Читать книгу Ohne jede Schuld - Molly Katz - Страница 11

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Montag, 28. Januar 2001

Am folgenden Montag kam Sean erst während des Aufräumens nach der Mittagszeit ins Restaurant. Auf dem Weg in die Küche griff er automatisch nach den Tellern, die immer noch auf einem Tisch standen, und stellte dabei fest, dass diese beiden Gäste offensichtlich die Seezunge mit Kapern genossen hatten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie die Eingangstür geöffnet wurde. Als er aufblickte, erkannte er Straker.

Sein Gang wirkte irgendwie verändert, und Sean richtete sich unwillkürlich zu seiner vollen Größe von einem Meter fünfundachtzig auf. Er erwiderte den Blick des Detectives, der auf ihn zukam und ihn unentwegt anstarrte.

Vor Sean stehend sagte Straker: »Ich komme gerade vom Haftrichter. Er hat die Anklageschrift gegen Sie unterzeichnet.«

Bruce Fell sah das klingelnde Telefon an. Er überlegte kurz, ob er den Anrufbeantworter laufen lassen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Es könnte ja sein, dass es etwas Neues im Mordfall gab.

»Dr. Fell am Apparat.«

»Sir, hier spricht Max Ameel von den Gannett Westchester Newspapers. Ich belästige Sie nur ungern, aber könnten Sie vielleicht zu der Tatsache Stellung nehmen, dass Ihr Sohn des Mordes an seinem Bruder angeklagt wird?«

Bruce stolperte rückwärts und fiel auf einen Sessel. »Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein?!«

»Es tut mir Leid, dass ausgerechnet ich der Überbringer der schlechten Nachricht bin. Ich dachte, Sie wüssten es bereits. Die Anklageschrift ist heute ergangen, Sir. Sean wird in diesen Minuten festgenommen.«

»Mein Gott.«

Ameel war zwar ein stromlinienförmiger Nachrichtenroboter, aber er war auch Vater und Mensch. Früher war er einmal Mitherausgeber einer Beilage über Hochschulbildung gewesen, die sich auch ausführlich mit Präsident Fells Engagement für die Einführung von Stipendien für Hörgeschädigte beschäftigt hatte. Es war bekannt, dass der Präsident abgebrannten Studenten gelegentlich einen Zwanzigdollarschein zusteckte. Er kannte jeden einzelnen Menschen auf dem Universitätsgelände mit Vor- und Nachnamen. Er wusste, wer drei Hunde hatte, wer gerne auf dem Bear Mountain wandern ging und wessen Bruder Dachdecker war. Mit nur einem Telefonat konnte Dr. Fell einen Samstagsausflug oder eine schnelle Reparatur an seinem Haus organisieren und damit sowohl sein eigenes Problem lösen als auch einer Familie zu einer zusätzlichen Einnahme verhelfen.

Ameel saß an seinem Schreibtisch in einem lauten Büro in der Innenstadt, zuckte kurz zusammen, klopfte mit dem Finger auf die Tischplatte und beschloss dann, es würde ihn nicht umbringen, wenn auch er ein wenig Mitleid zeigte.

»Es tut mir wirklich Leid, Sir, auch, dass ich Sie gestört habe. Ich rufe später noch einmal an. Alles Gute.«

Sean wirkte niedergeschlagen und wütend zugleich. Kerzengerade saß er auf dem unbequemen Gefängnisstuhl, die Augen zu Schlitzen verengt. Ich sah ihn an und spürte, wie die Hoffnungslosigkeit sich in mir breit machte. Ich wollte seine Hand berühren, aber ich zitterte heftig.

Dann zog ich mich auf die Informationsebene zurück. »Was sagt dein Anwalt, wann kommst du auf Kaution frei?«

»Voraussichtlich morgen.«

»Welche Indizien haben sie dem Haftrichter vorgelegt? Hat Mitchell es dir erzählt?«

»Ja. Der Streit auf der Feier. Straker behauptet, dass mehr dahinter steckt, als ich zugegeben habe. Die Aussagen einiger Restaurant-Angestellter, dass Jim und ich einander angeschrien haben …«

»Und, stimmt das?«

»Natürlich! Ab und zu. Na und? Dann waren da noch ein paar Partygäste, die mich draußen gesehen haben, als sie selbst nach Hause gegangen sind…«

»Stimmt das auch?«

»Ich weiß nicht, verdammt noch mal! Willst du jetzt auch noch an mir zweifeln? Ich kann mich nicht an jeden Schritt erinnern, den ich gemacht habe. Vielleicht habe ich mich sogar noch einmal mit Jim gestritten. Vielleicht war ich spazieren, wahrscheinlich sogar, wenn mich jemand gesehen hat. Wie, zum Teufel, soll ich mich erinnern, was an diesem Abend passiert ist? Ich hatte doch keine Ahnung, dass das so wichtig werden würde. Ich habe schon fünfzig solcher Abende erlebt. Ich fühle mich miserabel, ich gehe raus an die frische Luft, es wird nicht besser, ich komme wieder rein. Man fängt an, jede Menge überspannter Sachen zu machen, wenn jemand gestorben ist…«

Er fing sich, wandte den Blick ab und schaute mich wieder an. »Tut mir Leid. Du hast sie ja auch verloren. Manchmal vergesse ich das …“

Ich stand auf und ging durch das kleine Besprechungszimmer zu ihm. Es roch nach Schweißfüßen und Angst. An dem Mitteilungsbrett an der Wand steckten lediglich sechs Reißzwecken, als gäbe es im Moment nichts Wichtiges mitzuteilen, später aber vielleicht schon.

»Das verstehe ich. Mir geht es genauso.«

Sean hielt sich mit tintenverschmierten Händen an den Armlehnen seines Stuhls fest. »Ich habe kein Recht, so mit dir zu reden. Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

Ich setzte mich wieder hin. »Was ist mit dem Wagen? Wie erklärt sich Straker sein Verschwinden, wenn es hier nur um einen Streit zwischen dir und Jim geht?«

»Er glaubt immer noch, dass ich ihn irgendwo versteckt habe, um von mir abzulenken. Er behauptet, es gäbe keinen Hinweis auf einen Autodiebstahl.«

»Das lässt sich auf jeden Fall für die Verteidigung verwenden«, sagte ich, mehr oder weniger zu mir selbst.

»Für die Verteidigung? Zum Teufel damit. Die Polizei soll sich auch damit befassen und dann denjenigen aufknüpfen, der den Mord verübt hat. Straker ist nichts als ein Haufen Scheiße! Ich weiß, dass ich meinen Bruder nicht umgebracht habe. Ich weiß, dass ich dieses Auto nicht angerührt habe. Irgendein Arschloch war’s, und die sollten sich lieber beeilen, ihn endlich zu finden.«

Ich saß am Fenster zur Bucht, im Raum direkt neben dem Esszimmer der Fells, genau an der Stelle, wo Sean und ich am Morgen nach dem Mord gesessen und miteinander geweint hatten. Alles, was wir an diesem Tag gesehen hatten, hatte uns an Jim oder Sarah erinnert. Und jetzt hatte schon die nächste Tragödie begonnen. Ich sah Bruce und Nancy, sah ihren Schock, spürte ihn in meinem Inneren, hatte sogar das Gefühl, ihn überall zu schmecken.

»Wir waren kurz nach dir bei Sean«, sagte Nancy. »Er sieht furchtbar aus.«

»Ich weiß«, erwiderte ich.

Bruce beugte sich zu mir herüber und legte seine Hand auf meine. Seine schwieligen, mit Sommersprossen bedeckten Finger zitterten. Man konnte es nicht sehen, aber ich spürte die Vibrationen.

»Ich weiß, dass du in Arbeit erstickst, jetzt, wo du demnächst Teilhaberin wirst«, sagte er, »aber … wir müssen dich einfach fragen. Könntest du dir vorstellen, Seans Verteidigung zu übernehmen?«

Der Druck seiner Finger verstärkte sich leicht, aber nicht stark genug, um das sofort einsetzende Zittern meiner eigenen Hand zu verhindern. Ich hörte mein Herz schlagen, spürte das Pulsieren im Hals.

Am liebsten wäre ich ins Badezimmer gegangen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Beine mich bis dahin tragen würden. Mir wurde speiübel.

Ein Hausmädchen erschien in der Tür, eine Neue, mit irgendeinem blumigen Namen, der mir nicht mehr einfiel.

Sie sagte mit leiser Stimme: »Sie sagten, Sie wollten vielleicht etwas Tee? Darf ich …«

»Jetzt nicht«, zischte Bruce.

»Einen Augenblick bitte, Blossom«, meinte Nancy. Sie wandte sich mir zu. »Möchtest du einen Schluck, Liebes?«

»Nein, danke.«

»Wir sind gerade in einem wichtigen Gespräch«, sagte Bruce mit lauter werdender Stimme. »Wir sollten uns jetzt wirklich nicht ablenken lassen. Sie können gehen, Blossom.«

Nancy schaute ihn resigniert an und wandte sich dann wieder an mich. »Wir wissen, dass Mitchells Leute ausgezeichnete Arbeit leisten würden«, sagte Nancy. »Aber du bist eine brillante Anwältin, und du gehörst zur Familie.« Ihr Blick senkte sich in meinen. In ihm war nichts als nackte Trauer.

Ich riss mich von Bruces Hand und Nancys Blick los. Das Hämmern in meiner Brust drohte mir die Stimme zu ersticken.

»Es tut mir wirklich Leid«, sagte ich, »aber… nein. Ich kann nicht. Ich … stehe euch allen zu nahe… der ganzen Situation. Ich könnte mich nicht voll auf meine Arbeit konzentrieren.«

Ich parkte hinter dem Housatonic Care Center und gelangte durch den Hintereingang in die Lobby. Eigentlich dauerte die Besuchszeit nur bis zwanzig Uhr, aber für Familienangehörige wurden auch Ausnahmen gemacht.

»Wie geht es Dad?«, fragte ich die Stationsschwester, wie immer, und ich bekam die übliche Antwort: »Nicht schlecht.«

Dann ging ich den Korridor entlang auf das Zimmer Nummer 647 zu. Dort würde ich meinen Vater in einem Paisley-Sessel vor dem Fernseher sitzend vorfinden. Ich war mir nie sicher, ob er das Geschehen auf der Mattscheibe tatsächlich mitbekam – die Alzheimersche Krankheit hatte ihn so fest im Griff, dass er weder darüber noch über sonst etwas mit mir sprechen konnte.

Er lächelte, als ich eintrat. Ich beugte mich zu ihm hinab und umarmte ihn, und er drückte meine Schulter. Krampfhaft hielt ich mich an der Vorstellung fest, dass er wusste, wer ich bin. Fragte er sich eigentlich, warum Sarah nicht mehr zu Besuch kam? Es war nicht zu erkennen.

Ich drehte seinen Sessel um und setzte mich ihm gegenüber auf den anderen Sessel, der im Zimmer stand. Ich spürte noch immer das Kitzeln seiner weichen, weißen Haare an meinem Kinn. Das war mir ein großer Trost, wahrscheinlich deshalb, weil ich wusste, dass es der einzige Trost bleiben würde.

»Ich habe dir einen Schokoriegel mitgebracht, Dad«, sagte ich und holte ihn aus meiner Handtasche. Er lächelte erneut. Ich wickelte ihn aus und reichte ihn ihm.

Während er aß, redete ich leise weiter. »Nina liest gerade Das Tagebuch der Anne Frank. Sie stellt sehr nachdenkliche Fragen darüber – zum Beispiel, wieso die Holländer damals so anders gedacht haben als die Deutschen. Sie ist so ein sensibles Mädchen. Ich wünschte, du könntest sie so kennen lernen, wie sie jetzt ist. Sie braucht einen Großvater wie dich. Barrys Eltern sind einfach schrecklich, genauso arrogant wie er selbst. Sie kritteln an ihrem Gewicht herum. Sie wissen sie überhaupt nicht zu würdigen.«

Dad hatte jetzt den ausgepackten Teil des Schokoriegels aufgegessen und kaute auf dem Papier herum. Mit etwas Mühe konnte ich ihm die Süßigkeit entwenden und den Rest auspacken. Er würde sich zwar mit der geschmolzenen Schokolade verschmieren, aber das war immer noch besser, als wenn er die Plastikfolie essen würde.

Ich redete immer weiter in der Hoffnung, dass ich durch das automatische Geplapper ein wenig ruhiger werden würde. Mein Vater behielt seinen einfältigen Gesichtsausdruck unverändert bei. Als er seinen Schokoriegel aufgegessen hatte, ging ich ins Badezimmer, um einen Waschlappen zu holen. Auf der Ablage über dem Waschbecken lagen sein Rasierpinsel aus Elfenbein, fast ohne Borsten, sowie die Porzellanschale mit der Rasierseife. Diese Gegenstände waren untrennbar mit meinem Vater verbunden, auch wenn er sich schon viele Jahre nicht mehr selbst rasiert hatte.

Ich ging mit dem Waschlappen zu ihm und wischte ihm Gesicht und Hände ab.

Wenn ich Dad besuchte, redete ich eigentlich immer nur über oberflächliche und belanglose Dinge. Irgendwann hatte ich dann genug davon, wir umarmten uns noch einmal, und ich ging wieder nach Hause. Aber heute hatte ich das Bedürfnis nach mehr. Ich brauchte ihn als Zuhörer, weil ich sonst niemanden hatte.

»Es ist etwas passiert…, was mich sehr beschäftigt«, sagte ich. »Ein Mann ist umgebracht worden. Jim.« Aufmerksam schaute ich meinen Vater an. Beim geringsten Anzeichen von Unruhe würde ich sofort aufhören. »Sein Jaguar ist verschwunden. Es sieht ganz danach aus, als wäre er gestohlen worden und als wäre Jim von dem Autodieb umgebracht worden, aber die Polizei glaubt, dass sein Bruder Sean es getan hat. Das ist… wenn du Sean kennen würdest, dann wüsstest du, dass das unmöglich ist. Gewalttätigkeit ist ihm vollkommen fremd. Und er hat Jim sein ganzes Leben lang beschützt.«

Ich unterbrach mich, um ihm die Möglichkeit zu geben, darauf zu reagieren, wenn er wollte. Aber er hielt weiter nur seinen gütigen, abwesenden Blick auf mich gerichtet.

»Sean ist der dynamischere der beiden. Jim hat immer in seinem Schatten gestanden. Viele Brüder würden eine solche Situation ausnützen, aber Sean hat das nie getan. Er hat Jim finanziell unterstützt, ihm mit Rat und Tat zur Seite gestanden, ihn mit allem versorgt, was er brauchte. Auch mit Arbeit. Jim war bei Sean angestellt.«

Ich hatte einen Schokoladenfleck auf Dads Kinn übersehen und wischte ihn mit dem Daumen weg. »Das Restaurant liegt in Rye. Es heißt Bobby’s, angelehnt an Seans zweiten Vornamen Robert. Ich würde dich so gerne einmal dorthin mitnehmen. Der Schweinebraten mit Äpfeln und Rotkohl würde dir wunderbar schmecken. Und der Schokoladenkuchen auch.«

Einen kurzen Augenblick lang hatte ich Dad so vor mir, wie er gewesen war, als ich vierzehn war, nach Moms Tod. Jeden Abend hat er mit Sarah und mir am Esszimmertisch gesessen. Es gab ein einfaches Abendessen, und wir versuchten, uns von dem leeren Stuhl und den Pausen in den Gesprächen nicht zu sehr belasten zu lassen. Seine blauen Augen waren voller Trauer, aber irgendwie schaffte er es trotzdem, zumindest so zu tun, als würde er sich für unsere Schularbeiten und unsere sonstigen Aktivitäten interessieren…

… so lange, bis seine sich stetig verdunkelnden Sinne und der glücklicherweise nachlassende Schmerz ihn an den Ort gebracht hatten, an dem er heute war – auf seinem eigenen geistigen Riff, das im Nirgendwo schwebte.

»Also«, fuhr ich mit erhobener Stimme fort, um den großen Kloß, der mir im Hals steckte, zu überwinden. »Sean ist gestern verhaftet worden. Die Anklage lautet: Mord.«

Ich wartete ab, beobachtete ihn. Nicht das geringste Anzeichen verriet Unruhe.

»Seans Eltern… erst haben sie ihre Schwiegertochter und ihren Sohn verloren, und jetzt wird der Sohn, der ihnen noch geblieben ist, aller Wahrscheinlichkeit nach vor Gericht gestellt. Sie stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Sie haben mich gebeten, Sean zu vertreten. Sie haben mich angefleht. Aber ich musste ablehnen.«

Einen Augenblick lang schloss ich die Augen, um die aufkommenden Tränen zurückzudrängen. »Ich weiß, dass Sean unschuldig ist. Ich weiß, dass er seinen Bruder nicht getötet hat. Aber ich kann ihn nicht verteidigen. Weil … es gibt einen Grund dafür, dass ich seiner Unschuld so sicher bin … es ist… weil… weil ich es war. Ich habe Jim umgebracht.«

Dröhnend hallten diese vier Worte in dem kleinen Zimmer wider, schlugen von allen Seiten auf mich ein, wurden lauter und lauter, so lange, bis sie zu einer kreischenden Rückkoppelung geworden waren. Ich wollte mir nur noch die Ohren zuhalten.

Ich betrachtete meinen Dad. Der lärmende Widerhall meiner Schuld war so real gewesen, dass ich das Gefühl hatte, er musste es ebenfalls gehört haben. Aber er ließ nicht die leiseste Andeutung erkennen, dass er wusste, was ich getan hatte.

»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, flüsterte ich. »Ich kann doch nicht zulassen, dass Sean … ich … aber …«

Gleich würden die Tränen anfangen zu fließen. Ich wagte nicht, Daddy sehen zu lassen, was er nicht gehört hatte.

Der visuelle Eindruck könnte möglicherweise etwas auslösen, was meine Stimme nicht geschafft hatte.

Ich stand auf, umarmte ihn und küsste ihn auf den Scheitel. Dann drehte ich seinen Sessel wieder dem Fernseher zu.

»Ich komme bald wieder«, sagte ich und streichelte ihm über die Wange. Dann dachte ich kurz, ob ich mich fürs Zuhören bei ihm bedanken sollte, aber die Absurdität dieses Gedankens raubte mir die Stimme.

Ohne jede Schuld

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