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Dienstag, 30. bis Mittwoch,

31. Januar 2001

Ganz in der Nähe meines Büros gab es ein altmodisches Imbisslokal mit mürrischen Kellnerinnen und schweigsamen Gästen. Am nächsten Morgen saß ich dort am Tresen. Ich hatte nicht geschlafen, und deshalb war mir schwindelig. Wie automatisch nippte ich an meinem Kaffee.

Sean war immer noch in Haft. Im Lauf des Tages würde er gegen Kaution freikommen und erst einmal nach Hause gehen. Aber schon mit dem nächsten Schritt landete er höchstwahrscheinlich wieder in der Zelle, und zwar für lange, lange Zeit.

Das konnte ich nicht zulassen.

Ich war schuldig. Ich musste ein Geständnis ablegen.

Meine Tasse war leer. Ich hielt sie der Kellnerin hin, und sie füllte mir nach, ohne mich anzusehen. Ich wollte sie gerade an die Lippen setzen, doch der siedend heiße Dampf schreckte mich auf.

Am hinteren Ende des Lokals befand sich eine Telefonzelle, ebenfalls ziemlich altmodisch, mit einer Falttür. Ich sah mich aufstehen, zu der Zelle gehen, Red Straker anrufen und ihm alles erzählen. Das und das habe ich getan. Ich komme zu Ihnen ins Büro, um eine Aussage zu machen.

Wenn ich dann wieder bei meinem Kaffee wäre, hätte er genau die richtige Temperatur und die Sache wäre erledigt. Das Übelkeit erregende, erdrückende Schuldgefühl würde langsam abebben. Die Endlosschleife in meinem Kopf würde aufhören, mir immer und immer wieder vorzuführen, wie Sean hinter Gefängnistoren verschwand, wie Nancy und Bruce am Verlust ihrer beiden Söhne zugrunde gingen, in dem Glauben, der eine hätte den anderen ermordet. Diese hirnverbrannte Farce, zuzusehen, wie Sean auf der Anklagebank saß.

Ich würde einerseits eingesperrt, gleichzeitig aber auch befreit werden.

Ein Koch kam aus der Küche, betrat die Telefonzelle und zog die Tür hinter sich zu. Panik machte sich in mir breit.

Ich setzte mich so hin, dass ich die Zelle im Auge behalten konnte. Sobald der Koch fertig war, würde ich hinüberlaufen.

Aber dann konnte ich genauso gut auch vor der Zelle warten. Ich ging hinüber.

Ich holte Red Strakers Visitenkarte aus meiner Tasche. Ich könnte auch einfach zu ihm auf die Wache fahren. Aber am Telefon wäre es eine klare Sache. Ein Satz, und alles wäre erledigt.

Die Stimme des Kochs drang nur als leises Summen nach draußen. Man konnte seine Worte nicht verstehen. Gut so.

Also würde ich Straker anrufen und mich dann auf den Weg zur Polizei machen. Dann würde ich einen Anwalt anrufen. Wen, war eigentlich egal.

Straker würde mich festnehmen. Man würde mich in eine Zelle stecken. Ich nahm den Geruch nach Staub und Desinfektionsmittel wahr.

Am liebsten hätte ich Yasmin angerufen, aber das war sinnlos. Damit zögerte ich es nur hinaus. Barry würde Nina bekommen.

Dieser Gedanke ließ meinen Magen zu einem einzigen, dicken Klumpen werden.

Aber ich musste realistisch bleiben. Mit Glück würde ich zwanzig Jahre bekommen. Ich gab mein Kind auf und übergab es in Barrys Hände und in die seiner Eltern.

Ich blickte auf Strakers Karte.

Dann dachte ich an Bruce und Nancy, dachte daran, wie sie mich gebeten hatten, Sean vor dem Gefängnis zu retten. Verletzte, am Boden zerstörte Eltern, denen der letzte verbliebene Sohn auch noch genommen werden sollte. Und ich hatte ihre Bitte ausgeschlagen. Nancy, die mich anschaute, die in mein Inneres blickte: »Du bist eine brillante Anwältin, und du gehörst zur Familie.«

So brillant, dass ich nebenbei sogar einen Mord erledigen konnte. So loyal der Familie gegenüber, dass ich eine Situation heraufbeschworen hatte, die zum Verlust des einen Sohnes geführt und den Verlust des anderen sehr wahrscheinlich gemacht hatte.

Sean, Nancy, Bruce … Jim. Zum Stillstand gekommene, zerstörte Leben. Und ich alleine war dafür verantwortlich.

Die Tür der Telefonzelle schob sich quietschend auf, und der Koch trat heraus. Ich ging hinein und setzte mich. Die Sitzfläche war warm, genau wie der Hörer, den ich abnahm.

Ich hatte kein Recht mehr, mein eigenes Leben zu behalten, wenn andere dadurch ihres verloren.

Ich wählte Strakers Nummer. Meine Augen brannten, aber es waren keine Tränen darin. Meine Achselhöhlen und Hände waren überraschend trocken.

»Apparat Detective Straker«, sagte eine Frauenstimme.

»Kann ich ihn sprechen, bitte? Mein Name ist Angela Diamond.«

»Er spricht gerade auf der anderen Leitung. Möchten Sie warten?«

»Ja«, sagte ich.

Ich wartete und las dabei Strakers Karte, immer und immer wieder. Ich atmete in kleinen, hastigen Stößen, als wäre ich gerade in eisiges Wasser gesprungen.

Da fiel mir ein heißer Samstag ein, den wir im Strand-Club von Barrys Eltern in New Rochelle verbracht hatten. Nina war damals fünf Jahre alt gewesen. Barrys Mutter Pat hatte ihr einen Wickelrock aus Frottee gekauft, den sie über dem Badeanzug tragen konnte. Er kaschierte ihr kleines Bäuchlein, das für Pats Geschmack zu dick war. Ich hatte ihr das Ding zuerst weggenommen, aber Nina wollte es unbedingt anziehen.

Dann hatte sich der Rock an einem Ventil im Schwimmbecken verfangen. Sie stand bis zur Hüfte im Wasser und kam nicht mehr alleine heraus. Ich war gerade auf der Toilette, und als ich zurückkehrte, entdeckte ich sie schreiend im Becken. Inmitten des Gekreisches der anderen Kinder wurde sie nicht weiter beachtet, und die drei Carnows hoben kaum den Blick von ihren Rommé-Karten.

»Sie ist zu verwöhnt«, hatte Barrys Vater Lou erklärt, als ich die drei triefend zur Rede gestellt hatte. Mein zitterndes Mädchen hielt ich im Arm, um es zu wärmen. »Sie muss lernen, die Suppe, die sie sich eingebrockt hat, auch wieder auszulöffeln.«

Jetzt meldete sich noch einmal die Frau, die meinen Anruf entgegengenommen hatte. »Detective Straker ist immer noch im Gespräch. Ich bin Detective Sable. Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?«

»Meinen Sie, dass es noch lange dauert?«

»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.«

Die Luft in der Kabine wurde langsam dünn. Ich schob die Tür einen Spalt zurück. »Es geht um den Fall Fell. Den Mord …«

»Ich kann Sie nicht verstehen, Madam.«

Das, was ich zu sagen hatte, würde ich nicht laut sagen. »Ich warte auf Red.«

»Gut.«

Vor ziemlich genau einem Jahr hatte Nina bei den Carnows ihren Geburtstag gefeiert, zusammen mit Hannah, der Tochter von Barrys Schwester. Als sie nach Hause kam, hatte sie einen großen, braunen Umschlag und ihre Spitzenbluse in der Hand. Die Bluse – ein Geschenk von mir – war mit Schokolade bekleckert. Ninas Gesicht war tränenüberströmt.

»Wir können die Bluse doch auswaschen. Das ist nicht so schlimm«, sagte ich. »Schokolade gehört schließlich zum Geburtstag dazu.«

Nina hatte den Kopf geschüttelt und noch heftiger geweint. »Der Schokoladenkuchen war nur für Hannah.«

Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Was soll das denn heißen? Hast du einen eigenen Kuchen bekommen?«

»Ich hatte Wackelpudding aus einer Kuchenform. Mit Kerzen darauf. Grandma Pat hat gesagt, dass Wackelpudding kein Fett enthält. Aber Hannahs echter Kuchen hat so lecker ausgesehen, also habe ich mir etwas davon genommen. Und dann musste ich ihn ganz aufessen.«

»Wieso das denn?«

»Grandma Pat und Grandpa Lou haben gesagt, das soll mir eine Lehre sein.«

»Sie haben dich gezwungen, einen ganzen Schokoladenkuchen aufzuessen?«

»Es war nur ein kleiner. Bitte, nicht wütend werden«, flüsterte Nina. »Ich finde es schrecklich, wenn ihr wütend aufeinander seid.«

Zitternd vor Empörung suchte ich nach einer Möglichkeit, Nina von dem Druck zu befreien und öffnete den Umschlag. Darin lagen Wachsmalzeichnungen, gute Zeichnungen.

»Die sind ja ausgezeichnet, Schätzchen.«

»Hannah hat sie gemalt.«

Ich blickte Nina in die Augen.

»Grandma Pat hat gesagt, ich soll sie mir gut anschauen. Sie sagt, wenn ich es versuche, dann kann ich vielleicht lernen, Bilder zu malen anstatt zu essen.«

»Angela Diamond hängt in der Warteschleife«, sagte Detective Mary Sable zu Red Straker.

Straker hob die Augenbrauen. »Hat sie gesagt, was sie will?«

»Eigentlich nicht.«

Er hieb auf die blinkende Taste »Straker.«

»Hier spricht Angela Diamond. Ich muss Ihnen etwas sagen.«

Er hielt den Hörer fest an das Ohr gepresst.

Als er sich gemeldet hatte, zog ich die Tür der Telefonzelle wieder zu. Die stickige Luft verursachte mir Übelkeit. Die Worte, die ich sagen wollte, schwirrten mir im Kopf herum. Ich fügte sie zu einem Satz zusammen.

Aber noch bevor ich ihn aussprechen konnte, krampfte sich mein Magen zusammen, und ich musste den Kaffee noch einmal schlucken.

Ich erinnerte mich, wie Ninas Bluse ausgesehen hatte. Ich hatte nicht nur Kuchen und Puderzucker darauf entdeckt, sondern auch Erbrochenes. Nina hatte sich bei den Carnows zweimal übergeben.

»Was gibt’s denn?«, fragte Straker.

Ich rieb mir die mittlerweile feuchten Augen. Tränen rannen mir über die Finger auf die Ablage in der Telefonzelle, auf meinen Schoß.

»Ist die Kaution für Sean mittlerweile bezahlt? Ist er schon wieder auf freiem Fuß?«, fragte ich.

»Die Prozedur ist im Augenblick im Gang. Was möchten Sie mir mitteilen?«

Ich musste noch einmal schlucken, rieb mir die Magengegend. »Nur, dass ich … nicht glaube, dass er Jim umgebracht hat.«

»Das haben Sie bereits gesagt.«

»Ich wollte es noch einmal sagen«, erwiderte ich und legte auf.

Ich saß auf dem Bett, den Fernseher leise gestellt, und suchte Trost bei der Wärme, die meine Teetasse verströmte. Hätte doch meine Mutter oder meine Tante Margaret den Tee gemacht… oder, oh Gott, meine Schwester. Dann wäre eine von ihnen jetzt hier bei mir, und ich hätte eine zweite Seele in meiner Nähe.

Es war jetzt zwanzig Minuten nach eins in der Nacht. Im Fernsehen lief eine Werbesendung für Antizellulitis-Creme. Ich bekam nichts davon mit, was die Frauen mit den schönen Beinen sagten, aber ihr Geschnatter verhinderte wenigstens, dass ich mich in Tränen auflöste. Es überdeckte auch das Quietschen, das die gefrorenen Zweige am Fensterrahmen erzeugten und das ich immer wieder für das Geräusch sich öffnender Polizeiautotüren hielt. Polizisten, die gekommen waren, um mich anzuklagen, um mich einzusperren.

Ich musste einfach ein paar Stunden schlafen. Also griff ich nach der Fernbedienung und machte den Ton noch leiser. Dann drehte ich das Licht der Nachttischlampe so dunkel wie möglich. Vorsichtig stellte ich die fast volle Tasse auf dem Nachttischchen ab.

Genau in diesem Augenblick klingelte das Telefon.

Krächzend schnappte ich nach Luft. Ich starrte das Telefon an wie eine Bombe. Das Klingeln klang ohrenbetäubend schrill in der Stille des Schlafzimmers. Hastig griff ich nach dem Hörer, damit es aufhörte.

»Hallo«, sagte ich.

»Hallo.« Ein Flüstern, nicht Mann, nicht Frau, fast wie eine Computerstimme. »Gib auf, Angela.«

»Aufgeben? Was denn?«, fragte ich dümmlich.

Dann wurde die Verbindung unterbrochen. Nichts als das unpersönliche Leitungsrauschen war mehr zu hören.

»Hallo?«, sagte ich flehend.

Ich lauschte noch einen Augenblick, dann legte ich auf.

Was, in Gottes Namen…?

Barry? Wer sonst könnte das sein? Der Krankenhausfall, irgendjemand, der mir Angst einjagen wollte? Was könnte noch dahinter … der Mord? Aber das war unmöglich. Nur Dad wusste Bescheid, und er konnte weder zuhören noch sprechen.

Der Tee schoss mir durch die Speiseröhre empor, und noch bevor ich ihn aufhalten konnte, hatte sich eine braune Pfütze voller Luftblasen auf meiner Decke gebildet.

Nach dem Aufwachen dachte ich einen segensreichen, kurzen Augenblick lang nicht an den Anruf. Dann fiel mein Blick auf die weiße Decke. Sie lag auf dem Boden, wohin ich sie nach dem Abziehen geworfen hatte.

Der Anblick des getrockneten Erbrochenen brachte den tödlichen Schrecken augenblicklich wieder zurück.

Mit brennenden Augen blickte ich das Telefon an.

Eine gute Fee hatte die Alptraumstimme für die Dauer meines Schlafs im Zaum gehalten, aber jetzt war sie wieder in meinen Kopf zurückgekehrt, wiederholte sich, reizte mich durch ihre Unerkennbarkeit.

Ich quälte mich aus dem Bett und hob die Decke auf. Dann lief ich den Flur entlang und durch die Küche in den kleinen Waschraum. Ich stopfte die Decke in die Waschmaschine, schüttete Waschmittel und Bleiche hinterher. Jetzt würde Nina den Fleck nicht zu sehen bekommen und brauchte mich nicht danach zu fragen, und ich musste sie nicht schon wieder anlügen.

Dr. Barry Carnow streckte die in Latex gehüllte Hand aus. Er brauchte eine Klemme. Die OP-Schwestern wussten immer genau, welche Klemme gemeint war, ansonsten war die Zusammenarbeit mit Dr. Carnow schnell beendet. Wenn sie es dann begriffen hatten, wurde er etwas umgänglicher. Er sah sich gerne als Lehrer, der seinen Schülern zu Beginn des Schuljahres Dampf unterm Hintern macht, um zunächst einmal für geordnete Verhältnisse zu sorgen, und später die Zügel ein wenig lockerer ließ.

Es machte ihm Spaß, morgens gleich als Erstes zu operieren. So funktionierte er am besten. Nachdenken konnte er später noch. Zu dieser frühen Stunde jedoch glitten seine Finger meisterhaft um Dickdärme herum, suchten, fanden, hielten fest. Als wüssten sie von selbst, was sie zu tun hatten.

Aber während er seiner Arbeit nachging, nagten die Stressfaktoren seines persönlichen Lebens an ihm. Insbesondere seine Tochter und seine Frustration über das, was er nicht für sie tun konnte.

»Absaugen«, sagte er und sah zu, wie der Schlauch eingeschoben wurde. Sein OP-Team hatte eine fast schon körperliche Verbindung zu ihm. Alles funktionierte wie an einem perfekt abgestimmten Fließband.

Und es machte ihn wahnsinnig, dass das in anderen Teilen seines Lebens nicht der Fall war.

Wieso operierte er zurzeit mehr als jemals zuvor? Wegen des Geldes. Ein Motiv, das gar nicht so egoistisch war, wie es klang, weil seine Patienten sich wirklich glücklich schätzen konnten. Die Langzeit-Überlebensrate seiner Krebspatienten war höher als die bei allen anderen Operateuren im Krankenhaus, ja, in der gesamten Umgebung. Aber er wollte, brauchte mehr Geld für Nina.

Es bereitete ihm Qualen, seine Tochter in einer Bruchbude aufwachsen zu sehen. Er wollte, dass es wieder so wurde wie früher. All die wunderschönen Sachen, die er bei sich zu Hause hatte… dort gehörte Nina hin, damit sie Freude und Spaß daran haben konnte.

Egoistisch? Angela war doch die Egoistische. Sie musste unbedingt ihren Willen durchsetzen, musste Nina von ihm und ihren Großeltern fern halten. Es war zum Teil auch sein Fehler, weil er ihr kein besserer Ehemann gewesen war. Aber warum konnte Angela sich nicht davon lösen, warum konnte sie nicht aufhören, ihn zu bestrafen? Warum konnte sie nicht begreifen, dass sie ihrer gemeinsamen Tochter das Leben verweigerte, das ihr eigentlich zustand?

Hinter seinem Mundschutz stieß er den Atem aus. Er war fertig, nur noch zunähen und dann auf zum nächsten Patienten. Mehr Honorare für den gerechten Kampf, den er weiterführen würde, auf jede erdenkliche Art und Weise.

»Guten Morgen«, sagte David fröhlich, als ich die Bürotür aufmachte. Er richtete sich von dem niedrigen Tisch auf, wo er gerade die Fische gefüttert hatte. »In Lavendel sehen Sie einfach himmlisch aus. Sie sollten die Farbe öfter tragen.«

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Danke.« Als ich an ihm vorbeiging, blieb ich, einem Impuls folgend, stehen. »Könnten Sie mir einen Gefallen tun? Bitte sieben Sie gründlich aus, bevor Sie einen Anruf zu mir oder Kathy durchstellen. Okay?«

Davids blonde Augenbrauen zuckten in die Höhe. Er war schon jenseits der vierzig, aber sein rosafarbenes Babygesicht fing jedes Mal an zu leuchten, wenn die Andeutung dubioser Ereignisse ein wenig Licht in unseren trockenen juristischen Arbeitsalltag brachte.

»Natürlich«, sagte er. »Worauf soll ich achten?«

Ich zögerte. Ich hätte gar nicht erst damit anfangen sollen. Aber nachdem ich nun schon so weit gegangen war, musste ich auch den nächsten Schritt tun.

»Ich habe einen merkwürdigen Anruf bekommen. Also, nur für den Fall, dass noch einmal …«

»Wann? Gestern?«

»Heute Nacht.«

»Also zu Hause?«

»Ja.« David schaute mich immer noch strahlend an und wollte mehr wissen. »Wahrscheinlich ist es nichts, reiner Zufall, aber ich bearbeite im Augenblick ein paar schwierige Fälle. Könnte schon sein, dass mich jemand im Zusammenhang damit unter Druck setzen will.«

Er sprenkelte eine weitere Prise Futter in das Fischglas. Die beiden orangefarbenen Münder kamen vorsichtig knabbernd an die Wasseroberfläche. Nina gegenüber hatte er darauf bestanden, das seien Fischküsse, und er hatte ihr gezeigt, wie sie die Fische dazu bringen konnte.

»Ich passe gut auf«, sagte er. »Ich wünsche Ihnen einen wunderbaren Tag.«

In meinem Büro angekommen, sah ich in meinem Tagesplaner nach. Zuerst war eine Telefonkonferenz mit der Rechtsanwältin des Krankenhauses angesetzt, mit der ich überwiegend zu tun hatte, anschließend ein Mittagessen mit Carol Carranza.

Bei dem Gedanken an Essen bekam ich einen dicken Kloß im Hals. Vorhin war ich nicht einmal in der Lage gewesen, meinen Kaffee hinunterzuschlucken.

Aber heute Vormittag ging es nicht um das Mittagessen. Es ging um den Krankenhausfall. Irgendwie musste ich das schreckliche Gefühl der Bedrohung, das mir aus der Nacht geblieben war und das wie Spinnweben an mir klebte, loswerden und meine Arbeit machen.

Ich griff zum Telefon.

Ich hatte schon früher mit Gabrielle Horvath zu tun gehabt. Gabi konnte mehr oder weniger vernünftig sein, je nachdem, wie stark sie unter Druck stand. Und das Krankenhaus war noch nie zuvor auf achthundert Millionen Dollar Schadenersatz verklagt worden.

»Sie wissen so gut wie ich, dass fürchterliche Fehler gemacht worden sind. Hier geht es um mehr als einfach nur um Nachlässigkeit.«

»Wie würden Sie denn ›Fehler‹ definieren?«

»Als aktive Verfehlung – im Gegensatz zum bloßen Nichtstun.«

Gabi sagte: »Ich wüsste nicht, dass irgendetwas Derartiges vorgefallen ist.

»Mindestens zwei Patienten haben falsche Medikamente bekommen. Einer ist deshalb sogar verblutet.«

Ich hörte, wie Gabi aufseufzte, als hätte sie es mit einem ungezogenen Kind zu tun. »Angela. Dr. Carranza ist im gesamten Krankenhaus dafür bekannt, dass sie immer wieder überreagiert …«

»Wer sagt denn, dass meine Informationen ausschließlich von Dr. Carranza stammen? Bei der Durchsicht der neuesten eidesstattlichen Erklärungen haben Sie doch mit Sicherheit festgestellt, dass etliche Angehörige der Verstorbenen ebenfalls im medizinischen Bereich tätig sind.«

»Natürlich habe ich das, und viele Aussagen bestätigen, dass es an der Pflege nichts auszusetzen gab. Mir sind keine so genannten Fehler bekannt.«

Ich lächelte still vor mich hin. Das mit den Verwandten im medizinischen Bereich hatte ich mir ausgedacht. Dann sagte ich: »Sie betrachten es also nicht als Fehler, wenn ein Patient Coumadin anstelle von Prednisone verabreicht bekommt und als Folge davon verblutet?«

Diese Frage war erlaubt. Schließlich hatte ich nicht behauptet, dass es tatsächlich so geschehen war. Gabis Schweigen verschaffte mir große Befriedigung.

Ich fuhr fort. »Ich weiß, dass die Krankenblätter aus irgendeinem idiotischen Grund nicht zur Verfügung stehen. Aber so drängt sich die Frage nach der Verlässlichkeit der Krankenhausverwaltung immer mehr in den Vordergrund. Es wäre also sehr viel besser, wenn Sie Zugang zu den Akten bekämen. Und wenn Sie Zugang haben, dann sollte auch ich ihn bekommen. Sie wollen doch nicht, dass ich ihn mir per Gerichtsbeschluss erzwingen muss, oder?«

Während ich mit Gabi das Anwaltsspielchen spielte, hielt ich den Blick auf mein Strandgemälde gerichtet. Ich konnte den warmen Sand in meinem Rücken regelrecht spüren, die Brise, die durch die Palmen wehte. Ich hatte die ausgebleichten Muscheln vor Augen, die Nina und ich gesammelt hatten. Ich hörte sie über einen Schneckenwitz lachen.

Nachdem wir unser Telefonat beendet hatten, verfasste ich die nächste förmliche Anforderung zur Aushändigung der Unterlagen. Gabi brauchte überzeugendes Material, das sie ihren Klienten vorlegen konnte, und ich tat mein Bestes, um es ihr zu liefern.

Üblicherweise stieg man in Verhandlungen natürlich mit sehr hoch angesetzten Forderungen ein und steuerte dann auf einen Kompromiss zu. Aber ich hatte es nicht so weit gebracht, indem ich immer nur das Übliche gemacht hatte. In der Juristerei ging es um Menschen. Ich wusste mittlerweile, dass ich in erster Linie meinem Instinkt und erst in zweiter Linie meinem juristischen Wissen folgen musste.

Es war schon fast Mittag, als ich mein Schreiben beendet hatte. Ich blätterte nach oben, um den Schriftsatz noch einmal von Anfang an durchzulesen.

Als ich damit fertig war, betrachtete ich die Lalique-Uhr, die auf meinem Schreibtisch stand. Das wertvolle Jugendstilstück war mit einem kleinen Pendel versehen und ein Geschenk meiner Schwiegereltern aus einer Zeit, als ich noch in ihrer Gunst gestanden hatte. Zwölf Uhr fünfzehn. Carol würde gleich hier sein. Ich hatte nur noch wenige Minuten, um mich auf der Toilette ein wenig frisch zu machen.

Carol Carranza biss sich auf die Lippe. Sie klopfte mit ihren behandschuhten Fingern auf das Lenkrad. Nichts war zäher als der Verkehr in den Vorstädten um die Mittagszeit – abgesehen vielleicht vom Verkehr unmittelbar nach Schulschluss. Die so genannte Rushhour am Abend fand hier draußen gar nicht erst statt, weil sämtliche Muttis schon zu Hause am Herd standen und für ihre Heimkehrer das Abendessen zubereiteten.

Noch drei Autos vor ihr, und die Ampel sprang schon wieder auf Rot. Carol fluchte.

Sie war ehrlich genug, sich die eigentliche Ursache für ihren Ärger einzugestehen: Es war der Verlust ihres Traums. Eigentlich wollte sie auch eine von diesen Müttern mit einem sicheren, hoch bezahlten Arbeitsplatz in einer gehobenen Position sein, so anerkannt, dass sie ihre Arbeitszeiten frei wählen konnte, um nachts bei ihrem Kind und ihrer pflegebedürftigen Mutter sein zu können. Stattdessen musste sie die Brosamen nehmen, die man ihr vor die Füße warf – ständig wechselnde Schichten, immer mehr Bereitschaftsdienste.

Die Ampel sprang auf Grün, und sie ließ den Wagen zentimeterweise vorwärts gleiten. Verdammt, vorne war schon wieder Rot. Sie würde zu spät zu ihrem Mittagessen mit Angela kommen.

Zu ihrer Rechten entdeckte sie das Bobby’s. Es war voll, durchs Fenster konnte sie die vielen besetzten Tische erkennen. Sie hatte gehört, dass das Restaurant im Besitz von Angelas Familie war.

Außerdem wusste sie auch, dass Angela eine Tochter hatte. Sie musste etwa in Jills Alter sein, das hatte sie aus den Bildern geschlossen, die auf Angelas Schreibtisch standen und an der Bürowand hingen. Also musste Angela das Leben führen, das sie sich selbst immer gewünscht hatte – tolle Karriere, süße kleine Tochter … hier schien harte Arbeit noch belohnt zu werden.

Die Ampel sprang auf Grün, und Carol drückte aufs Gas, um nicht noch mal hängen zu bleiben.

Vor dem Spiegel in der Damentoilette rieb ich ein paar Mascaraklümpchen von meinem unteren Augenlid. Dann griff ich nach der Dose mit dem Abdeck-Make-up, nahm etwas davon auf den kleinen Finger und trug es auf meine Augenringe auf, die mit jedem Tag noch etwas dunkler zu werden schienen.

Ich betrat eine der Kabinen, verriegelte die Tür und setzte mich hin.

In der Kabine rechts neben mir hörte ich Stoffrascheln. Seltsam, ich hatte unter der Tür gar keine Füße gesehen. Ich war eigentlich davon ausgegangen, alleine zu sein.

Aber im Augenblick gab es vieles, was meiner Aufmerksamkeit entging. Anscheinend konzentrierte ich meine gesamte Energie nur darauf, mich irgendwie über den Tag zu bringen.

Ich hörte das Rauschen der Wasserspülung in der Nachbartoilette, dann Schritte. Die Frau war dabei, die Kabine zu verlassen. Vielleicht war es ja Carol. Ich holte Luft und wollte gerade ihren Namen aussprechen … doch irgendetwas ließ mich innehalten.

Als Rock und Strümpfe wieder saßen, entriegelte ich die Tür. Im selben Augenblick wurde mir klar, was mich veranlasst hatte, innezuhalten. Spülung, Schritte, Tür … nein. Richtig wäre gewesen: Toilettenpapier abrollen, Spülung, Schritte, Tür.

Mein Bewusstsein hinkte etwas hinterher, begriff aber immerhin so viel, dass ich nach dem Riegel griff und versuchte, meine Kabinentür wieder zu verschließen.

Aber noch bevor ich das tun konnte, gab es eine Explosion an meiner Schläfe und dann nur noch ein weißes Nichts.

Ohne jede Schuld

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