Читать книгу Vor aller Augen - Molly Katz - Страница 14

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Ellen war in ihrer Praxis, in Dienstkleidung: Rock, Strümpfe, Pumps. Für heute waren sechs Termine vorgesehen, die sie um jeden Preis einhalten wollte. Offensichtlich hatte sie nach dem Anruf bei der Zeitung wieder einen etwas klareren Kopf.

Seit ihrem Gespräch mit Dennis Chivers waren anderthalb Stunden vergangen. Er wusste, dass er sie hier erreichen konnte. Allerdings hoffte sie inständig, er rief nicht während einer ihrer Sitzungen an.

»Entweder musst du gehen oder die Polizei benachrichtigen«, erklärte Ellen Carol. »Er verstößt in jeder Hinsicht gegen das Umgangsverbot.«

»Diese Woche war es nicht ganz so schlimm.«

»Und wie lange wird das anhalten?«

Wortlos schaute Carol sie an. Ellen verwünschte sich selbst. Sie hatte sich mit ihrer Patientin auf einen idiotischen Willenskampf eingelassen, bei dem sie nicht einmal auf der richtigen Seite stand.

Inzwischen tat sie sich mit ihrer Arbeit wesentlich schwerer. Immer stärker löste sich der klinische Blickwinkel, den sie sich während ihrer Ausbildung mühsam angeeignet hatte, im Säurebad ihrer Emotionen auf.

Das Telefon klingelte. Wie immer während der Sitzungen hatte Ellen auf den Anrufbeantworter um- und den Ton ausgeschaltet. Aber heute löste das Klingeln ein Zittern aus. Am liebsten hätte sie abgehoben oder wenigstens zugehört.

Carol sagte: »Ich weiß, ich gehe zu langsam vor. Ich weiß, dass ich leichtgläubig bin, aber Jeff hat auch eine gute Seite, und wenn er mir die zeigt, halte ich inne und werde nachdenklich. Suzanne und mir zuliebe möchte ich keinen Schritt tun, den ich hinterher bereue.«

Diesmal schwieg Ellen klugerweise, sodass Carol ihre eigene Aussage in den Ohren nachhallte, bis sie schließlich sagte: »Das ist die Flitterwochenphase. Das wolltest du doch sagen, oder?«

»Ich habe nichts gesagt, sondern du. Also?«

»Sein Ärger wird sich anstauen, und dann wird er erneut explodieren.«

Wieder ließ Ellen Carol an ihren eigenen Worten herumkauen.

»Mal angenommen, ich gehe mit Suzanne weg, wohin sollen wir gehen?«, fragte Carol. »Wie soll ich etwas planen? Du weißt doch, dass mir Jeff auf Schritt und Tritt folgt und meine Telefonate abhört.« Sie berührte den Piepser, den sie ständig am Gürtel trug. »Wenn er nicht weiß, wo ich bin, piept er mich alle drei Minuten an.«

»Du könntest ins Eastporter Frauenhaus gehen. Es ist abgeschirmt und streng bewacht. Wenn dann der erste Ärger verraucht ist, könntest du während der Wohnungssuche ins Hotel ziehen.«

Carol schüttelte den Kopf. »Dafür komme ich nicht an genug Geld heran.«

Ellen runzelte die Stirn. »Und was ist mit deinen Maklergebühren?«

»Die muss ich immer auf Jeff überschreiben. Sämtliche Konten und Kreditkarten laufen auf seinen Namen. Ich habe nie Bargeld. Das ist ja einer der Hauptgründe, warum er verhindern will, dass ich gehe. Mit seiner Elektrofirma macht er Millionen, und davon will er nichts für den Unterhalt seines Kindes abzweigen.«

Bis zum Ende der Sitzung waren noch zwei Anrufe gekommen. Kaum hatte Carol die Tür hinter sich geschlossen, rief Ellen ihre Nachrichten ab.

Die dritte war von Dennis Chivers.

Er klang weniger energisch als zuvor. »Wir müssen erst mal unsere Recherche ein bisschen vertiefen, dann werde ich wieder auf Sie zukommen.«

»Wann?«

»In ein, zwei Tagen. Ich melde mich bei Ihnen.«

Ellen legte auf. Sie fühlte sich wie ein Ballon, dem die Luft ausgegangen war: im Stich gelassen.

Nachdem sie sich mit einem Blick in ihren Terminkalender vergewissert hatte, dass sie vor ihrem nächsten Patienten eine Stunde Zeit hatte, lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück.

Was ging hier vor?

Nun, sie wusste es natürlich. Sie setzte alles auf eine Karte. Beim verzweifelten Versuch, ihren qualvollen Verlust abzumildern, maß sie der winzigen Chance mit den Eastport News viel zu viel Bedeutung bei.

Als ob das helfen könnte.

Als ob das ihren Sohn zurückbringen würde.

Doch genau das tat sie. Na schön, Frau Oberdoktor.

Sie stand auf und begann, hin und her zu laufen. Hier stand ihr Bücherregal mit sämtlichen schlauen Büchern, wie man Menschen mit Seelenkummer helfen konnte: misshandelten Menschen, die Stimmen hörten, solchen, die sich selbst Bisswunden zufügten, die sich die Seele aus dem Leib kotzten, die ihre Partner oder ihre Mütter oder ihre Gärtner umbrachten. Aber für Ellen stand nichts in den Regalen, kein Rezept für die Wiedergeburt eines toten Kindes.

Deshalb mühte sich ihr Gehirn so verzweifelt, eines zu erfinden, und war dabei an einem Reporter der News hängen geblieben.

Ellen, die erwachsene Frau, die Therapeutin, musste begreifen lernen: ein Reporter war ein Reporter. Und das Höchste, was sie erwarten konnte, war Rehabilitation, war Gerechtigkeit. Was soll nun geschehen? Wie hättest du’s denn gerne?, fragte sich Ellen und konnte ein krankhaftes Kichern nur unterdrücken, weil das Telefon läutete.

»Dennis Chivers, Dr. Stewart«, sagte er. Zuvor hatte es Dennis und Ellen geheißen. »Ich weiß nicht, ob wir mit dieser Story etwas anfangen können.«

Story? »Und warum nicht?«

Er schien seine Worte bewusst langsam zu wählen. »Die Polizei von Eastport besteht hartnäckig darauf, dass Officer Pallas nicht am Tatort war. Pallas selbst sagt, er habe Verständnis für Sie und Ihren Mann, aber – aber er hätte nichts getan und würde allmählich unter den Anschuldigungen leiden. Es gibt keine Aussagen, die Ihre untermauern. Meines Wissens hat nicht einmal Ihr Mann den Vorgang beobachtet.«

»Stimmt, so war es, aber was soll das? Ich bin Profi, Dennis, ich bin glaubwürdig. Zu meinen Patienten gehören prominente Leute. Ich bin Ärztin, ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Sie sind aber auch die Mutter.«

Spontan fielen Ellen gleich mehrere Antworten ein. Am liebsten hätte sie diesen gelassenen jungen Mann angebrüllt. Stattdessen sagte sie: »Ich würde der Sache gerne nachgehen. Kann ich noch mit jemand anderem sprechen?«

»Vielleicht mit meiner Chefin?«

»Ja.«

»Bleiben Sie dran.«

Es klickte ein paar Mal, und dann: »Primo.«

»Hier ist Dr. Ellen Stewart. Mit wem spreche ich?«

»Nora Primo, Chefredakteurin. Sie sind die Mutter des getöteten Kindes.«

»Ja, ich möchte Ihnen erzählen –«

»Frau Doktor, die Sache gibt nichts her. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind gleich null. Die Polizei reißt sich den Arsch auf und findet heiße Luft. Officer Pallas war zum Zeitpunkt des Unfalls nachweislich woanders. Kein Mensch in der Gegend hat irgendetwas gesehen. Ich kann Ihre Anschuldigung nicht drucken, nur weil sie von Ihnen kommt. Es sei denn, ein neuer Stein käme ins Rollen.«

Nach ihrem nächsten Patienten hatte Ellen eine Stunde frei. Sie ging ins Büro der Eastport News und bestand darauf, Nora Primo zu sehen, was nicht weiter schwierig war.

Die Chefredakteurin hatte ein kleines Fensterzimmer mit einer Lavalampe. Auf ihrem Schreibtisch sah es trotz der vielen Arbeit ordentlich aus, alle Papiere waren fein säuberlich übereinander gestapelt. Sie war eine schlanke Frau Anfang sechzig mit großen Füßen und Händen und blickte ihr Gegenüber aus dunkelgrauen Augen unschuldig an, während sie gleichzeitig Informationen sammelte.

Nora Primo war barsch mit ihr umgesprungen, und Ellen fand das durchaus erfrischend. Keine geheuchelten Mitleidsbekundungen, kein Ich-wünschte-ich-könnte-Ihnen-Helfen. Nur nackte Tatsachen.

Ellen setzte sich unaufgefordert. »Ich hatte am Telefon noch mehr zu sagen, als Sie Zeit erübrigen wollten. Die allgemein akzeptierte Ansicht über den Tod meines Kindes ist einseitig. Ein Polizist aus Eastport hat ihn getötet. Auf die Frage von Dennis Chivers, wie hoch ich meinen berechtigten Standpunkt auf einer Zehnerskala einschätzen würde, habe ich zwanzig gesagt. Und dabei bleibe ich auch.«

»Ich weiß, Dennis hat’s mir erzählt.« Primo kippte ihren Stuhl nach hinten. »Aber das reicht nicht aus.«

»Was dann?«

»Beweismaterial. Zeugen, die das Fahrzeug oder den Mann am Tatort gesehen haben. Kein festes Alibi. Polizistengeschwafel. Nachweislich irgendein großer Bockmist aus der Vergangenheit des Officers, besonders wenn er dabei gelogen hat. Und nicht nur eine trauernde Mutter, egal ob sie Ärztin oder Hubschrauberpilotin ist.«

Ellen musterte die Frau, deren zerfurchtes schmales Gesicht weiche Locken einrahmten, ohne jeden Anflug von Grau. Auf ihrem Schreibtisch lagen weder eine teure Füllhaltergarnitur noch andere Chefinsignien herum.

Vielleicht sollte sie Nora Primo fragen, ob auch sie Mutter sei, schoss es ihr impulsiv durch den Kopf, aber dann zügelte sie sich wieder. Das war billig. Sie hasste es, wenn ihr Patienten diese Frage stellten.

Ellen stand auf. »Ich bedauere, dass Sie meine Aussage nicht zitieren. Ich würde gerne behaupten, ich hätte dafür Verständnis, aber ich hab’s nicht. Die Reaktion einer Regionalzeitung, die für alle da ist, auf diese Tragödie hier vor Ort sollte aus mehr bestehen als aus alten Zitaten aus Rosalind-Russel-Filmen.«

»Einverstanden«, sagte Nora, »falls es sich um eine allgemeine Tragödie handelt, bei der die News tatsächlich helfen können. Aber unter diesen Umständen kann ich lediglich eine Story darüber bringen, dass die Suche nach dem Fahrer weitergeht.«

»Aber das wäre Erfindung.«

Nora Primo warf Ellen einen Blick unter ihren Augenbrauen zu. »Das wäre ein Anfang. Wir würden die Story wiederholen, mit ein paar Zitaten von Ihnen und Ihrem Mann über Liam. Wir könnten die Leser bitten, uns alles Wissenswerte mitzuteilen. Auf die Art wurden schon früher Fälle gelöst.«

»Bei diesem hier gibt es nichts mehr zu lösen; es ist alles klar.«

»Nur für Sie.«

»Landrin.«

»Nora Primo hier, Jason. Soeben hat Ellen Stewart mein Büro verlassen.«

»Okay.«

»Sie ist völlig überzeugt, dass Officer Pallas ihr Kind getötet hat.«

»Nora, erzählen Sie mir doch etwas, was ich nicht fünfmal täglich hören muss.«

»Warum ist sie so sicher?«

»Ich geb’s auf.«

Nora verfolgte mit dem Finger eine Blase, die in ihrer Lavalampe nach unten schwebte. Sie mochte es, dass keine Blase der anderen glich. Das Gleiche konnte man auch über Reporter sagen, oder über Polizisten.

Ruhig fuhr Nora fort: »Dr. Stewart besteht darauf, sie hätte gesehen, wie Peter Pallas mit einem Streifenwagen ihren kleinen Jungen überfahren hat und dann abgehauen ist.«

»Nora, das weiß ich doch. Aber Peter beharrt ebenso hartnäckig darauf, er sei nicht da gewesen. Und das bestätigt die Funkzentrale genauso wie das ganze Direktoratsbüro der High-School, vom Rektor angefangen.«

»Und wie steht’s mit dem Streifenwagen? Vielleicht war es jemand anderes in einem anderen Polizeiauto.«

»Himmel, danke für den Einfall. Ich werde der Sache nachgehen.«

»Kein Grund, eingeschnappt zu sein.«

»Also, zum Kuckuck, wenn ich zurzeit auf meinen Schreibtisch schaue, sehe ich kein Holz mehr, weil diese Karte alles zudeckt. Darauf ist jeder Streifenwagen eingezeichnet, wer darin saß, wer ihn bzw. sie gesehen hat, mit genauer Zeit- und Ortsangabe.«

»Und das ist alles abgeklärt?«

»Nicht hundertprozentig. Wir sind noch nicht fertig.«

»Dann gibt es also noch ein paar Löcher.«

»Nora, wie oft soll ich es noch sagen? Da ist nichts. Nichts. Trotzdem bleiben wir weiter dran.«

»Mhm«, sagte Nora.

Schweigen.

Dann fragte Jason: »Was möchten Sie hören?«

Nora grinste. Sie liebte Männer, aber immer wenn man dachte, man hätte ein wirklich kluges Kerlchen vor sich, ergaben sich gewisse Umstände, die einem klarmachten, dass es immer noch keinen Weihnachtsmann gab.

Sie sagte: »Das sagen Männer immer, wenn sie mit ihrer Weisheit am Ende sind. Und dann ist ihr einziger Gedanke nur noch, wie schaffe ich’s, dass sie abhaut und mich in Ruhe lässt.«

Jason lachte. »Sie rütteln mich immer wieder wach.«

»Tatsächlich? Gut. Also, was nun?«

»Ha! Zuerst reißen Sie mir wegen meiner Sätze den Kopf ab, und dann geben Sie sie mir wieder retour.«

»Mit dem Unterschied, dass ich bewusst so vorgehe. Ich gewinne. Rufen Sie mich an, wenn’s was Neues gibt. Und ich werde Sie anrufen, wenn’s bei mir so weit ist.«

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