Читать книгу Vor aller Augen - Molly Katz - Страница 13

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7

Am nächsten Morgen war Kevin vor Ellen wach. Vorsichtig schlich er sich aus dem Bett und ging ins untere Badezimmer.

Er war seitdem nicht mehr gelaufen, und das fehlte ihm, in den Knochen und im Kopf.

Er ging ins Schlafzimmer zurück, um Shorts und Turnschuhe zu holen. Ellen schlief ruhig auf ihrer Seite. Es war das erste Mal seit dem Unfall, dass Kevin sie so sah.

Durch die Vordertür trat er in die feuchte milde Luft hinaus. Inzwischen hatte der stets angenehme Strandgeruch in seiner Unabänderlichkeit etwas Beunruhigendes an sich.

Gemächlich joggte er auf die Hansen Road hinaus und bog nach rechts ab, weg von der beliebten, malerischen Strecke. Eine Begegnung mit den anderen bekannten Morgenläufern war das Letzte, was er heute früh wollte.

Nein, das war nicht wahr, gestand er sich ein, während er automatisch das Tempo steigerte.

Die präzise gleichgeschaltete Bewegung von Armen und Beinen hatte etwas Vertrautes und Beruhigendes für ihn. Kein Lüftchen regte sich, ganz typisch für einen Julimorgen, und als er landeinwärts rannte, verschwand die frische Strandluft rasch.

Es gab es nur eines, was er heute Morgen wirklich nicht wollte und das war, sich die Wahrheit einzugestehen: Seitdem hatte er den Kopf in den Sand gesteckt.

Schau dir doch nur mal an, dachte er, wie du es umgehst, sogar in deinen Worten. Du hast nicht einmal genug Mumm, es beim Namen zu nennen, geschweige denn, auf Grund deiner wahren Gedanken und Worte zu handeln.

Schau deine Frau an, wie tapfer und zielbewusst sie sich verhält. Und dann schau dich an. Du lehnst dich mit verschränkten Armen zurück, kritisierst und gibst weise Sprüche von dir, während du gleichzeitig gierig die Früchte ihres harten Einsatzes erntest.

Zwei Dinge war er ihr anständigerweise schuldig: eine Entschuldigung, und dass auch er sich die Hände dreckig machte und gemeinsam mit ihr arbeitete.

Es war leicht, Ellens impulsives Verhalten zu kritisieren – viel leichter, als sich einzugestehen, dass er in einer Krisensituation nur den umsichtig Einfühlsamen mimte, während er in Wahrheit das Weite suchte.

Die ganze Nacht waren Kevin pausenlos Ellens Worte über ihr Gespräch mit Pallas durch den Kopf gegangen. Jetzt fiel ihm wieder ein Fetzen daraus ein: »Trauernde Eltern sind verrückt.«

Der Mann hatte ja so Recht.

Aber er und Ellen waren unterschiedlich verrückt, und er musste aufhören, so zu tun, als ob er sich weniger irrwitzig benähme. Ja, sogar noch mehr, denn ihr Irrsinn brachte wenigstens Ergebnisse.

Der Schweiß rann ihm in die Augen. Bei seinem Drang ins Freie hatte er ein Stirnband völlig vergessen.

Er musste daran denken, wie er einmal gemeinsam mit Ellen gejoggt war und sie dasselbe Problem auf ganz eigene Weise gelöst hatte: Erst hatte sie ihre Shorts ausgezogen und sich dann ihres Höschens entledigt und es sich um den Kopf gewickelt.

Kevin gehörte eher zu denen, die gottergeben vor sich hin schwitzten.

Er bog um eine Ecke auf den Sea Vista Hill ein, wo hinter Bäumen, Steinmauern und elektrischen Toren exklusive Anwesen verborgen lagen, die von hoch oben einen Blick aufs Meer boten. In der anderthalb Kilometer langen Straße, die sich nach Norden schlängelte, wohnten seines Wissens mindestens drei Prominente, von denen zwei Ellens Patientinnen waren: Olga Balin, eine fröhliche energiegeladene Countrysängerin, und Ginger Yates, die preisgekrönte Königin seichter TV-Serien, die häufig ihre Folgen selbst schrieb.

Auf Sea Vista ging es ständig bergauf. Er schwitzte noch stärker. Schweiß brannte ihm in den Augen, sein T-Shirt war klatschnass.

Da merkte er, dass ihm nicht nur der Schweiß in den Augen brannte.

Er weinte heftig, schluchzte stoßweise.

Wie noch nie in dieser Woche stürzten Bilder auf ihn ein, ungehindert: Liam am Strand, in der Badewanne, in der Schule, wo er stolz seinen selbst gebastelten Seifenfisch präsentierte.

Der kleine Liam auf dem Bett in der Intensivstation, mit leblosen Gliedmaßen.

Zu seiner Schande musste Kevin gestehen, dass er, im Gegensatz zu allen anderen, offensichtlich nie die Behinderung seines Sohnes hatte vergessen können. Sie war in seinem Kopf zur fixen Idee geworden.

Vermutlich steckten hinter seinen Tränen viele Dinge: Seelenqual, Kummer, Scham und seit neuestem noch mehr Scham, weil er sich in jeder Hinsicht buchstäblich auf den Rücksitz verkrochen hatte, während Ellen tapfer weitergestrampelt hatte.

Seine Gedanken wanderten zu ihr zurück, nach Hause, wo sie trotz der Hitze zugedeckt auf ihrer Seite lag. Unter der Decke zeichneten sich ihre Umrisse ab, ihre roten Haare waren wie ein Fächer ausgebreitet.

Sie bedeutete ihm sehr viel.

Als er um Viertel nach sieben heimkam, schlief Ellen immer noch. Er duschte unten, zog sich an und stieg in den Wagen, um noch vor seinem Sprechstundentag einen Kaffee zu trinken.

Aber noch während er aus Sandpiper herausfuhr, schweiften seine Gedanken in die Richtung ab, wo er vor kurzem gejoggt hatte: ins Landesinnere, nach Norden, am Sea Vista entlang, immer weiter hinauf. Da waren sie wieder, die Empfindungen, und beinahe hätte er erneut zu weinen begonnen.

Er nahm diesen Weg, das Auto fuhr fast von allein. Eigentlich hätte er in die Praxis gemusst, in knapp einer Stunde war sein erster Termin, aber nun merkte er, wie er am Straßenrand von Sea Vista anhielt und einfach nur dasaß.

Nach einer Minute dämmerte ihm, dass er das nicht machen konnte. Die Leute duldeten es nicht, wenn sich vor ihren teuren Häusern fremde Fahrzeuge herumtrieben. Er würde es jedenfalls mit Sicherheit nicht tun. Irgendjemand würde die Polizei rufen.

Zu seinem Entsetzen fing er zu lachen an.

Im Weiterfahren tippte er auf dem Telefon eine Nummer ein und rief seine Sekretärin an. Sofort antwortete Lauries heitere Stimme.

Kevin hörte, wie er ihr erklärte, sie solle seine ersten drei Termine absagen.

So weit es ihm bewusst möglich war, hatte er beabsichtigt – anscheinend konnte er nur noch von einem Augenblick zum nächsten planen –, irgendwo anzuhalten und wie Ellen in einem Telefonbuch nachzuschlagen.

Aber offensichtlich hatte dieser zweite Kevin, egal, wer er war, die Regie übernommen und verfolgte eine andere Strategie. Besagter Kerl fuhr soeben in die Gegend, von der Ellen erzählt hatte. Eigentlich kannte er sich im Westviertel nicht gut aus, wenigstens nicht gut genug, um das Haus von Pallas auf Grund seiner eigenen vagen Vorstellung zu finden.

Aber wie ein Hund, der zuversichtlich nach Hause trottet, bog das Auto mehrmals um die Ecke und – da war es, das viktorianische Haus mit der Veranda und den roten Liegestühlen.

Sonnenlicht strömte durchs Fenster, und Ellen spürte die feucht-schwere Juliluft, die sie an diesem Monat immer so geliebt hatte. Momentan empfand sie sie nur als zusätzliche Decke, die sie niederdrückte.

Sie stand auf. Ihr ganzer Körper schmerzte, als ob sie jemand über eine Klippe gestürzt hätte.

Einer hatte es getan. Pallas. Und Jeff Maxx hatte nur darauf gewartet, ihr den Rest zu geben.

Zuerst dachte sie an Kaffee, zog dann aber doch eine Dusche vor. Schon beim Betreten der Kabine stellte sie, wie alle Verheirateten, eine Abweichung von der üblichen Routine fest: Die Dusche war nicht nass.

Kevin musste unten geduscht haben, um sie nicht aufzuwecken.

Darüber dachte sie beim Einseifen nach. Noch immer befand sie sich in jenem akuten Trauerstadium, in dem sie keinerlei Luxus verdiente. In ihr Entsetzen über die Tatsache, dass man auf sie geschossen hatte, mischte sich der halbherzige Wunsch nach einer vollbrachten Tat. Und noch mehr. Schuldgefühle nagten an ihr, weil sie sowohl den heißen Wasserstrahl als auch die Rücksicht ihres Mannes genoss.

Aber wenigstens war sie sich dieser Reaktion bewusst.

War das der wahre Grund gewesen, warum sie Seelenklempnerin geworden war? Damit sie wusste, warum sie tat, was sie tat?

Momentan viel zu kompliziert. Konzentrier dich auf leichtere Fragen, zum Beispiel ob du zum Frühstück ein Stück Melone hinunterbekommst.

Sie hob die Eastporter Zeitung auf, die zweimal wöchentlich erschien, und legte sie draußen auf den Kaffeetisch. Noch im Stehen überflog sie die Titelseite, ohne etwas zu sehen, doch dann zwang sie sich, es noch einmal zu tun. Selbstverständlich stand da ein Artikel über Liams Tod, mit einem Foto, das mit zwanzig Monaten gemacht worden war. Er strahlte übers ganze Gesicht und winkte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie daran gekommen waren. Sie hatte sich an Jason Landrins Rat gehalten und nicht mit der Presse gesprochen.

Sie blätterte zum Fertiglesen um und kam zu dem Absatz, in dem verkündet wurde, dass trotz aller polizeilicher Nachforschungen zur Zeit offensichtlich noch keine Verhaftung anstand.

Sie setzte sich.

Ihr war klar, dass sie sich zu einem Bissen Obst und Toast zwingen sollte oder wenigstens dazu, Kaffee zu kochen, denn in diesem Zustand war ihr Gehirn keinerlei Stütze. Aber immer wieder spulte sich vor ihrem inneren Auge dieser Absatz ab.

In dem Moment wurde ihr etwas klar. Da sie ihrer Erkenntnis auf Grund ihres prekären Zustands nicht traute, zwang sie sich aufzustehen, in die Küche zu gehen und eine Kanne starken Kaffee zu kochen.

Als sie fertig war, schenkte sie sich eine Tasse ein und ging damit wieder ins Freie. Noch immer lag der Zeitungsartikel über ihr Kind aufgeschlagen da. Und auch die Erkenntnis hatte sich noch nicht verflüchtigt.

Eines stand fest: Sie tat genau das, wogegen ihre Patienten bei ihr bezahlte Hilfe suchten. Sie ließ sich in die Opferrolle abdrängen. Sie hatte sich überreden lassen, etwas im Dunkeln zu belassen, was eigentlich ans grelle Tageslicht gezerrt werden sollte.

Weiche glatte Haut und fast keine Haare. Er mochte die Kurve, die ihre Knie beschrieben, wenn er sie nach hinten beugte, die kleine Ebene aus Knorpel und Knochen. So flach, dass man darauf eine Kaffeetasse abstellen könnte.

Aber er hatte damit etwas weitaus Besseres vor.

Er drückte gegen ihre Schienbeine und spreizte sie auseinander.

Kevin wünschte sich, er hätte ein Fernglas dabei. Aber noch während sein Blick prüfend von einem Fenster im zweiten Stock zum anderen schweifte, sah er Pallas. Das musste er sein, denn nach Ellens Aussage lebte dort sonst niemand. Außerdem konnte Kevin seine Brille aufblitzen sehen.

Und wenn das alles noch nicht genügt hätte, hätte er es aus anderen Gründen gewusst: aus der Art, wie sich sein Magen verkrampfte, wegen der blinden Verzweiflung, die ihn beim Anblick dieses Mannes überfiel.

Er beobachtete, wie sich Pallas gleichmäßig bewegte, als ob er Staub saugen oder Pflanzen gießen würde. Kevin war zu weit weg, um seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber die ganze Körpersprache kündete von gewohnten Tätigkeiten. Nestputz.

Kevin wurde übel, speiübel.

Hier lief dieser Dämon in seiner Wohnung herum und erledigte seine häuslichen Pflichten. Er wurde nicht fünfzigmal am Tag von einem Übermaß an Schmerz erdrückt. Er wurde von seinen Kollegen brüderlich abgeschirmt und verhätschelt.

Am liebsten hätte Kevin etwas geworfen, einen Stein, eine Handgranate. Wie gerne hätte er mit seinem Auto das Haus gerammt, das Fundament zerstört und dann zugeschaut, wie Holz und Beton und Glas donnernd zusammenkrachten.

Er stieg aus.

»Eastport News.«

»Ich hätte, bitte, gerne einen Reporter gesprochen.«

»Chef vom Dienst. Dennis Chivers, am Apparat.«

»Hier ist Dr. Ellen Stewart, ich bin die Mutter von Liam Stewart.«

Stille. »Nun, danke für Ihren Anruf. Wir hatten schon auf ein Gespräch mit Ihnen gehofft.«

»Ich weiß. Jetzt bin ich dazu bereit.«

Kevin ging zur Vordertür. Wie vorher bei seinem Auto schien sich auch die Bewegung seiner Beine aus irgendeiner von ihm unabhängigen Energiequelle zu speisen.

Er betrachtete die große einladende Veranda mit den roten Liegestühlen und den Blumentöpfen. Von fern konnte er leise den Staubsauger brummen hören. Wieder wurde ihm übel, so wie heute Morgen nach dem Joggen, während er dem auflaufenden Wasser zugeschaut hatte. Eigentlich dürfte die Natur noch nicht genau nach Plan agieren.

Sein Blick wanderte zu den Briefkästen. Auf einem stand in sauberer schwarzer Blockschrift »P. Pallas«. Drei Umschläge steckten darin. Kevin zog sie heraus. Es handelte sich um Rückantworten an die Elektrizitätswerke von Connecticut, Cablevision und First Century Visa.

Eingehend prüfte er die Umschläge mit den Rücksendeadressen und den in den vorgedruckten Rechtecken korrekt aufgeklebten Briefmarken. Briefumschläge mit Schecks und Überweisungen und vielleicht einer kurzen Mitteilung über einen Irrtum oder eine Berichtigung. Banale Dinge, und doch standen sie ganz im Gegensatz zu dem, was nach Kevins Ansicht hinter der gelackten Oberfläche dieses Mannes steckte.

Er schaute auf den Visa-Brief. Er könnte ihn in die Tasche stecken, könnte die Information darin benützen, um Pallas ein wenig das Leben schwer zu machen. Aber der leise Auftrieb, den er bei diesem Gedanken verspürte, verschwand auf der Stelle, als ihm die Kluft zwischen Irritation und wahrer Seelenqual bewusst wurde.

Für Pallas hätte es vielleicht eine halbe Stunde Verdruss bedeutet, während der er sich aus dem Schlamassel herauswinden und eine neue Karte besorgen musste. Visa würde ihm mit Freuden per Eilkurier eine Ersatzkarte schicken, auf sämtliche weiteren Zusatzgebühren und Mahnzinsen verzichten und sich vielleicht sogar für die Unannehmlichkeiten entschuldigen.

Kevin und Ellen mussten für den Rest ihres Lebens die Wunden tragen, die die Vernichtung ihres Kindes in alle Sinne eingegraben hatte.

Kevin packte den Türgriff. Die Tür war versperrt. Er ließ die Briefumschläge fallen und zerrte mit beiden Händen daran, so fest er konnte. Dann donnerte er gegen die Tür, Schlag um Schlag, bis er hörte, wie der Staubsauger still wurde.

Während er darauf wartete, dass Pallas herunterkam und die Tür öffnete, hörte er innerlich das Echo der Schläge. Seine geballten Fäuste waren zu Stein erstarrt. Der erste Hieb würde dem Glas gelten. Er würde Pallas die Splitter in die Augen dreschen und ihm dann die Nase einschlagen.

Der Staubsauger legte wieder los.

Wasser stieg ihm in die Augen, dicke Tränen liefen ihm auf die Kleider.

Einige Minuten lauschte er dem Dröhnen, dann bückte er sich, hob die Umschläge auf, steckte sie wieder in den Briefkasten, ging zum Auto und fuhr weg, ohne noch einmal zu den Fenstern und Pallas hochzuschauen.

Dennis Chivers verdankte es einem glücklichen Zufall, dass er den Anruf von Ellen Stewart entgegen nahm. Noch in der Unfallnacht hatte man ihm die Story übergeben. Er hatte im Krankenhaus ausgeharrt und mehrmals versucht, Kontakt mit den Stewarts aufzunehmen, allerdings ohne Erfolg. Der Konkurrenz war es nicht besser ergangen. Zu seinem Verdruss schwand allmählich das Interesse an der Geschichte, obwohl er Potenzial darin witterte.

Was ihm Ellen Stewart soeben an diesem heißen Morgen erzählt hatte, klang sogar äußerst interessant.

Dennis fragte sie: »Nehmen wir mal eine Zehnerskala: Wie sicher sind Sie, dass es Officer Pallas war?«

»Zwanzig.«

»Warum haben Sie diese Aussage nicht schon früher gemacht?«

»Habe ich«, sagte Ellen, »allen gegenüber, mit Ausnahme der Presse. Davon hat mir die Polizei abgeraten. Man gab mir zu verstehen, die Nachforschungen gingen ohne Presserummel schneller und besser voran.«

»Dr. Stewart«, sagte Dennis, dessen Finger bereits über der Kontakttaste zu seiner Chefredakteurin schwebte, die er sofort nach diesem Gespräch anrufen wollte. »Ich würde mich gern mit Ihnen privat unterhalten und ein paar Aufnahmen von Ihnen und der Unfallstelle machen. Ich möchte nur noch einige Anrufe tätigen, dann rufe ich Sie sofort zurück.«

Vor aller Augen

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