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Freitag, 26. Januar 2001

Sechs Tage nach dem Mord rief mich Ninas Lehrerin im Büro an.

»Ihre Tochter macht einen niedergeschlagenen Eindruck, Mrs. Diamond. Sehr viel stärker als bisher. Sie hat gesagt, sie sei bei einer Beerdigung gewesen.«

»Ihr Onkel ist gestorben. Sie hat ihn sehr gern gehabt. Sie wollte unbedingt mitkommen«, sagte ich. »Aber ich hätte es nicht zulassen sollen. Es tut mir Leid.«

»Geht es dabei nicht um diesen Mord im Zusammenhang mit dem Autodiebstahl an der Harrison-Universität? Dann war Ninas Onkel also der Sohn des Universitätspräsidenten.«

»Das ist richtig.«

Ich hörte, wie sie heftig schnaubend den Atem ausstieß. »Kein Wunder, dass sie vollkommen durcheinander ist. Ihre Familie taucht ständig in den Medien auf. Und das ist der zweite Todesfall innerhalb kurzer Zeit, nicht wahr?«

»Meine Schwester ist vor drei Monaten an Krebs gestorben. Ihr verwitweter Mann Sean ist der Bruder des Ermordeten.«

»Das tut mir wirklich sehr Leid, für Nina und für Sie. Schon für einen Erwachsenen sind solche Schicksalsschläge nur schwer zu verkraften, was muss das erst für ein Kind in ihrem Alter bedeuten… ganz abgesehen davon, was Ihre Trennung für sie bedeutet. Ich möchte sie gerne zu Sharon Fine überweisen. Das ist unsere Schulpsychologin.«

Ich rieb mir die Stirn. Dann fiel mir ein, wie Nina heute Morgen am Frühstückstisch gesessen hatte, wie sie eine einzelne Erdbeere in ihrem Müsli hin und her gewälzt hatte und schließlich aufgestanden war, ohne einen Bissen zu essen.

Ich legte eine Hand vor meine brennenden Augen, als könnte ich meine Gefühle damit zurückhalten.

Am liebsten hätte ich das Büro verlassen, wäre zur Schule gefahren, hätte meine Tochter geschnappt und wäre mit ihr weitergefahren, ohne anzuhalten. Wir hätten uns irgendwo ein kleines, gemütliches Häuschen gesucht, und die einzigen Toten um uns herum wären Schnecken gewesen.

Die Sprechanlage auf meinem Schreibtisch summte. Ich überhörte es.

»Mrs. Diamond?«, bohrte die Lehrerin nach.

»Ich … ich werde darüber nachdenken.«

Eine Schulpsychologin, das bedeutete Tonbandaufnahmen und Akteneinträge, goldene Gaben der Ent-Privatisierung, mit denen Barry wunderbar jonglieren konnte. Aber meine Krankenversicherung deckte nur das Minimum ab – optimal bei Lebertransplantationen, aber hoffnungslos bei Psychotherapien. Ich wollte Nina schon längst in Behandlung geben, das Geld dazu würde ich allerdings erst ab Mai haben, wenn mich die Sozietät zur Teilhaberin gemacht hatte. Es war schrecklich, Nina leiden zu sehen.

Meine Sprechanlage summte erneut. Eine Minute später klopfte es an die Tür, und Detective Red Straker trat ein. Ich hatte ihn erst am Samstag gesehen, bei den Fells. Kathy, meine Sekretärin, stand direkt hinter ihm.

»Angela, er ist einfach an meinem Tisch …«

»Das sieht sie selber«, sagte Straker und setzte sich auf das Sofa vor meinem Schreibtisch.

»Einen Augenblick bitte«, sagte ich zu der Lehrerin. Ich blickte Red an. »Ich telefoniere. Falls Sie mit mir sprechen möchten, dann warten Sie bitte im Vorzimmer. Sobald ich fertig bin, können Sie hereinkommen.«

»Prima«, sagte Straker. Er stand auf und ging ohne Umschweife hinaus.

Ich blickte auf die geschlossene Tür. Der Detective war der Letzte, mit dem ich jetzt zu tun haben wollte.

Wieder dachte ich an Nina und wie sie ohne etwas im Magen zu haben vom Küchentisch aufgestanden war. Ich stellte mir vor, wie die Lehrerin diese Szene beobachtete und mich, die unfähige Mutter, kopfschüttelnd betrachtete.

Hör auf damit.

Ins Telefon sagte ich. »Ich weiß, dass Nina eigentlich eine Therapie braucht. Aber da gibt es … persönliche Dinge zwischen ihrem Vater und mir, die es schwierig …«

»Sie meinen das Geld?«, fragte die Lehrerin. »Entschuldigen Sie meine direkte Ausdrucksweise. Ich spreche mit vielen Eltern, und diesen Satz höre ich öfter. Meine Aufgabe besteht darin, dem Kind zu helfen. Warum wollen Sie nicht öffentliche Hilfe in Anspruch nehmen? Sharon Fine kann Sie an eine städtisch geförderte Einrichtung überweisen …«

»Genau das habe ich auch vor«, unterbrach ich sie. »Aber ihr Vater ist dagegen. Er ist selbst Arzt, und er möchte, dass Nina, wenn sie denn behandelt werden muss, privat betreut wird.«

Die Lehrerin atmete hörbar aus. »Wie gesagt, Mrs. Diamond, mir geht es um Nina. Ich habe kein Interesse daran, mich in die persönlichen Belange von Eltern einzumischen. Nina braucht Hilfe, und ich hoffe, dass Sie dafür sorgen, dass sie diese Hilfe bekommt.«

Das Gespräch war beendet, aber ich hatte das Telefon immer noch in der Hand. »Aber ich bin nicht so, wie du denkst!«, wollte ich hineinschreien.

Ich musste Detective Straker hereinlassen. Am liebsten hätte ich Kathy gebeten, ihn wegzuschicken – mit irgendeiner Ausrede, dass ich eine Grippe bekomme oder vor Gericht muss –, aber das hätte das Verhör nur für kurze Zeit hinausgezögert. Im Gegensatz zu Versicherungsvertretern vereinbaren Kriminalpolizisten nicht erst höflich einen neuen Termin.

Erneut ließ er sich auf meinem Sofa nieder. Er war über eins achtzig groß, mit einem unverhältnismäßig kleinen Kopf und einem spärlichen, blonden Haarkranz. Angespannt, wie eine Sprungfeder, saß er da.

Ich sagte: »Sie hätten hier nicht einfach hereinplatzen dürfen.«

Er nickte. »Ich wollte nur sicher gehen, dass Sie mich auch zur Kenntnis nehmen. Dieser Fall macht mich wahnsinnig. Sie …« – er deutete mit dem Finger auf mich – »…haben mir nicht alles gesagt.«

»Was habe ich Ihnen nicht gesagt?«

»Sie haben mich mit Anwaltsgelaber zugeschüttet. Und alles in Watte verpackt.«

Er stand auf und sagte mit spöttischer Falsettstimme: »Sean und Jim haben sich auf der Feier am Hochzeitstag ihrer Eltern gestritten. Ach ja, Brüder sind und bleiben eben Brüder.«

Seine Stimme wurde wieder normal. »Von jemandem, der beruflich im selben Bereich wie ich tätig ist, erwarte ich eine offene Zusammenarbeit. Sie hätten mir sagen müssen, dass zwischen den beiden eine rücksichtslose Rivalität bestanden hat. Am vergangenen Freitagabend sind einige äußerst hitzige Sätze gefallen.«

»Das habe ich Ihnen sehr wohl erzählt!«

»Sie haben gesagt, sie hätten sich über die Arbeit und darüber gestritten, wer den Eltern das schönere Geschenk gemacht hatte. Nach Ihren Worten war das nichts weiter als eine Art Sandkastenrangelei!«

»Ich habe Ihnen jedes Wort erzählt, das ich gehört habe.«

»Sie können sich wirklich nicht daran erinnern, wie Jim Sean wegen seines Geldes beschimpft hat? Wie er ihn einen ›reichen Sack‹ genannt hat? Wie er sich über den Tisch hinweg auf ihn gestürzt hat, um ihm direkt ins Gesicht zu brüllen?«

»Das habe ich nicht gesehen. Wenn überhaupt, dann muss das passiert sein, als ich gerade auf der Toilette war.«

»Sie sind während des Streits auf die Toilette gegangen?«

»Eigentlich hatte ich gedacht, er sei vorbei.«

Straker sagte: »Ein Toilettenbesuch genau zur rechten Zeit. Wollen Sie jemanden decken?«

»Wer könnte denn dieser Jemand sein?«

»Sean könnte dieser Jemand sein!«

Ich warf mich in meinem Sessel nach hinten zurück, als hätte er einen Gegenstand nach mir geworfen.

Er sagte: »Zunächst haben wir uns alle auf diese Diebstahlgeschichte eingeschossen. Aber mir hat sie von Anfang an nicht gepasst, und sie passt mir immer weniger. Das Ganze riecht überhaupt nicht nach Autodiebstahl. Es riecht vielmehr nach einem Familienstreit, der außer Kontrolle geraten ist. Soll ich noch deutlicher werden?«

»Das will ich hoffen.«

Straker beugte sich vor. »Sean ist eine Art Pfadfinder-Sohn, Mamis und Papis Liebling. Hat gute Noten, hilft alten Damen über die Straße. Und geschäftlich wird alles, was er anfasst, zu Platin. Er baut zwei schwer angesagte Restaurants auf. Er legt sein Geld umsichtig an. Mit fünfunddreißig ist er Multimillionär. Äußerst großzügig der Familie gegenüber.

Jim hingegen ist der Loser. Das Einzige, was er jemals fertig kriegt, ist ein Sandwich. Er verkauft Autos und wird gefeuert. Er wird Polizist und kündigt. Alles, was er anfasst, geht schief. Seine Eltern sind voller Energie und Tatendrang, und sie schämen sich wegen Jim.«

Ich schüttelte den Kopf. »Bruce ist Akademiker durch und durch und Nancy eine brillante, ebenfalls sehr anerkannte Person …«

»Verschonen Sie mich. Wir haben fast mit jedem gesprochen, der auf dieser Party war. Wir haben alles Gesagte analysiert, genauso wie das Nicht-Gesagte. Letzteres klingt übrigens ohrenbetäubend laut. Was alle diese Freunde und Verwandten nämlich übereinstimmend nicht sagen, ist, dass Jim das schwarze Schaf der Familie war.«

Ich blieb stumm.

Er fragte: »Wie dicht bin ich dran?«

»Es… es gibt Menschen, die das so sehen.«

Straker ließ ein abfälliges Schnauben hören.

»Hören Sie«, sagte ich, »ich möchte mich mit Ihnen nicht über irgendwelche Gerüchte bezüglich der Fells unterhalten. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich gesehen und gehört habe, und das habe ich bereits getan. Aber jetzt möchte ich wissen, was Sie eigentlich andeuten wollen.«

Er blickte mich für einen langen Augenblick an. »Ich nehme an, dass Sean und Jim ihre Meinungsverschiedenheiten mit nach draußen genommen haben. Jim hat Sean immer weiter beleidigt. Aber dieses Mal ist er zu weit gegangen. Sie haben miteinander gekämpft, mit allen Mitteln, und Sean hat seinem Bruder den Schädel eingeschlagen. Als ihm klar wurde, dass Jim tot ist, da hat er den Jaguar irgendwo versteckt, damit es wie ein Autodiebstahl aussieht. Dann ist er nach Hause gegangen und hat gewartet, bis die Leiche gefunden wird.«

Ich schüttelte schon den Kopf, bevor Straker fertig war. Mir war schlecht.

Einmal bin ich mit Sean vom Krankenhaus nach Hause gefahren. Unterwegs hielt er an, um eine Schildkröte von der Straße aufzuheben und in Sicherheit zu bringen. Ich habe ihm jeden Tag dabei zugesehen, wie er vorsichtig und zärtlich meine sterbende Schwester gebadet hat. Das war ihm lieber, als sie der Pflege der Schwestern zu überlassen, die es manchmal eilig hatten und meiner Schwester dabei wehtaten.

Ich suchte nach Worten, gestikulierte und sagte schließlich nur: »Ausgeschlossen.«

»Das sehe ich anders«, erwiderte Straker. Er lehnte sich zurück und holte sein Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts. Ich hatte gesehen, wie er sich während der Befragung der Familienmitglieder am Samstag ständig Notizen gemacht hatte. Er blätterte, suchte nach etwas und hatte es anscheinend gefunden. Einen Augenblick lang las er.

»Sean war vier Jahre lang mit Ihrer Schwester verheiratet. Wie haben die beiden sich kennen gelernt?«

»Sarah war Kellnerin im Sandcastle, dem Restaurant, wo Sean Geschäftsführer war, bevor er das Bobby’s eröffnet hat. Dann ist sie dorthin gewechselt. Und mit der Zeit sind sie ein Paar geworden.«

»Was hatten sie für eine Beziehung? Haben sie sich gestritten?«

»Nur die üblichen Meinungsverschiedenheiten. Ich würde sogar sagen, weniger als das.«

»Und keine Kinder? Wieso nicht?«

Ich wollte schon sagen, dass ihn das nichts anging, aber mir war klar, dass damit niemandem gedient war. »Sie wollten eigentlich gerne Kinder haben. Aber es hat einfach nicht geklappt.«

»Hat Sarah Jim gemocht?«

»Sie hat ihn jedenfalls nicht nicht gemocht. Sie… ich glaube, es hat sie belastet, dass Sean sich so viele Gedanken über ihn gemacht hat.«

»Inwiefern hat er sich Gedanken gemacht?«

»So, wie man sich eben über einen Bruder Gedanken macht, normalerweise über den jüngeren Bruder. Und das war wohl auch ein Teil des Problems.«

Ich hielt inne, überlegte noch einmal, ob ich das, was ich drauf und dran war zu sagen, auch wirklich sagen wollte, und entschied mich dafür. Straker hatte sich bereits ein Bild gemacht, das ich durch die Schilderung der wahren Umstände nur verbessern konnte.

»Sie haben die Situation im Prinzip schon richtig erfasst. Nur war sie in der Realität weniger schwarz-weiß. Sean ist ein sehr mitfühlender Mensch. Er ist großzügig. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er als der Jüngere trotzdem der Stärkere und Erfolgreichere war. Ihm war klar, dass es für Jim wichtig gewesen wäre, sich unabhängig zu machen, dass es ihm gleichzeitig aber sehr schwer fiel. Er konnte einfach nicht nein sagen, wenn Jim Geld oder einen Job brauchte. Und dann hat er sich wieder mit der Frage gequält, ob er das Richtige getan hatte.«

Straker lächelte dünn und mitleidslos. »Damit sagen Sie nichts anderes als ich auch. Die Sache ist schwarz-weiß. Sie packen sie nur schon wieder in Watte.«

»Aber zwischen Ihren und meinen Worten gibt es einen entscheidenden Unterschied: Sean trug keinen mörderischen Groll in sich.«

»Das können Sie doch nicht wissen.«

»O doch, das kann ich.« Ich stand auf und ging zum Fenster, kämpfte gegen die aufwallenden Gefühle an. Unten auf der Straße führte ein sehr alter Mann einen Pudel aus. Er wartete geduldig ab, bis der Hund genug geschnüffelt und gescharrt hatte und schließlich das Bein hob. Genauso geduldig wartete Straker darauf, dass ich weiterredete.

»Als meine Schwester im Sterben lag, habe ich viel Zeit mit Sean verbracht«, sagte ich. Dann musste ich mich unterbrechen, um zu husten. »Nacht für Nacht haben wir zusammen geweint. In einer solchen Zeit offenbart man sein wahres Ich. Man kann es nicht verhindern. Versuchen Sie nicht, mir weiszumachen, dass ich nicht ganz genau wüsste, wozu Sean in der Lage ist und wozu nicht.«

Dr. Barry Carnows neue Mitarbeiterin klopfte an die Tür. »Hier kommt Ihr Kaffee, Herr Doktor.«

»Kommen Sie rein.«

Abbie machte die Tür auf und stellte das Tablett auf den Konferenztisch aus leuchtendem Kiefernholz, der genau so blank und makellos war wie der Rest des Büros. Sogar der Schreibtisch des Doktors war poliert und perfekt aufgeräumt. Das Sofa neben dem Tisch war mit einer graubraunen, frischen Seidendecke überzogen, der Zeitungsständer daneben war leer.

Sie wickelte das Brötchen aus, nahm den Deckel vom Kaffeebecher und brachte ihm die Sachen an den Schreibtisch.

»Ich esse hier drüben«, sagte er und stand auf.

Abbie trat zurück und sah zu, wie er einen Stuhl zum Tisch hinübertrug. Er war ein begeisterter Sportler, das sah sie an den Bildern an der Wand, die ihn beim Skifahren und Laufen zeigten oder auf dem Fahrrad, mit einem kleinen Mädchen im Kindersitz. Er bewegte sich auch wie ein Sportler. Er hatte intensive, braune Augen und dunkle Haare, die am Ansatz silberig schimmerten.

Er griff nach dem Brötchen und blickte es stirnrunzelnd an. »Ich wollte doch eines ohne Mohnkörner haben.«

Sie schüttelte schuldbewusst den Kopf. »Stimmt. Das tut mir Leid. Ich lasse sofort ein anderes kommen.«

»Nicht nötig.« Er begann die schwarzen Pünktchen mit dem Fingernagel abzukratzen. »Ich habe eine chronische Dickdarmentzündung. Kann keine Körner essen.«

»Ein Facharzt für Magen-Darm-Erkrankungen mit einer chronischen Dickdarmentzündung? Das ist aber ungerecht.«

Er lächelte sie an. »Mein Darm weiß ja nicht, dass ich Arzt bin.«

Abbie lächelte zurück. So langsam fiel die Anspannung von ihr ab. Als er sich wegen der Mohnkörner beschwert hatte, hatte ihr Magen sich zusammengeballt – eine dieser Millionen Kleinigkeiten, die man lernen musste, wenn man einen neuen Job anfing. Aber sie lernte schnell. Sie würde ihm nie wieder etwas mit Körnern bringen.

Chief Vincent Pangia schielte auf den rosafarbenen Zettel mit Detective Strakers Telefonnummer. Er schob den Rückruf schon eine ganze Weile vor sich her. Jetzt hielt er den Zettel in seiner wunderbar gebräunten Hand… Barbados. Mann, wie entspannt er sich dort gefühlt hatte. Sonne, Palmen und keine toten Bullen.

Schließlich drückte er auf die Lautsprechertaste und gab die Nummer in Rye ein.

»Morddezernat, Sable«, sagte eine Frauenstimme.

»Hier ist Vincent Pangia aus Fairfield. Ich soll mich bei Detective Straker melden.«

»Hallo Chief. Er erwartet Ihren Anruf. Einen Augenblick, bitte.«

Red übernahm das Gespräch. »Chief Pangia?«

»Vinnie, bitte. Ich glaube, ich weiß, weshalb Sie angerufen haben.«

»Also, zunächst mal soll ich Ihnen Grüße von Don Dean ausrichten.«

Pangia lachte leise. »Mein Boccia-Partner. Verdammt langweiliges Spiel. Aber immerhin hat man so einen Grund, sich zu treffen. Also, was ist James Fell zugestoßen? Ich war ja verreist, wie Sie wissen.«

»Wir stecken immer noch mitten in den Ermittlungen. Dem äußeren Anschein nach hat man ihm einen Schlag auf den Schädel verpasst, um ihm sein Auto abzunehmen, diesen Jaguar. Das Auto ist noch nicht wieder aufgetaucht. Aber mittlerweile kommen immer mehr Einzelheiten über Fell persönlich ans Tageslicht, die darauf hindeuten, dass doch mehr hinter diesem Mord stecken könnte. Wie würden Sie ihn einschätzen?«

Chief Pangia kaute auf seinem Zeigefinger herum. Das war eine dumme Angewohnheit, aber auf Barbados hatte er es gelassen. »So wie alle anderen auch – er war ein Heißsporn. Als ich ihn eingestellt habe, hatte ich natürlich noch einen positiveren Eindruck. Ich dachte, er hat noch eine Chance verdient. Der Junge konnte einen richtig um den Finger wickeln. Und er hatte ein großes Potenzial. Außerdem gab er damals ehrlich zu, dass er durch seine Hitzköpfigkeit selbst schuld daran war, dass er in Stratford gescheitert war, und überzeugte mich gleichzeitig davon, dass er diese Phase überwunden hatte.«

»Wie war er denn als Polizist?«, fragte Red.

»In mancher Hinsicht ganz hervorragend. Wenn er sich konzentriert hat, dann hat er ausgezeichnete Polizeiarbeit geleistet. Natürlich hatte er einen kriminellen Verstand, aber den haben viele gute Polizisten. Und dann hat er eine Riesendummheit begangen, und ich musste ihn entlassen. Er hat ein Päckchen Koks geklaut.«

»Erwiesen?«

»Überwachungskamera. So ein Idiot.«

Red trank einen Schluck Kaffee. Er war kalt, nicht einmal lauwarm, und er hätte ihn gerne in die Mikrowelle gestellt, aber das ging natürlich nicht, weil ihre Polizeiwache nur mit vorsintflutlichen Schnurtelefonen ausgestattet war.

Der Chief fuhr fort: »Angesichts seiner persönlichen Geschichte würde ich wohl auch davon ausgehen, dass mehr hinter der Sache steckt als sein Jaguar. Ich will nicht mal wissen, wo er den eigentlich herhatte.«

»Was hat er mit dem Koks gemacht?“, sagte Red. „Verkauft oder selber genommen?«

Der Chief blieb einen Augenblick lang stumm. »Das weiß nur Gott allein. Ich jedenfalls wollte es gar nicht wissen. Ich wollte ihn nur loswerden.«

Sean schloss die Tür des Restaurants von innen auf. Zwei Gesellschaften warteten bereits auf ihre Tische. Er platzierte sie, nahm ihre Getränkebestellungen entgegen und ging dann in die Küche. Dort griff er sich einen feuchten Lappen, um einen klebrigen Fleck zu beseitigen, den die Küchenhilfe gestern nicht vollständig weggewischt hatte, nachdem ein Dessert auf den Boden gefallen war.

Egal wie, Hauptsache in Bewegung bleiben.

Er blickte sich um und überprüfte die gedeckten Tische. Die Tischdecken und Servietten zeigten ein angedeutetes Schneeflockenmuster. Auf jedem Tisch stand ein Glas mit einer Kerze sowie eine schlanke Vase mit einem Strauß Schneeglöckchen.

»Wie wäre es denn mit einer Winterdekoration?«, hatte Jim im vergangenen November gesagt. »In jedem anderen Restaurant tun sie so, als wäre es Frühling. Wenn ich noch ein einziges gelbes Gänseblümchen sehe, muss ich kotzen.«

Jim hatte ein paar großartige Ideen gehabt. Und trotzdem war Sean sich nie sicher gewesen, ob es gut war, Jim hier zu haben. Er hatte seinen Bruder ständig aus dem Augenwinkel beobachtet, hatte nach Misstönen gelauscht. Man wusste einfach nie, worüber Jim sich im nächsten Moment aufregte oder was ihn veranlassen könnte, die Krallen auszufahren.

Weswegen Sean natürlich ein höllisch schlechtes Gewissen gehabt hatte.

Er wischte mit dem Daumen ein paar Salzkörner von einem der Tische. Da ging die Tür auf, und er drehte sich um. Zwei Frauen betraten das Restaurant. Sie arbeiteten bei einer kleinen Anzeigenagentur hier in der Straße. Sean hielt den Atem an. Sie waren zum ersten Mal seit Jims Tod hier. Natürlich wussten sie Bescheid, der Mord hatte für riesige Schlagzeilen gesorgt, und sie würden ihm bestimmt ihr Beileid aussprechen wollen.

Den Empfang hatte Maddy übernommen, eine ehemalige Kellnerin, die Sean auf Jims Posten befördert hatte. Er wollte sie bitten, die beiden Frauen an ihren Platz zu führen, damit er es nicht zu tun brauchte, aber das war gar nicht nötig. Sie versuchte bereits, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Sean, Telefon.«

»Danke. Übernehmen Sie die beiden, bitte?«

Er ging zum Empfangstresen und griff zum Hörer. »Hallo?«

»Hallo, hier ist Angela.« Sie sprach mit sanfter, rauchiger Stimme. Ihre Gesprächspartner mussten sie öfter bitten, ihre Worte zu wiederholen. Während ihrer Ausbildung hatte sie häufig Kritik für ihre unsichere Redeweise einstecken müssen, sodass sie sich vor Gericht angewöhnt hatte, laut und deutlich zu sprechen. Ansonsten aber klang sie meist so, als wäre sie eben erst aufgestanden. »Ich hatte gerade Besuch von Detective Straker.«

»Weshalb?«

»Hauptsächlich wegen dir. Er hat mit allen Leuten gesprochen, die auf der Party waren. So hat er erfahren, dass du und Jim schon lange Probleme miteinander gehabt habt und dass an diesem Abend ein fürchterlicher Streit stattgefunden hat. Und jetzt verbreitet Straker irgendwelche Theorien, dass … dass du Jim umgebracht haben sollst.«

Sean sackte auf seinen Schreibtischstuhl.

Sie fuhr fort: »Ich habe ihm natürlich gesagt, dass das absolut lächerlich ist. Aber du solltest dich darauf einstellen, dass er dich besucht.«

Sean sagte: »Er glaubt, dass ich meinen Bruder umgebracht habe? Hat er das gesagt?«

Maddy, die gerade einen Stuhl vom Tisch in seiner Nähe holen wollte, erstarrte und schaute ihn an.

Angela gab das Gespräch mit Straker wieder. »Er sagte, er gehe davon aus, dass der Streit draußen weitergegangen sei. Und dann haben ihm wohl ein paar Gäste berichtet, dass die Auseinandersetzung beim Essen länger gedauert hat als ich mitbekommen habe. Habt Ihr euch denn noch weiter gestritten, nachdem ich auf die Toilette gegangen war?«

»Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass du gegangen bist.«

»Doch, als ihr beide aufeinander losgegangen seid. Ich habe euch gebeten aufzuhören, und dann bin ich aufgestanden.«

Sean schüttelte den Kopf. Seine Augen waren geschwollen und gerötet. Er machte die Hölle durch. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich herauszuziehen, rutschte er gleich darauf noch tiefer hinein.

Er sagte: »Ich kann mich an gar nichts mehr erinnern.«

Ich wartete ab, was er als Nächstes sagen würde, aber es kam nichts als ein tiefer Seufzer. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er mit gebeugtem Kopf im Restaurant saß und sich den Hals rieb. Das machte er immer, wenn er sich aufregte. Ich hatte oft genug zugesehen.

Dann sagte ich: »Der Detective kommt wahrscheinlich bald bei dir vorbei. Vielleicht ist er sogar schon unterwegs. Lass dich nicht von ihm schikanieren, Sean. Ohne Anwalt musst du gar nicht mit ihm reden.«

»Ich weiß.«

»Es tut mir so Leid. Ich würde dir so gerne helfen.«

»Das tust du doch. Hast du schon.«

Ich legte den Hörer auf die Gabel und stand auf. Wenn ich an meinem Schreibtisch sitzen blieb, dann würde ich nur immer deprimierter werden, so lange, bis ich vollkommen im Sumpf versunken war.

»Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Kathy auf dem Weg zur Toilette. Ich schaute sie nicht an. Mein Gesicht sah grau und angespannt aus, das war mir klar. Und Kathy war ein liebes Mädchen. Sie kannte mich und würde sofort nachfragen.

Die Büroräume meiner Rechtsanwalts-Sozietät Batten, Hogue & Fairstein nahmen zwei Drittel der Fläche im fünften Stock des Sochin Building in der Purchase Street in Rye ein. Vor meinem Vorstellungsgespräch hatte ich mich auf die übliche, steife Einrichtung eingestellt, die ich aus Anwaltskanzleien im Film wie auch im richtigen Leben kannte: feudale Schreibtische, überall Messing, Stühle, die sogar einer Katze zu unbequem waren. Als ich dann zum ersten Mal die Marmor-Lobby mit den polierten Fahrstuhltüren und den Porzellanspiegeln betreten hatte, da hatte ich gedacht: Aha, so sieht sie also aus, die Tradition.

Dann, oben im fünften Stock, die Überraschung.

Die Doppeltüren glitten zur Seite und gaben den Blick auf eine faszinierend gegenwärtige Welt frei. Der Fußboden im Empfangsbereich bestand aus glänzenden, hellen Holzdielen. Darauf lag ein Teppich aus stahl- und elfenbeinfarbenen Flächen. Hinter dem halbrunden Tresen saß ein Mann. Er hieß David und nicht Dave und trug eine mit Drachen bedruckte Krawatte. Auf dem niedrigen Tisch in der Wartezone lagen keine zerknitterten Zeitschriften, und es hingen auch keine selbstbeweihräuchernden Urkunden an der Wand. Stattdessen standen auf dem Tisch zwei Goldfischgläser. Im einen schwammen tatsächlich Goldfische, das andere war bis zum Rand mit Pralinen gefüllt.

Nachdem ich jetzt die Damentoilette betreten hatte, ging ich direkt zum Spiegel. Trotz der freundlichen Beleuchtung sah ich fürchterlich aus. Ich befeuchtete ein Handtuch im Eiswasser am Springbrunnen und drückte es mir in den Nacken.

Ich musste unbedingt wieder zu mir kommen. In einem dieser Bücher über erfolgreiche Lebensführung, die sich – meist noch verpackt – auf meinem Nachttisch stapelten, hatte ich eine Methode kennen gelernt, wie man sich neu fassen und konzentrieren konnte: Spiegelgespräch … Ich ballte die Fäuste und nahm alle Kraft zusammen.

»Du bist zentriert«, sagte ich innerlich zu mir selbst. »Deine Sorgen dringen nicht nach draußen. Du wirst mit allem fertig.«

Das sagte ich mir noch ein paar Mal, während ich zusah, wie sich meine zusammengepressten Lippen und die gerunzelte Stirn etwas entspannten, zumindest so weit, dass ich im Büro einigermaßen glaubwürdig wirken konnte.

Auf dem Weg zurück grüßte ich David und Kathy mit einem halbwegs überzeugenden Lächeln und setzte mich wieder auf meinen Schreibtischstuhl.

Lange hielt ich den Blick auf mein Lieblingsbild gerichtet – eine palmenumstandene Terrasse am Strand. Es hing direkt neben einem Fenster, sodass man fast glauben konnte, es sei das Fenster. Manchmal stellte ich mir vor, selbst auf dem Bild zu sein, mich mit Nina zusammen dorthin zurückzuziehen. Es war eine tröstliche Vorstellung, aber heute gelang es mir nicht. Ich konnte an nichts anderes denken als an Detective Straker. Wahrscheinlich war er jetzt im Augenblick im Bobby’s und verhörte Sean.

Ich musste unbedingt etwas arbeiten. Zu groß war die Gefahr, an Boden zu verlieren. Mein wichtigster Fall im Moment war eine Klage wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht gegen das Westchester County Medical Center. Es war der zweitgrößte Fall, den die Sozietät jemals behandelt hatte, und ich hatte die Kontakte hergestellt. Mag sein, dass das nicht der Hauptgrund dafür war, dass mir eine Teilhaberschaft in Aussicht gestellt worden war, aber an meinen manikürten Fingern lag es wahrscheinlich auch nicht.

Der Krankenhausskandal war im August in die Medien gelangt. Eine Anästhesistin – Dr. Carol Carranza – hatte gegenüber der Bezirksverwaltung ausgesagt, dass es in letzter Zeit auf der prestigeträchtigen Lebertransplantations-Station des Krankenhauses zu etlichen, durch Nachlässigkeit, Infektionen oder schlicht durch mangelhafte Pflege verursachten Todesfällen gekommen war. In einem Fall war sogar ein gesunder Organspender nach der Operation verstorben.

Ich hatte Dr. Carranza sofort angerufen. Wir führten zwei längere Gespräche, tranken viel zu viel Kaffee, und mir fiel von Anfang an auf, dass sie immer wieder auf das Bild starrte. Auch ohne zu fragen war mir klar, dass sie gerade ihren persönlichen Alptraum durchlebte. Jetzt vertrat ich die Familien der Verstorbenen und klagte auf Schmerzensgeld: einhundert Millionen Dollar pro Partei.

»Ich habe viel zu lange gewartet, bis ich ernsthaft nach Beweisen gesucht habe«, hatte Carol beim ersten Gespräch gesagt. »Als Anästhesistin halte ich mich nicht oft auf der Station auf, also habe ich zunächst einmal nur Gerüchte gehört. Aber die Sterberate unter den Patienten war einfach zu hoch. Daraufhin habe ich mir die Krankenblätter angeschaut und die Pflegeroutine unter die Lupe genommen. Ich habe erschütternde Dinge gesehen. Nur dumm, dass ich die Krankenblätter nicht kopiert habe, solange ich noch die Möglichkeit dazu hatte.«

»Die Anwälte der Gegenseite halten mittlerweile natürlich alles unter Verschluss«, hatte ich erwidert. »Aber machen Sie sich doch einmal klar, was Sie da getan haben, Carol. Welchen Mut Sie bewiesen haben! Und wie vielen Transplantationspatienten Sie damit das Leben gerettet haben!«

»Aber viel zu viele sind schon gestorben. Es sind bestimmt mehr, als wir im Augenblick wissen …«

»Das müssen wir herausfinden.«

Als ich jetzt die Akten durchblätterte, fielen mir Carols Tränen wieder ein. Meine Notizen und die eidesstattlichen Erklärungen der betroffenen Familien ließen mir die Augen brennen. Ich dachte an Sarah.

Im Augenblick wartete ich auf die Reaktion einer Anwältin des Krankenhauses, die ich um die Aushändigung der medizinischen Unterlagen der betroffenen Station gebeten hatte. Natürlich würde dabei nur irgendein verklausuliertes »Nein« herausspringen, aber das war das übliche Verfahren. Nach der Ablehnung konnten die nächsten Schritte erfolgen.

Und wie sahen diese nächsten Schritte aus? Ein paar Ideen hatte ich schon, wie meistens.

Ohne jede Schuld

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