Читать книгу Vor aller Augen - Molly Katz - Страница 10
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Sicher hatte ein Hund, ein Waschbär oder ein Seevogel das Steak weggeschleppt. Rings um den Grill sah alles aus wie immer: die Utensilien, Salz- und Pfefferstreuer und das Brett, das auf das fertige Essen wartete.
»Davor habe ich mich gefürchtet«, sagte Kevin.
»Ich auch.«
Sie waren gerade vom Krankenhaus heimgekommen, trugen noch immer dieselbe Kleidung wie bei dem Unfall, Jeans und Turnschuhe. Sie standen im Hinterhof. Gnädigerweise war der Himmel bewölkt und trübe.
»Wovor fürchtest du dich sonst noch? Wir sollten es laut aussprechen«, sagte Ellen, wobei sie einen Kiefernzapfen von einem Terrassenstuhl schnippte.
Kevin, der in dem Stuhl saß, rieb sich die Augen. »Wir haben einiges zu erledigen –«
»Das hat Vorrang.« Am liebsten hätte sich Ellen auf seinen Schoß gesetzt, aber weil sie verschwitzt war und nicht gut roch, stand sie nur da und dachte daran. Inzwischen war das offenbar die einzige Art, wie sie selbst die kleinsten und einfachsten Dinge handhaben konnten.
Kevin löste das Problem, indem er die Arme ausstreckte. Dankbar sank sie auf seine starken Oberschenkel und sagte:
»Ich fürchte mich, seinen Stuhl zu sehen. Wenn ihn die Flut nicht mitgenommen hat, steht er immer noch draußen.«
»Das Aquarium«, sagte Kevin, »Pedro.«
»Ach, Kev, mein Gott, ach.«
»Was noch?«, fragte er. Als sie zögerte, meinte er: »Na, los.«
»Seine Kleidung. Nicht nur alles, was ihm jetzt passt, sondern … die größeren Sachen, die darauf warten, dass er hineinwächst – gewartet haben.«
Sie hörten die Haustürglocke und dann die Stimme von Carol Maxx. »Ellen?«
»Hier unten«, sagte Ellen.
Carol kam auf den Trittsteinen ums Haus herum. Sie hatte kurz geschnittene dunkelblonde Haare wie ein Junge, was ihr sehr schmeichelte, und grüne Augen. Wenn sie lächelte, strahlte sie über beide Backen, besonders wenn eines der Nachbarkinder einen Riesenwitz erzählte oder Ellen während der Sitzung ein hilfreiches Argument vorbrachte. Jetzt war das Lachen verschwunden.
Beim Anblick von Ellen und Kevin blieb sie stehen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sie beugte sich hinunter und umarmte beide.
»Wir wissen’s auch nicht«, flüsterte Kevin, »irgendwie müssen wir’s überleben.«
Carol sagte: »Ich hatte Radio gehört, nur wegen des Wetterberichts. Suzanne gibt doch heute Abend eine Gartenparty. Und dann hieß es, Liam sei gestorben, und wisst ihr, ich hab’s nicht geglaubt. Ich war überzeugt, dass muss ein Irrtum sein.«
Ellen spürte warme Tränen. Auch Carol weinte und meinte: »Das geht doch nicht, ein Kind verlieren, das darf nicht sein. Sie sind doch noch Kinder. Das klingt lächerlich, oder?«
Keiner antwortete.
In jener Nacht lagen Ellen und Kevin in ihrem Bett und versuchten, zu begreifen, dass sie nun nachts nicht mehr geweckt würden.
»Ich will es aber«, flüsterte Kevin Ellen im Dunkeln zu. »Ich will ›Vahh‹ hören und schlaftrunken ins Bad tappen und für ihn Wasser holen.«
»Ich weiß.«
»Schläfst du schon?«
»Nein.«
»Sprich mit mir.«
»Ich will nicht.«
»Doch, willst du schon. Du hattest die Idee, dass wir weiterreden, und du hattest Recht. Sonst stehen wir das nicht durch. Woran denkst du?«
»Ich denke daran, wie ich mich heute Morgen dissoziiert habe, während sie sich an Liam zu schaffen gemacht haben. Ich habe mich einfach auf Zehenspitzen an einen anderen Ort begeben. Nein, das klingt zu vorsätzlich. Es war eher, als ob ich an einen anderen Ort geführt und von dort aus zuschauen würde.«
»Gut. Und?«
»War das bei dir auch so?«
»So ähnlich.«
»Du äffst mich nach.«
»Nein, tu ich nicht, ich kapiere nur nicht, was du meinst. Noch nicht. Rede weiter.«
»Nun, es war, als wären Schmerz und Schrecken noch nicht ganz da, obwohl sie nur darauf warteten, dass ich sie spürte.«
»So als könntest du nicht schlucken.«
»Richtig. Du auch?«
»Ja, mir war, als sähe ich einen Film und wüsste dabei, dass es keiner war. Aber ich war noch nicht bereit, ihn als echt zu akzeptieren.«
Einige Minuten fiel kein Wort. Der Himmel war stockdunkel, noch lange kein Morgen in Sicht, aber sie konnten Gänse hören. Ein weiterer Schlag in die Magengrube.
Kevin sagte: »Lass uns miteinander schlafen.«
»Ich weiß nicht, ob ich kann.«
»Magst du’s versuchen?«
Kevin zog sie über sich und plötzlich wollte sie auch. Sie schrie dabei.
Sie schliefen bis zwanzig nach vier. Noch immer war es rabenschwarz.
»Ich mache Kaffee«, sagte Kevin, der hinter Ellen lag und die Arme um sie gelegt hatte. Er hob die Hände, glättete ihr Haar und kämmte es mit den Fingern durch.
»Hast du Hunger?«, fragte sie.
»Ja« sagte er. Die Erkenntnis kam für ihn überraschend.
»Ich auch, ich mache uns ein paar Eier.«
Ellen machte riesige Pilzomeletts aus insgesamt acht Eiern. Während sie aßen und sich mit Omelett, Muffins und Kaffee voll stopften, wurde es allmählich hell.
Ellen schob ihren leeren Teller weg. »Was tun wir jetzt?«
»Überleben. Wer ist hier eigentlich der Seelendoktor?«
»Niemand.«
Kevin schenkte Kaffee nach, Ellen hob ihre Tasse. Da sie kein Gefühl mehr für Hitze hatte, verbrannte sie sich ständig den Mund und merkte es kaum.
Sie sagte: »Weißt du noch, was ich letzte Nacht über Dissoziation gesagt habe?«
»Jjja.«
»Vermutlich sollte ich nachdenken, ob mir das auch am Dienstag passiert ist.«
»Wieso?«
»Wenn… wenn ich mir nur eingebildet hätte, Pallas hätte Liam mit seinem Schlitten angefahren, obwohl es gar nicht so war.«
»Warum solltest du?«
»Hoffentlich ist es nicht so, aber angesichts der Vorfälle während sie … als Liam zusammenbrach …«
»Das ist doch nicht dasselbe. Da warst du doch bereits in einem traumatisierten Zustand.«
»Davon mal abgesehen, aber was könnte traumatischer sein, als mit ansehen zu müssen, wie das eigene Kind von einem Auto überfahren wird?«
»Aber das geschah urplötzlich. Dein Abwehrmechanismus war noch nicht eingeschaltet.«
»Also, du glaubst, ich hätte Pallas gesehen.«
»Ich glaube, du hast gesehen, was du zu sehen glaubst.«