Читать книгу Vor aller Augen - Molly Katz - Страница 11
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Nach dem Begräbnis gingen alle wieder zu den Stewarts zurück. Ellens Mutter, Liza Rosser, die aus Pennsylvania gekommen war, hatte Platten mit Sandwiches bestellt, obwohl nach Ellens Meinung Kaffee und Kuchen genügt hätten. Bei Häppchen blieben die Leute nur länger, und Ellen konnte es nicht erwarten, bis das Haus wieder so war wie sie – leer.
Ellen hatte erwartet, beim Anblick des kleinen Sargs zusammenzubrechen. Aber das war gar nicht der schlimmste Teil gewesen, vielmehr der Anblick aller Erwachsenen, die sich angesichts eines toten Kindes dafür schämten, lebendig zu sein.
»Schämen?«, sagte Kevin, als Ellen den Gedanken mit ihm teilte. Als hätte sie etwas Unanständiges gesagt.
»Ja.«
Er biss gerade in ein Schinkensandwich und hörte zu kauen auf, während er sie musterte.
Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist widernatürlich. Man geht auch nicht voll angezogen schwimmen. Man gießt nicht den Rasen mit Benzin. Und Zweijährige sterben nicht als Erste.«
Kevin biss wieder ab. »Darin sind wir uns schätzungsweise einig.«
An seiner Lippe hing ein Salatstück, Ellen zupfte es weg. »Jetzt klingst du wie ich.«
»Nun, das ist gut, denn du tust’s nicht.«
Sie schaute ihn fragend an. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Nur Spaß.«
Nein, ist es nicht, niemand macht nur Spaß, hätte sie am liebsten gesagt, aber es war sinnlos.
Kevin streckte ihr das letzte Stück Sandwich hin. Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast gar nichts gegessen«, sagte er.
»Tu ich später.«
»Wie wär’s, wenn ich dir ein halbes Roastbeefsandwich hole? Das Fleisch ist wunderbar. Deine Mutter war bei Umberti.«
Kevin wirkte so normal. Wie illoyal von ihm. Aber dann dämmerte Ellen, dass sie die Illoyale war, wenn sie so etwas dachte. Er versuchte doch nur, für sie zu sorgen, für sie beide.
»Gut, danke«, antwortete sie, um ihren Part zu erfüllen.
Carol Maxx sah Ellen allein am Wohnzimmerfenster stehen und hinausstarren. Sie ging hinüber. »Offensichtlich lassen dir die Leute Platz.«
»Keiner weiß, was er sagen soll.«
»Na ja«, sagte Carol, »ist doch sicher besser für dich, als wenn sie versuchen, Konversation zu machen. Willst du dich nicht unterhalten? Wenn du magst, verziehe ich mich wieder oder spiele deine Vogelscheuche und schrecke alle ab.«
Dankbar bemerkte Ellen, dass Carol nichts aß. »Du kannst bleiben. Das ist entsetzlich, alles, aber … nicht die Leute, der Anlass.«
Carol nickte. »Kommst du wenigstens ein bisschen zum Schlafen?«
»Irgendwie. Und wie steht’s bei dir?«
»Geht so.«
»Wirklich?«, fragte Ellen, und Carol nickte erneut.
Ellens Blick wanderte ins Esszimmer, wo Jeff Maxx gerade eine Dose Cola aufmachte. Trotz ihres Zustands konnte sie in seiner Haltung und seinen Bewegungen deutlich feindselige Gefühle ablesen. Bei Carol war gar nichts in Ordnung, das wusste Ellen so gut, wie sie ihre Schuhgröße kannte, aber Carol benahm sich, wie es sich für eine gute Freundin und Patientin gehört.
Jeff schaute auf, direkt in Ellens Augen, als ob er wüsste, dass sie ihn fixierte. Verstohlen wanderte sein Blick von Ellen zu Carol und wieder zu Ellen zurück. Der Hass in seinen Augen ließ sie die Verbindung sofort abbrechen.
Carol sagte: »Wenn sie jemanden verhaften, musst du alles wieder durchmachen, nur noch schlimmer.«
»Aber dann für einen guten Zweck. Ich kann es kaum erwarten. Am liebsten würde ich dieses Monster Stück für Stück in seine Einzelteile zerreißen.« Ellen legte die Hand über die Augen.
Ihre Mutter Liza kam herüber. »Ellen, hast du noch koffeinfreien Kaffee?«
»Höchstens im Gefrierfach.«
»Ich schau mal nach. Sonst kann Pa ja Nachschub holen.«
»Nein, Ma, wir wollen das Ganze beenden.«
Liza schürzte die Lippen und wollte etwas sagen, ließ es dann aber doch sein.
Gute Entscheidung, dachte Ellen.
Als Liza weg war, fragte Carol: »Wie steht’s bei der Polizei? Gibt es irgendeinen Fortschritt?«
»Nein.« Ellen rieb sich die Augen. »Alle Nachbarn sagen dasselbe wie du. Bis zum Sirenengeheul haben sie nichts gehört. Vermutlich habe ich mir nur eingebildet, dass es laut war. Und in Wirklichkeit war’s ganz anders. So einfach ist das.«
»Landrin.«
»Hallo, Jason. Ellen hier. Gibt’s was Neues?«
»Nichts. Keinen einzigen Zeugen, keine beschädigten Autos.«
»Bei der Beerdigung habe ich keinen von der Polizei gesehen. Oder ist das nur in Krimis so?«
»Nein, Mag war da.«
»Wirklich?«
»Erinnerst du dich noch an ein Mädel mit Sonnenbrille und dunkelgrauem Kostüm?«
»Ich dachte, sie wäre eine Lehrerin aus Liams Unterricht.«
»Gut.«
»Ach.«
»Also, sie war da, allerdings ohne Erfolg.«
»Und was nun?«
»Wir bleiben dran. Momentan sind wir dabei, die exakte Position jedes Streifenwagens zum Zeitpunkt des Unfalls zu bestimmen.«
»Versieht Peter Pallas noch immer seinen Dienst?«
»Natürlich«, sagte Jason geduldig.
»Nun«, meinte Ellen, »dann braucht ihr gar nicht weiterzumachen, denn Pallas ist derjenige. Pallas, und sonst niemand. Einen anderen werdet ihr nicht finden.«
»Ellen, das müssen Sie schon uns überlassen.«
»Jason, sagen Sie so etwas nicht zu mir. Was wäre, wenn Liam Ihr Kind gewesen wäre?«
»Was wäre, wenn Pallas Ihr Mann wäre?«
Gegend Abend waren sie restlos erschöpft. Kevin kippte ein großes Glas Wein und legte sich hin. Ellen zog sich ein Sweatshirt über den Kopf und trat in die neblige Dämmerung hinaus.
Die Möwen hatten sich entlang der Wasserkante ein letztes Mal zum Fischfang versammelt. Eine Weile stand Ellen da und sah zu, wie das Wasser alle paar Sekunden heranschwappte und das Spitzenmuster ihrer Krallen glättete.
Am Himmel wurde es allmählich düster, was ihr gerade recht kam. Weiß glommen Federn auf. Die Vögel liefen zankend herum, fischten und bewachten ihren Fang. Wer eine Muschel gefangen hatte, flog weg und suchte sich einen harten Untergrund zum Knacken der Schale.
Ellen hörte, wie die ersten nacheinander auf den Asphalt knallten, und drehte sich um. Eigentlich hatte sie erwartet, dass die Möwen in den Schalen herumpickten. Dann hörte sie noch mehr Muschelschalen fallen. Aber Vögel waren keine da.
Auf der Suche nach verschiedenen Muschelbröckchen ging sie Richtung Asphalt. Da sah sie aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung.
Hinter einer Düne spazierte Jeff Maxx hervor. In der leicht abgewinkelten rechten Hand hielt er ein Gewehr.
Obwohl sie ihn wegen der fortgeschrittenen Dämmerung und der Gischt kaum sehen konnte, hätte sie diese Körpersprache überall wieder erkannt. Unwillkürlich schrie sie auf.
Er lief auf sie zu. Sie stolperte im steineübersäten Sand, kam auf allen vieren wieder hoch und versuchte aufzustehen.
Er packte sie am Arm.
»Lassen Sie mich los«, keuchte Ellen.
»Was machen Sie hier draußen?«, zischte er sie an. Sein Gesicht war so nahe, dass sie seinen Atem riechen konnte. Er stank nach Bier.
»Was ich mache?« Ihre heisere Stimme überschlug sich. »Sie haben auf mich geschossen.«
Er schüttelte ihren Arm. »Ich habe nicht auf Sie geschossen, sondern auf die Möwen.«
»Sicher, Jeff.«
»Miststück. Jetzt werden Sie das wieder herumtratschen, stimmt’s?«
Der Augenblick von Panik hatte eine Lawine losgetreten. Ihre Emotionen überfluteten sie förmlich. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien, ihn und Gott. Sie wollte nur noch laut schreiend davonlaufen und ins Wasser springen.
»Halt bloß die Klappe. Du hast mich schon genug verarscht«, sagte Jeff.
»Sei still! Sei still!«, brüllte sie lauthals. Es war ihr fast egal, ob er sie umbrachte. Wenn nur dieses Geschrei aufhörte, von dem sie nicht einmal mehr wusste, ob es aus ihr oder von außen kam.
Er starrte sie an, schüttelte angewidert den Kopf und trabte davon.
»Ich habe Ihre Nachricht erhalten«, sagte Jason. »Was gibt’s?«
»Letzte Nacht hat Jeff Maxx versucht, mich umzubringen?« sagte Ellen.
»Was? Was ist passiert?«
»Ich war am Strand, und er hat hinter einer Düne hervor auf mich geschossen.«
»Dieses Arschloch hat auf Sie geschossen?«
»Sie haben ihn doch schon einmal verhaftet –«
»Sicher. Seine Frau ist Ihre Patientin, richtig?«
»Ja, er muss sich an ein eingeschränktes Umgangsverbot halten. Trotzdem kann ich sie nicht zum Fortgehen bewegen. Und weil er weiß, dass ich sie darin bestärke, ist er sauer.«
»Hat er auf Sie gezielt? Oder wollte er Möwen abknallen?«
Ellen schwieg eine Weile. »Er hat behauptet, es gälte den Möwen, aber ich hielt das für eine dumme Ausrede.«
»So etwas macht er. Dadurch lässt er Dampf ab.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Tja. Unsere Leute haben ihn ein paar Mal dabei erwischt, ohne sich weiter darum zu kümmern. Streiten Sie jetzt bloß nicht mit mir darüber, ich warne Sie.«
Sie kritzelte einen Vogel in ihren Terminkalender. »Damit wollen Sie sagen, das sei besser, als wenn er seiner Frau wehtut.«
»Bingo. Wollen Sie mir nun etwa einreden, dass er mit dem Besitz eines Schießprügels gegen das Umgangsverbot verstößt?«
»Heißt das, dass man seine Waffen nie beschlagnahmt hat?«
»Klar haben wir das. Aber wie viele Verbrecher kennen Sie, die daraufhin sagen: ›Okay, meine Kanone ist rechtmäßig futsch, aber bin ich deswegen schon ein Pechvogel?‹ Schauen Sie, Ellen, anstatt letzte Nacht 911 zu wählen, haben Sie heute Morgen Jason angerufen, mich. Für mich ist das eine klare Pattsituation. Mrs. Maxx ist nicht bereit, das Handtuch zu werfen, und keiner von uns tut ihr irgendeinen Gefallen, wenn wir’s tun.«