Читать книгу Vor aller Augen - Molly Katz - Страница 9

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Der Stuhl, auf dem Ellen während ihres irrwitzigen Gesprächs mit Jason und Maggie gesessen hatte, wurde ihr Bett. Kevin nutzte eine Couch im Ärztezimmer. Da Eltern nicht die ganze Nacht auf der Intensivstation bleiben durften, schliefen sie zwischen den Kurzwachen bei Liam immer wieder für zwanzig oder dreißig Minuten ein.

Am Morgen war sie dehydriert und durstig. Nachdem sie hastig einen großen Becher Orangensaft hinuntergestürzt hatte, konnte sie ihn nur mit Mühe bei sich behalten.

Kurz vor sieben Uhr kam der Neurologe. Er roch nach Seife und Zahnpasta, las Liams Tabelle und untersuchte ihn. Mit verzweifelten Augen beobachtete Ellen jede seiner Bewegungen. Kevin stand hinter ihr. Er hatte ihr die Hände auf die Schulter gelegt und massierte sie.

»Es geht ihm kein bisschen besser, oder?«, fragte Kevin.

»Nein«, sagte der Neurologe, richtete sich auf und drehte sich zu ihnen um. Er war ein untersetzter Mann um die vierzig und trug einen kurzen Vollbart. Seine linke Hand war nach einem Sturz beim Rugbyspielen geschient. Er hatte selbst einen kleinen Sohn und eine Tochter. Der Gedanke, was diese Eltern durchlitten, machte ihn schier verrückt.

»Der Druck hat sich ein ganz klein wenig erhöht. In diesem Zustand wagt der Chirurg keinen Eingriff. Wir können nur hoffen, dass das Solumedrol wirkt.«

»Das müsste es dann doch längst tun, oder nicht? Gestern Abend haben wir unsere Hoffnung auf heute Morgen gesetzt«, sagte Ellen.

Der Neurologe nickte. »Tja, das stimmt. Ich wünschte, es wäre anders.«

Kevin hielt sie noch fester und fragte: »Besteht irgendeine Chance, dass es nicht zur Hernienbildung kommt?«

»Eine kleine.«

Ellen konnte spüren, wie Kevin einen Teil seiner Energie verlor. Das war nicht gut. Sie mussten beide auf Hochtouren bleiben, um möglichst viel Energie übertragen zu können.

Drei Stunden später kam Jason Landrin aufs Stockwerk. Als Ellen die Intensivstation verließ, um zur Toilette zu gehen, wartete er im Flur.

»Wie geht’s Liam?«, fragte Jason.

»Nicht besser.«

»Ellen, es tut mir wirklich Leid.«

»Danke.«

»Sie waren die ganze Zeit im Krankenhaus, oder?«

»Ja.«

»Da sind Reporter, sie fragen nach Ihnen und Kevin. Selbstverständlich können Sie das halten, wie Sie wollen, allerdings würde ich vorschlagen, dass Sie ihnen momentan aus dem Weg gehen. Wer braucht das schon?«

»Mhmm.«

Er trat näher an sie heran. »Ich möchte unbedingt, dass Sie noch mal über gestern Abend nachdenken. Wir alle wollen wissen, wer Liam angefahren hat. Ich habe jedes Wort von Ihnen gehört. Wir wollen nichts davon unter den Tisch wischen, aber – es gibt einfach keinen Beweis dafür, dass es Pallas war, dagegen eine Menge Hinweise, dass er’s nicht gewesen ist. Zur besagten Zeit hat er einen Fall an der zehn Kilometer entfernten High-School bearbeitet. Unser Mann in der Funkzentrale stand mit ihm in Kontakt.«

Mittlerweile fielen Ellen keine blitzschnellen Gegenargumente mehr ein. Innerlich fühlte sie sich krank und traurig und ungeheuer müde.

Sie spreizte die Hände. »Da gibt es nichts mehr zum Nachdenken. Ich weiß, was ich gesehen habe.«

Jason konzentrierte sich mit allen Sinnen auf Ellen, deshalb bemerkte er nicht sofort, dass es plötzlich hinter den Scheiben der Intensivstation hektisch wurde. Aber dann ging die Tür auf und Kevin schrie: »Ellen!« Sie hörten den Monitor leise piepen.

Ellen rannte hinein.

Jason war schon in vielen Krankenhäusern gewesen, er wusste, was er soeben sah. Aus Rücksicht auf die Stewarts und auf sich selbst wollte er nicht länger dabei sein. Er war schon auf dem Weg zum Aufzug, da überlegte er es sich anders und stapfte die Treppe hinunter.

Ellen spürte, wie sie an die Oberfläche des Geschehens trieb: Gepiepe, hektische Hände, Schläuche, Anweisungen, Kommentare. Sie betrachtete ihr Baby, das nach dem Kollaps mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Laken lag. Und sie nahm Kevin bewusst wahr, der wie sie alles mit weit aufgerissenen Augen fixierte. In diesem Augenblick war er so erstarrt, dass er sie nicht einmal berühren konnte.

Noch war der zerstörerische Schmerz, der alles unter sich begrub, das Entsetzen, das wie ein Messer durchs Innere fuhr, nicht ganz eingedrungen. Der eigentliche Schlag stand noch bevor. Manchmal kann die Seele nur portionsweise verdauen.

All das wusste sie und wehrte sich doch dagegen.

Inzwischen waren mehr Leute da, das Team, der Neurologe, noch mehr Geräusche und Hände, aber das schien den herzzerreißenden Kontrast zwischen der gesteigerten Aktivität und den noch immer reglosen Ärmchen und Beinchen des Kindes nur noch zu verstärken. Die bewegten sich nur, wenn sie bewegt wurden. Kein Leben mehr.

Beide streckten im selben Moment die Arme nacheinander aus. Sie konnten es nur gemeinsam ertragen.

Vor aller Augen

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