Читать книгу Ohne jede Schuld - Molly Katz - Страница 9

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Auf dem Höhepunkt der mittäglichen Hektik kam Straker im Bobby’s an.

Sean platzierte gerade eine Sechsergruppe und hatte etliche wartende Gäste sowie drei Tische zu versorgen, die ungeduldig auf die Rechnung warteten. Trotzdem sah er den Detective schon in dem Augenblick, als er die Tür aufstieß. Er spürte, dass er die Zähne fest aufeinander biss, und ging zu ihm.

Red sagte: »Wo können wir uns unterhalten?«

»In meinem Büro. Aber Sie müssen sich ein paar Minuten gedulden. Ich ersticke in Arbeit.«

Red nickte. »Ich bleibe einfach hier stehen.« Er lehnte sich im Empfangsbereich an die Wand und verschränkte die Arme.

Sean nahm einem Gast den Scheck ab, den dieser hoch in die Luft hielt. Dann rief er vom Reservierungspult aus Mark Wolf an, den Geschäftsführer.

»Kannst du mich hier unten für eine Weile vertreten?«, fragte Sean. »Ich habe ein wichtiges Gespräch.«

Eine Minute später kam Mark die Treppe herunter. Er war einundvierzig Jahre alt und hatte dunkle Haare mit sehr ausgeprägten Geheimratsecken, was auf viele Frauen attraktiv wirkte. Er hatte das Jackett ausgezogen und die Hemdsärmel fast bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, sodass seine muskulösen Unterarme zu sehen waren.

»Gibt’s Probleme?«, fragte Mark.

»Ja«, antwortete Sean. »Ich muss mit dem Detective da drüben reden. Lös mich doch bitte ab.«

Mark zog die Augenbrauen nach oben. »Haben sie was herausgefunden?«

Sean knurrte angewidert. »Anscheinend glauben sie das.«

In Seans Büro im zweiten Stock saßen Sean und Red einander in schwarz-ledernen Ohrensesseln gegenüber. Mit seinen blassen jadefarbenen Wänden und den Ebenholz-Wandleuchten wirkte das Büro genau so schick und stromlinienförmig wie das ganze Restaurant. Eine doppelflügelige Verandatür führte auf einen kleinen Balkon im Südstaatenstil. Sarah hatte dort einmal einige Bougainvillea-Ranken angepflanzt. Aber das war lange her. Nur einige vereinzelte Zweige krallten sich noch wie abgestorbene Finger um das Geländer.

Straker war in einem dunkelgrauen Anzug und einem ausgeleierten Oxford-Hemd gekommen. Sean trug einen marineblauen Kaschmirblazer.

Sean eröffnete das Gespräch: »Meine Schwägerin hat mich angerufen. Sie hat gesagt, dass Sie mich für den Mörder meines Bruders halten.«

Straker ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Einen solch frontalen Vorstoß hatte er nicht erwartet. Dass Angela ihren Schwager vorwarnen würde, war klar gewesen, aber in aller Regel warteten die Leute ab, bis sie selbst gefragt wurden.

Er stützte die Hände auf die Oberschenkel. »Im Augenblick halte ich noch gar nichts für sicher. Ich mache nichts anderes, als mit verschiedenen Personen zu sprechen.« Er holte sein Notizbuch hervor und schlug eine voll gekritzelte Seite auf. »Sie haben angegeben, dass Sie Ihren Bruder bei der Feier das letzte Mal nach dem Streit im Schwimmbad, den etliche Augenzeugen beobachtet haben, gesehen haben. Was ist danach passiert?«

»Ich weiß es nicht mehr genau. Ich habe mich natürlich über das, was gesagt worden war, aufgeregt, auch über die Tatsache, dass wir uns auf der Hochzeitstagsfeier unserer Eltern gestritten haben. Dadurch war ich abgelenkt. Ich habe gar nicht bemerkt, dass Jim gegangen ist.«

»Und wo waren Sie? Immer noch im Schwimmbad?«

»Ich glaube schon.«

»Bis wann genau?«

»Ich weiß nicht.«

»Um wie viel Uhr haben Sie die Party verlassen?«

»Ich weiß, dass ich gegen halb zwei zu Hause war.«

Straker blätterte um. »Der Streit, den Angela Diamond und andere beobachtet haben, war gegen dreiundzwanzig Uhr fünfzehn zu Ende. Sie wohnen wie weit vom Haus Ihrer Eltern entfernt?«

»Nicht weit. Mit dem Auto sind es sieben, acht Minuten.«

»Dann haben Sie also weitere zwei Stunden auf der Party verbracht, aber Sie können mir nicht sagen, wo genau Sie sich aufgehalten haben?«

Sean rutschte auf der Sitzfläche nach vorne. »Das Haus ist riesig. Und das gesamte Erdgeschoss war voller Gäste.«

»Dann sind Sie sich also zumindest sicher, dass Sie sich im Erdgeschoss aufgehalten haben?«

Sean spielte abwesend mit einer Klebebandrolle, zog ein Stück ab und rollte es wieder auf. Straker beobachtete ihn.

»Sicher bin ich mir nicht«, sagte Sean schließlich. »Vielleicht bin ich vor der Abfahrt auch noch einmal nach oben gegangen.«

»Aha«, erwiderte Straker. »Dann wissen Sie immerhin noch, dass Sie sich die ganze Zeit über im Inneren des Hauses aufgehalten haben.«

»Ich … glaube schon, ja.«

Sean stand auf und ging zur Balkontür, von wo er auf den Parkplatz starrte.

Straker war sich nicht sicher, ob Seans leise Worte wirklich an ihn gerichtet waren: »Ich warte immer noch darauf, dass Jim ankommt, lausche, ob ich seinen Wagen draußen höre.«

Was will er eigentlich, einen gottverdammten Heiligenschein?, dachte Straker. Dann hatte er das unangenehme Gefühl, dass er Sean bereits jetzt für den Täter hielt.

Er fragte ihn: »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen verrate, dass Sie während dieser Zeit draußen gesehen wurden?«

Sean hatte sich immer noch zum Fenster gewandt und erwiderte achselzuckend: »Ich würde sagen, dass ich dann wohl einen der Gäste zum Auto begleitet haben muss. Ich habe doch schon gesagt, dass ich durcheinander war. Ich kann mich nicht erinnern. Und seither bin ich erst recht durcheinander, Detective. Mein Bruder ist ermordet worden!«

Er drehte sich zu Straker um. »Ich versuche wirklich die Ruhe zu bewahren. Aber während Sie hier auf mir herumhacken, läuft da draußen unbehelligt ein Mörder herum. Meine Eltern und ich würden es wirklich sehr begrüßen, wenn die Polizei sich endlich daranmachen würde, ihn ausfindig zu machen und hinter Gitter zu bringen!«

Straker nickte, als wäre das ein interessanter Vorschlag. »Davon bin ich überzeugt. Meine Beamten sind gerade dabei, genau das zu tun. Aber unser Gespräch ist noch nicht zu Ende. Ich muss Ihre Geduld noch ein wenig länger in Anspruch nehmen.«

Sean fing an zu reden, aber Straker unterbrach ihn. »Ihnen ist doch genauso klar wie mir, dass Sie die Aussage auch verweigern können.«

Straker hoffte, dass dieser einfache Satz Sean Fell veranlassen würde, im Geiste durchzuspielen, wie die Sache sich weiterentwickeln würde – bis zu dem Punkt, an dem er still dasitzen und noch mehr Fragen beantworten musste. Der Mann war nicht dumm, schien nicht diesen Macho-Ego-Reflex zu haben, einem Polizisten aus Prinzip Widerstand entgegenbringen zu müssen.

Seine Hoffnung ging in Erfüllung. Sean setzte sich.

Straker ließ den Finger über eine voll geschriebene Seite gleiten und fragte: »Was hat Jim damit gemeint, als er zu Ihnen gesagt hat: ›Ich bin viel besser in dem Job, als du denkst. Ich ziehe da mein eigenes Ding durch. Und du hast nicht den leisesten gottverdammten Schimmer‹?«

»Mein Bruder war … gespalten, was seine Arbeit im Bobby’s betraf. Er hatte das Gefühl, ich würde seine Fähigkeiten nicht angemessen würdigen.«

»Mehr ist aus diesem Satz Ihrer Meinung nach nicht herauszuhören?«

Sean wandte den Blick ab und rieb sich mit der Handkante den Hals. »Das war ein altes Thema zwischen uns. Ich bin schon früh in die Wirtschaft gegangen, und Jim hat mal dies, mal das gemacht. Er hat immer gedacht, ich würde ihn nicht ernst nehmen, auch wenn das gar nicht der Fall war. Im Grunde genommen hat er sich von niemandem wirklich ernst genommen gefühlt. Er hatte keinerlei Selbstbewusstsein.«

Straker wartete ab, ob noch mehr kam. Sean schaute ihn unverwandt an.

»›Ich ziehe da mein eigenes Ding durch.‹«, zitierte Straker noch einmal.

»Ja, ja. Das hat er gesagt. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Wie kommt es, dass Sie sich exakt an die Worte Ihres Bruders erinnern können, die während eines hitzigen Streits in einem Raum voller Menschen und untermalt von Live-Musik gefallen sind, aber kaum etwas über die Ereignisse der anschließenden zwei Stunden sagen können?«

Sean blieb zunächst stumm. Dann sagte er: »Ich weiß nicht, wieso ich mir das gemerkt habe. Aber warten Sie mal … mein Geschäftsführer Mark Wolf hat ebenfalls eng mit Jim zusammengearbeitet. Er kannte meinen Bruder recht gut, zumindest im Zusammenhang mit der Arbeit. Wir könnten ihn zu uns heraufbitten.«

»Also gut«, sagte Red, »machen wir das.«

Sean telefonierte nach unten. Drei Minuten später betrat Mark das Büro, und Sean fasste kurz das Wichtigste zusammen. »Vielleicht kannst du ja etwas damit anfangen«, sagte er. Straker las noch einmal vor.

»›Ich bin viel besser in dem Job, als du denkst. Ich ziehe da mein eigenes Ding durch. Und du hast nicht den leisesten gottverdammten Schimmer.‹« Straker hielt den Blick auf Mark gerichtet und beugte sich nach vorne.

Mark dachte eine Minute lang nach und zuckte dann die Schultern. »Jim hat öfter so etwas gesagt. Er hat sich nach Seans Anerkennung gesehnt. Und er war verbittert, weil ihm das, was er bekommen hat, nicht gereicht hat.«

Sean sagte. »Ich weiß auch nicht. Ich denke schon, dass mich das, was er da gesagt hat, belastet hat.«

Red wandte sich ihm zu. »Sie haben gedacht, dass Ihr Bruder damit vielleicht etwas andeuten wollte?«

Sean nickte. »Nicht sofort. Aber später…«

»Wann später?«

»Ich muss es unterschwellig gespürt haben.«

»Also haben Sie ihn gefragt.«

»Nein.«

»Nein?«

»Ich habe ihn danach nicht mehr gesprochen.« Sean holte tief Luft und stieß den Atem dann wieder aus.

»Das heißt, Sie haben also nach dem Streit, der ungefähr um dreiundzwanzig Uhr zehn begonnen und etwa fünf Minuten später geendet hat, nicht mehr mit Ihrem Bruder gesprochen. An dieser Behauptung halten Sie fest?«

Sean hielt den Blick auf die Papiere auf seinem Schreibtisch gerichtet, aber er schien sie nicht wahrzunehmen. Dann blickte er Straker erneut an. Sein Atem raste, sein Brustkorb hob und senkte sich sichtbar unter seinem Hemd.

»Das ist keine Behauptung. Das ist die Wahrheit.«

Mark wandte sich an Red. »Irgendwie komme ich hier nicht ganz mit. Das klingt ja fast so, als würden Sie glauben, dass Sean etwas zu verbergen hat.«

Sean erwiderte, den Blick auf Straker gerichtet: »Genau das denkt er auch.«

Straker lehnte sich zurück. »Sie wirken ziemlich aufgeregt.«

Sean ließ ein bellendes, gequältes Lachen hören. »Aber nein, Detective. Warum sollte ich?«

Straker blieb stumm, und Sean füllte die Stille. »Meine Frau ist tot. Mein Bruder ist tot.« Bei jedem Satz schlug er mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Ein Mörder fährt im Auto meines Bruders durch die Gegend, aber die Polizei beschuldigt mich, dass ich ihn umgebracht habe. Wieso sollte ich aufgeregt sein?«

Mark Wolf hielt den Atem an. Noch bevor er etwas sagen konnte, war Straker aufgestanden. »Bis jetzt habe ich Ihnen zugehört. Aber jetzt hören Sie mir einmal zu.« Er stützte die Hände in die Hüften. »Ich soll Ihnen abnehmen, dass Sie zwar einen leidenschaftlichen Streit mit Ihrem Bruder wortwörtlich wiedergeben können, dass Sie aber an die darauf folgenden zwei Stunden keinerlei Erinnerung mehr haben. Ihr Bruder deutet an, dass in Ihrem Restaurant irgendetwas Geheimnisvolles vor sich geht, und Sie denken: ›Wie eigenartig‹, fragen ihn aber nicht einmal, was er damit gemeint hat. Sie werden außerhalb des Hauses gesehen, können sich aber auch daran nicht erinnern.«

Straker ging zu Sean und baute sich vor ihm auf, so dicht, dass er das Mundwasser seines Gegenübers riechen konnte. »Und schließlich wird Ihr Bruder tot und ohne Auto aufgefunden, was Sie damit erklären, dass ein Unbekannter ihm den Schädel eingeschlagen und sein Auto gestohlen hat. Irgendein Fremder hat also zufällig gewusst, dass da ein wenig abseits der Straße ein Jaguar geparkt war, und hat stundenlang in der Kälte auf den Besitzer gewartet. Und all das zufälligerweise genau an dem Abend, an dem nach Jahren der Spannung und der Rivalität ein gewaltiger Streit zwischen Ihnen und Ihrem Bruder ausbricht. Warum also sollte man Sie in irgendeiner Weise verdächtigen?«

Sean stand auf. Er atmete jetzt noch schwerer, sein Blick war unstet, nervös. »Sie können doch nicht… das ist doch Wahnsinn.«

Straker nickte. »Natürlich.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, so wie Sean vorhin. »Ich komme wieder.«

Als die Bürotür ins Schloss gefallen war, drehte sich Mark zu Sean um. »Er glaubt, dass du Jim umgebracht hast? Was redet der Mann da?«

Sean schüttelte den Kopf. Er wischte den schwarzen Schleier weg, der sich über seine Stirn legen wollte.

»Hast du schon deinen Anwalt verständigt?«, fragte Mark.

»Noch nicht.«

»Ruf ihn an, Sean. Sag kein Wort mehr, zu niemandem.«

Ohne jede Schuld

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