Читать книгу Ohne jede Schuld - Molly Katz - Страница 6

Оглавление

Prolog

Samstag, 20. Januar 2001

0.05 Uhr

In Harrison im Bundesstaat New York fällt ein schwarzer Jaguar nicht weiter auf, auch nicht mitten in der Nacht, es sei denn, er fährt zu schnell.

Die Gestalt am Steuer dieses Wagens achtete sehr sorgfältig darauf, nicht zu schnell zu fahren oder sonst irgendetwas zu tun, was Aufmerksamkeit erregen könnte.

Der Wagen schnurrte die Anderson Hill Road entlang. Ab und zu erfassten seine Scheinwerfer die Augen eines Rehs. Der harte Winter hatte die Tiere so hungrig gemacht, dass sie ihre übliche Vorsicht vergaßen und sich weiter als sonst aus ihren Schlupfwinkeln wagten. Der Wagen verlangsamte seine Fahrt, um nicht mit einem der Tiere zu kollidieren.

Dann tauchten in der Dunkelheit die verfallenen Steinsäulen auf, die etwa zwanzig Meter vor der versteckt gelegenen, alten Zufahrtsstraße standen. Der Wagen blieb fast stehen und bog dann langsam in die Einfahrt ein. Schaukelnd gelangte der Jaguar über den rissigen, von Schlaglöchern übersäten Asphalt zu seinem Versteck.

Die Scheinwerfer schreckten drei Ricken auf, die an einem fast schon kahlen Nadelbaum nagten. Die Gestalt stieg aus und hörte, wie sich die aufgeschreckten Tiere entfernten. Gleichzeitig fuhr ihr die Angst wie ein Blitz in die Eingeweide.

Es dauerte eine Weile, bis dieser lange Augenblick der Lähmung überwunden war.

Hier zu erstarren wäre eine Katastrophe. Aufzuhören war ausgeschlossen.

7.50 Uhr

Sean Fell starrte die Tasten des beigefarbenen Telefons auf dem Schreibtisch seiner Eltern an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Es hätten auch Scrabble- oder Dominosteine sein können. Der Hörer, der jahrelang gute und schlechte Nachrichten überbracht hatte, fing an zu flimmern, als Sean näher trat und versuchte, sich an die vertraute Zahlenkombination zu erinnern, mit der seine Schwägerin Angela zu erreichen war.

Ich stand in der Tür zum Zimmer meiner Tochter. Es gibt nichts auf der Welt, was stiller ist als die Ruhe eines schlafenden Kindes.

Ich betrachtete Ninas Gesicht und das kleine Kinn, das unter einer Ecke ihrer zerknitterten Kinderbettdecke versteckt war. Jedes Mal, wenn meine Tochter einatmete, hob sich die Decke ein wenig. Vollkommen entspannt, wie ein Kätzchen, lag sie da und reiste durch das Land der Träume. Ich heiße Angela Diamond. Meinen Mädchennamen habe ich auch nach meiner Heirat mit Barry behalten… vermutlich aus einer Art professioneller Hybris heraus. Ich wollte eben die Rechtsanwältin sein und nicht Frau Doktor. Zumindest habe ich gedacht, dass das der Grund sei. Aber mein Unterbewusstsein hatte meinen Ehemann wohl schon damals etwas genauer betrachtet und gewusst, was geschehen würde.

Bevor ich Barry verlassen habe, hatte Nina eine eigene kleine Wohnung in unserem Vierzehnzimmerhaus in Rye. Der Schrank in ihrem leuchtend rot gestrichenen Badezimmer reichte vom Fußboden bis zur Decke und war voller Badezimmer-Spielsachen, unter anderem ein Feuerwehrauto, das mit Wasser spritzen konnte. Nina war richtiggehend vernarrt in Feuerwehrautos. In ihrem an das Badezimmer angrenzenden Spielzimmer hatte sie noch eines gehabt. Es war so groß wie ein VW-Käfer, hatte einen Fahrersitz und ein richtiges Lenkrad, und auf dem Rücksitz saß ein Dalmatinerhund.

Nina konnte Stunden in diesem Feuerwehrauto zubringen. Wenn sie keine Lust mehr hatte, am Lenkrad zu drehen und die Sirene heulen zu lassen, dann kauerte sie sich tief in den Sitz und fing an zu lesen.

An der Rückseite des Hauses, gleich links neben der Terrasse, hatte ich auf einem sonnigen Fleckchen einen Gemüsegarten angelegt. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, dann verbrachten Nina und ich eine Stunde zwischen den warmen Pflanzen, bekämpften die Blattläuse, jäteten Unkraut und ärgerten uns über die räuberischen Kaninchen und Rehe, die wieder einmal durch den Zaun gebrochen waren. Wir überprüften unsere Schneckenfallen, von denen einige tatsächlich etwas nützten – so zum Beispiel die gefüllten Biergläser, die wir in der Erde vergruben. Schnecken lieben Bier, so sehr, dass sie schließlich in unsere Gläser geplumpst sind. Diese »Schneckencocktails« – so hat Nina sie genannt – mussten wir tagtäglich ausschütten. Ihren Sinn für einen eher derben Humor hat sie von mir geerbt, und so haben wir angefangen, Schneckenwitze zu sammeln, die wir uns kichernd gegenseitig erzählten.

Früher hatte ich das Kichern nicht erzwingen müssen.

Aber jetzt wohnten Nina und ich in einem kleinen gemieteten Häuschen mit zwei Schlafzimmern. Es stand in der Clay Street in Rye, in einer Gegend, die Barrys Mutter einmal eine »Wohnwagensiedlung« genannt hatte. Die Ecksteine der Stufen an der Eingangstreppe sind ausgebrochen, und das Weiß der Außenfassade ist mittlerweile sehr viel gebrochener als bei seiner Entstehung vor zwanzig Jahren. Die auflandigen Winde haben Ruß in die Risse der Fensterläden und der Bretter aus Holzimitat getrieben.

Für die große Feuerwehr war hier kein Platz. Sie stand immer noch bei Barry.

Die Hoffnung auf einen Garten hatte Nina noch nicht aufgegeben.

Aber das Häuschen gehörte mir, und seine wenigen Zimmer hielten keine verborgenen Überraschungen für mich bereit – keine Wutanfälle, keine absurden Forderungen, keine verbalen Tätlichkeiten.

Vorsichtig machte ich ihre Tür zu und ging wieder in die Küche. Ich knipste das Licht an, um dem smoggedämpften Tageslicht etwas nachzuhelfen, kniff die Augen zusammen und knipste es wieder aus. Dann stützte ich mich auf die Arbeitsplatte neben der Spüle und schaute zum Fenster hinaus.

Auf der Straße herrschte eine friedliche Samstagmorgenstimmung. Vereinzelt waren in den Vorhöfen, am Straßenrand und unter den Schaukeln der Nachbarn vereiste Stellen zu sehen.

Der Umzug war für Nina zwar eine große Umstellung gewesen, aber eigentlich war ich froh, dass sie hier spielen konnte und nicht auf die verwöhnten, von Kindermädchen umsorgten Bälger aus unserer ehemaligen Gegend angewiesen war. Meine Schwester Sarah hatte denselben Gedanken gehabt. Auch sie hatte befürchtet, dass die Kinder, die sie noch bekommen wollte, unter einer überprivilegierten Umgebung Schaden nehmen könnten.

Aber jetzt war Sarah an Krebs gestorben, und Kinder würden keine mehr kommen.

Ich machte die Spülmaschine auf und fing an, die gespülten Sachen in die Schränke zu räumen, möglichst ohne etwas zu zerbrechen oder fallen zu lassen. Das war meine Spezialität, und Sarah hatte sich über meine bunte Mischung aus unterschiedlichsten Gläsern jedes Mal köstlich amüsiert.

Das Telefon klingelte.

»Ange?«

Die gepresste Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte Sean. Unter Qualen hatte er diese einzelne Silbe ausgestoßen, und sie traf mich wie ein Schlag.

»Ange! Jim ist tot! Mein Bruder ist tot!«

Ich hörte sein durchdringendes Schluchzen, klammerte mich daran, keuchte, hielt den Atem an.

»Was … was ist passiert?«, stieß ich erstickt hervor.

Sean versuchte zu sprechen, gab auf, versuchte es noch einmal. »Sie glauben … sie glauben, dass es um den Jaguar gegangen ist. Der Wagen ist verschwunden. Jim … man … man hat ihn draußen gefunden, an seinem Parkplatz. Dad hat ihn gefunden. Er …«

Erneut erfüllte sein Schluchzen mein Ohr, drang mir in die Seele. Wie oft hatten Sean und ich während der vergangenen Monate, während Sarahs langsamen Sterbens und danach, schon miteinander am Telefon geweint? Meine Schwester, seine Frau…

Sean hatte seine Stimme wiedergefunden. »Sie sagen, dass er irgendwann nach der Party niedergeschlagen worden ist.«

Gott. O Gott. »Bist du bei deinen Eltern?«

»Ja. Mom und Dad sind… sind… kannst du rüberkommen?«

»Natürlich«, sagte ich heiser.

Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen. Mein Mund schmeckte nach Benzin. Tränen liefen mir über die Wangen, tropften auf mein Flanellhemd und meine Jeans.

Das Schluchzen brach aus mir heraus, genau wie bei Sean, und ich schlug die Hände vor den Mund, damit Nina nicht aufwachte.

Ohne jede Schuld

Подняться наверх