Salz- und Pfefferstreuern und hielt es ihm hin.

Sean hob abwehrend die Hand. »Nein, danke. Ich fühle mich danach immer grauenhaft. Nur im äußersten Notfall.«

Bruce stellte es wieder zurück. »Heute Morgen war ein Kriminalbeamter hier. Leider keinerlei Neuigkeiten. Keine Spur, weder vom Auto noch von dem Verbrecher.«

Sean sagte: »Habt ihr vielleicht das Gefühl, dass sie nicht intensiv genug suchen?«

Bruce hielt kurz inne und nickte dann. »Ja, ich schon.«

»Welcher Beamte war das?«

»Groß gewachsen, Glatzenbildung. Straker.«

»Er war auch im Restaurant. Hat mich eine Zeit lang verhört.«

»Er hat dich verhört?

»Ja.« Sean blickte erst seinen Vater und dann seine Mutter an. Trotz ihres fortschreitenden Alters waren sie beide jung geblieben. Sie hatten den zusätzlichen Schmerz, den er ihnen gleich zufügen würde, nicht verdient. »Er hat mich in allen Einzelheiten nach dem Streit gefragt und wo ich mich anschließend aufgehalten habe. Er hat mich unter Druck gesetzt. Er …« Sean hielt inne und holte tief Luft, spürte, wie sein Brustkorb sich dehnte, und atmete wieder aus. »Anscheinend denkt er, dass es gar kein Autodiebstahl war, sondern dass ich das Ganze eingefädelt habe, um… um zu verschleiern, dass ich selbst Jim umgebracht habe.«

Nancy schlug die Hände vors Gesicht. Bruce ließ vor Schreck den Mund offen stehen und schien in seinem Sessel zu verschwinden.

»Das ist unglaublich«, sagte er heiser.

»Ich habe jede seiner Fragen beantwortet. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht. Dann hat er meine gesammelten Antworten so wieder zusammengesetzt, dass es auf verrückte Weise einen ganz anderen Sinn ergab. Und Straker will das, so viel ist sicher.«

»Aber wie? Wie soll das einen Sinn ergeben?«, wollte Bruce wissen.

»Unser Streit. Jim hat ein paar schlimme Sachen gesagt, und Straker denkt, dass ich mich rächen wollte. Ich habe gesagt, ich glaube nicht, dass ich rausgegangen bin, aber er sagt, dass ich gesehen worden bin. Und das sei verdächtig, meint er. Außerdem sei es nicht vorstellbar, dass ein Autodieb zufällig gewusst hat, dass der Jaguar da steht, und das ausgerechnet an einem Abend, wo ich einen – wie er sich ausgedrückt hat – ›gewaltigen Streit‹ mit Jim hatte.«

Bruce schüttelte den Kopf. »Idiotisch. Reine Erfindung. Vermutlich Faulheit. Ich werde mit dem Polizeichef ein Wörtchen reden. Hast du mit irgendjemandem darüber gesprochen?«

»Mit meinem Anwalt, Mitchell. Und er hat einen Strafverteidiger hinzugezogen. Sie haben mir geraten, jede weitere Aussage zu verweigern, weil Straker voreingenommene Fragen stellt. Sie wollen sich mit ihm in Verbindung setzen.«

Nancy hatte feuchte Augen. Ihre Hand lag auf dem Tisch. Sean drückte sie, und kraftlos erwiderte sie die Geste.

Dr. Carol Carranza schaute den Telefonhörer an, den sie gerade wieder auf die Gabel gelegt hatte. Der Apparat stand auf ihrem überladenen Schreibtisch im Büro der Anästhesie des Westchester County Medical Center, umgeben von weitgehend überflüssig gewordenen Merkzetteln, die noch niemand weggeworfen hatte. Hinter einem Knäuel aus Infusionsschläuchen lag, nur zur Hälfte sichtbar, die Bestellkarte eines chinesischen Imbisses. Quer darüber hatte jemand »minderwertig« geschrieben.

Sie trommelte mit kalten Fingern auf die Schreibtischplatte. Der Anruf war wieder einmal aus einer chirurgischen Abteilung gekommen – die Absage zweier ursprünglich vereinbarter Operationstermine. Das Medical Center durfte sie zwar nicht entlassen, musste ihr aber auch keine Arbeit geben.

Sie dachte an den Tag zurück, als sie sich entschlossen hatte, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Sie hatte nach Rose Karg gesehen, einer frisch operierten Transplantationspatientin. Die sechzigjährige Frau war bei ihrem Besuch blassgrau und nicht ansprechbar gewesen. Erschrocken hatte sie sich an den Sohn der Frau gewandt.

»Was ist passiert? Gestern ging es ihr doch schon viel besser.«

Der Mann zuckte die Schultern. »Sie wissen es nicht.«

Carol hatte die Patientin gründlich betrachtet und dann vorsichtig die Decke zur Seite geschlagen, um ihre Hände und den Oberkörper in Augenschein zu nehmen.

»Was ist denn das, verdammt noch mal?« Sie hob die Hand der Frau hoch. Darin steckte eine nirgendwo angeschlossene Infusionsnadel. Die Hand war blau angelaufen und geschwollen. Blutvergiftung, im ganzen Körper mittlerweile. Nur weil irgendein Vollidiot vergessen hatte, eine überflüssig gewordene Nadel zu entfernen. Und die hatte jetzt zu einer Infektion geführt, der sie nichts entgegenzusetzen hatte.

»Mrs. Karg?«, sagte Carol.

Die Frau zeigte keinerlei Reaktion.

Ihr Sohn sprach Carol an: »Sie wird nicht mehr gesund, nicht wahr?«

Carol hatte ihn angeschaut, und er hatte ihren Blick erwidert, und sie bestätigte ihm ohne Worte, was er wusste: dass seine Mutter wahrscheinlich sterben würde.

Was er noch nicht wusste, war, dass man seiner Mutter das Leben geraubt hatte.

Seither waren Monate vergangen. Wieder blickte Carol das Telefon an und verspürte die sattsam bekannte Mischung aus Trauer und Wut. Das Krankenhaus fügte ihr jede erdenkliche Demütigung zu, um Sie zur Kündigung zu bewegen, sie zu vertreiben, sie vom Prozess fern zu halten. Aber diese Taktik bestärkte sie nur in ihrer Überzeugung, dass die Einrichtung eine Menge zu verbergen hatte.

Sie war verdammt edel. Aber Edelmut machte einsam, und er war gefährlich.

Nur wenige der Kollegen sprachen noch mit ihr oder nahmen sie wenigstens zur Kenntnis. Und die wenigen, die ihr zur Seite standen, taten dies nur, wenn es niemand sehen konnte, der etwas zu sagen hatte. Zweimal schon waren ihre Vorräte an Präparaten sabotiert worden – nicht lebensgefährdend zwar, aber wer weiß, was als Nächstes kam?

Eine Kündigung konnte sie sich nicht leisten. Sie hatte eine Tochter und eine siebzigjährige Mutter und war auf das Einkommen angewiesen. Sie war eine hervorragende Ärztin. Vor August hätte sie fast jeden Job in nahezu jedem beliebigen Krankenhaus haben können. Aber jetzt war sie vielleicht bald nicht mehr in der Lage, sich und ihre Familie durchzubringen.

Carol stand auf und schob den Stuhl an den Schreibtisch. Sie musste an die frische Luft.

»Straker.«

»Detective, mein Name ist Mitchell Blank. Ich vertrete Sean Fell. Könnten Sie mir vielleicht verraten, was Sie von ihm wollen?«

»Wir haben mit Mr. Fell Gespräche bezüglich des Mordes an seinem Bruder geführt.«

»Und?«

»Und Mr. Fell hatte einige Schwierigkeiten bei der Beantwortung etlicher zentraler Fragen. Er kann nicht…«

»Also«, unterbrach ihn Mitchell, »geht es Ihnen nicht darum, was geschehen oder gesagt worden ist, sondern darum, was nicht geschehen und nicht gesagt worden ist. Also um Nicht-Information.«

Straker war einen Augenblick lang still. »Nun ja, stimmt. Aber auch Nicht-Information kann aussagekräftig sein. Und wir haben eine ganze Menge davon gesammelt. Genug jedenfalls, um damit einen Haftbefehl beantragen zu können.«

Ohne jede Schuld

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