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Prolog

MONTAG, 18. JULI 1995

Ellen saß ganz dicht neben Kevin auf der Couch im Wartezimmer. Sie hielt Liam im Arm, der sich an ihren Hals kuschelte. Das Baby hatte ihren Kragen und die dunkelroten Haarspitzen voll gesabbert, und sie spürte und hörte ihn leise hicksen.

Sie machte sich jeden seiner Laute bewusst, als ob sie durch Achtsamkeit ihre eigenen Sinneswahrnehmungen übertragen könnte. Schenk diesem Baby die Gabe des Hörens, denn möglicherweise fehlte ihm genau das. Sogar sehr wahrscheinlich, aber mit Sicherheit wüssten sie das erst heute nach der Untersuchung durch den HNO-Spezialisten der Manhattan-Augen- und Ohrenklinik.

»Ich fühle mich hilflos«, sagte Kevin.

»Ich doch auch«, antwortete Ellen, wobei sie Liam noch fester an sich drückte.

Sachte betastete der Facharzt Liam mit seinen langen Fingern. An einem durfte sich der Säugling sogar festhalten. Das prüfende Stupsen rief mehrfach ein Lächeln hervor. Ellens Herz krampfte sich zusammen. In seiner Unschuld ahnte Liam von nichts.

Auf dem Heimweg von New York nach Eastport, Connecticut, weinten Ellen und Kevin. Kevin fuhr für seine Verhältnisse ungewöhnlich langsam; sonst zog es ihn immer nach Hause. Darin waren sich beide gleich. Die Stadt am Meer bot einen atemberaubenden Anblick.

Aber heute würden sie das Haus zum ersten Mal mit einem tauben Baby betreten. Von nun an gab es keinen Zweifel mehr.

Nächtelang hatten sie sich mit Fragen gequält. Nun war aus dem Was-wäre-Wenn mit einem Schlag Realität geworden. Jedes Kind hatte von Geburt an das Recht, sein Leben ohne Handicap zu beginnen. Nicht Liam, vor ihm lag bereits ein schier unüberwindliches Hindernis.

Normalerweise schreckte Kevin vor der Behandlung von Kindern zurück, aber manchmal musste es eben sein. Er galt als der beste Augenarzt in Fairfield County, und manche Eltern ließen sich nicht abwimmeln. Er hasste es, wenn er schlechte Nachrichten überbringen musste, denn darauf lief es letztendlich hinaus, sobald ein Kind zu ihm überwiesen wurde. Für derartige Nachrichten gab es unterschiedliche Modalitäten, aber wenn die Diagnose auf unheilbare Blindheit lautete, konnte sich Kevin nur mit Mühe zwingen, den Eltern gegenüberzutreten. Solche Gespräche konnte er nicht ausstehen. Er verabscheute sich selbst dafür, gezwungenermaßen derjenige zu sein, dessen vernichtendes Urteil ihr geliebtes Kind für immer abstempelte. Was für ein himmelschreiendes Unrecht, welch abgrundtiefe Enttäuschung. Behindert.

Jetzt waren er und Ellen die Betroffenen.

Vor aller Augen

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