Читать книгу Vor aller Augen - Molly Katz - Страница 12
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Tag und Nacht hatte sich Ellen gequält, wann und wie sie Pallas konfrontieren sollte. Ein wesentlicher Punkt war dabei gewesen, ob sie es tatsächlich tun sollte, aber das hatte sich inzwischen geändert. Denn die Welt drehte sich weiter, als ob Pallas ihr Kind nicht getötet hätte.
Schließlich ging alles ganz einfach. Ohne Polizeistation, amtliche Eingabe und Mitteilung. Sie fand ihn im Telefonbuch. Beim zweiten Versuch war er daheim.
Das Haus, ein großzügiges, bequemes viktorianisches Gebäude, war in drei Wohnungen aufgeteilt worden. Rings um das Erdgeschoss lief wie bei einem Hotel eine Veranda. Links und rechts neben Begonienschalen standen rote Liegestühle, die aussahen, als wären sie frisch gestrichen. Nach den Briefkästen zu schließen, bewohnte Pallas die Räume in der Mitte. Sie konnte seine Schuhe auf der Treppe hören, als er herunterkam, um sie einzulassen.
Während Patientensitzungen hatte Ellen schon manchmal einen gewissen Röntgeneffekt erlebt, der es ihr erlaubte, die besagte Person völlig zu durchschauen, vorbei an allen Windungen und Stoppzeichen, bis ganz nach unten.
Dieses erwartungsvoll erregte Gefühl hatte sie auch jetzt wieder.
Peter Pallas öffnete die Tür. Die Türschwelle lag höher, aber er hätte sie ohnedies um einiges überragt. Für einen Polizisten trug er ziemlich lange sonnengebleichte Haare. Seine Augen hinter der Nickelbrille zeigten denselben nichts sagenden Ausdruck, den alle seine Kollegen beherrschten. Er sah genauso aus wie damals, als er ihr Kind ermordet hatte, nur dass er damals seine seidigen Haare nach hinten geklatscht hatte. Er trug ausgebleichte Jeans und ein sehr sauberes weißes T-Shirt ohne jede Aufschrift.
Ellen sagte: »Wir kennen uns, ich bin Ellen Stewart. Nur für den Fall, dass sie es abstreiten möchten.« Ihre Stimme vibrierte leicht. Sie war überrascht, denn eigentlich fühlte sie sich ziemlich stark.
Sie fuhr fort: »Ich habe Sie oft vor Gericht gesehen und zweimal als Zeugen erlebt. Sie haben damals den Mann einer meiner Patientinnen verhaftet, der sie aus dem gemeinsamen Haus ausgesperrt hatte – David und Margaret Ransohoff. Im Zusammenhang mit diesem Fall haben wir persönlich und am Telefon miteinander gesprochen.«
»Ich weiß«, meinte Pallas, »ich erinnere mich noch an alles.«
»Also wissen Sie auch, dass ich sehr gut weiß, wer Sie sind. Und dass Sie derjenige sind, der mit seinem Streifenwagen meinen Sohn überfahren hat und dann abgehauen ist und so tut, als wäre nichts geschehen.«
Sie klang nicht weinerlich. Inzwischen hatte ihre Stimme eine gewisse Schärfe. Dies war ihre Therapeutenstimme, die ihr seit dem Diplom zustand und die verkündete, dass sie das Sagen hatte.
Peter Pallas trat zurück und hielt die Tür weit auf. »Wir müssen miteinander reden. Möchten Sie mit hinaufkommen?«
»Ganz gewiss.«
Er ließ Ellen an sich vorbei. Sie stieg vor ihm die Treppe hinauf und betrat ein Wohnzimmer mit einem weichen blassgrauen Teppich und einer tweedbezogenen Klappcouch mit deutlichen Sitzspuren. Die letzten frühabendlichen Sonnenstrahlen färbten die Wände rosa. Aus vier Lautsprechern strömte Musik, ein sanfter Choral von Frauenstimmen. Sie hätte nicht sagen können, was es war.
Er setzte sich in respektvoller Distanz zu ihr hin. »Möchten Sie etwas trinken? Wasser? Tee?«
»Nein.« Sie drehte sich auf dem Sofa um und schaute ihn direkt an. »Ich begreife einfach nicht, wie Sie glauben können, dass Sie unerkannt davonkommen. Ich weiß, was Sie getan haben, und Sie wissen es auch.«
Peter Pallas nahm seine Brille ab. »Sie glauben, ich hätte Ihren kleinen Jungen überfahren?«
»Genau.«
»Nein, Dr. Stewart, das habe ich nicht.«
Ruhig sagte sie: »Ich habe Sie gesehen.«
»Das glauben Sie, aber so war es nicht.« Er beugte sich zu ihr. Seine obersten Haarsträhnen waren fast weiß. Vermutlich hätten Liams Haare in der Sonne dieselbe Farbe angenommen und sich in blassgoldene Strähnen mit einem Hauch von Rot verwandelt.
»Ich weiß, was Sie getan haben«, wiederholte Ellen. »Ich habe Sie gesehen.«
Eine Minute lang saß er ganz still da. »Sie brauchen vielleicht nichts, aber ich schon.« Er stand auf, nahm einen Wasserkessel vom Herd und füllte ihn. Dann holte er aus einem Schrank eine Schachtel Earl Grey und legte ein Säckchen in einen Becher, der wie das T-Shirt weder Aufschrift noch Bilder hatte.
Er setzte sich hin. »Entschuldigung, dass ich freiheraus rede, aber ich weiß mir sonst keinen anderen Weg. Dr. Stewart, da ich keine Kinder habe, kann ich nicht behaupten, ich wüsste Bescheid, aber während meiner fünfzehnjährigen Polizeiarbeit habe ich jede Menge Tragödien erlebt. Der Verlust eines Kindes ist das Qualvollste, was ich mir vorstellen kann. Deshalb versuche ich, nachzufühlen, was Sie gerade durchmachen.
Sie sind Psychiaterin, also sind Sie theoretisch die Expertin und ich der Laie. Allerdings haben mich meine fünfzehn Jahre eine Menge gelehrt – einschließlich der Tatsache, dass trauernde Eltern verrückt sind. Jedes Mal, wenn ich denke, ich hätte schon alles gesehen, tritt das Gegenteil ein. Ich dachte, Sie würden die Geschichte vielleicht fallen lassen, sobald der erste Schock vorbei ist. Deshalb bin ich Ihnen aus dem Weg gegangen. Aber Sie tun’s nicht.«
»Natürlich nicht.«
Der Wasserkessel pfiff, Pallas stand auf und goss ein. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch etwas wollen?«
»Ja. Hören Sie auf, sich mir als netter junger Polizist mit weichem Kern zu präsentieren. Tee? Gütiger Himmel.« Ellen stand auf. »Merken Sie sich: Mich wickeln Sie nicht ein. Mein Kind ist tot, und Sie sind daran schuld. Und egal, welche Geschichte sie zu erfinden versuchen, es wird nicht funktionieren. Ich werde die Polizei aufhetzen, bis man Sie an die Wand stellt. Wie wär’s mit einem Lügendetektortest? Lassen Sie mich raten: Sie sind einverstanden.«
»Ja.«
»Wie schnell?«
»So rasch Sie wollen.«
»In Ordnung.« Sie zog ihre Autoschlüssel aus der Rocktasche. »Wenigstens das haben wir erreicht.«
»Hoffentlich haben wir noch mehr erreicht«, meinte Pallas, hob den Teebeutel heraus und ließ ihn ins Spülbecken fallen. »Wir haben Kontakt aufgenommen. Gemeinsam können wir daran arbeiten, das Schwein zu finden, das tatsächlich Ihren Sohn getötet hat.«
An jenem Abend kochte Ellen. Die gewohnten Tätigkeiten hatten etwas Tröstliches, angefangen vom Einkaufen im Garden Market, einem kleinen Laden in der Nähe des Eastporter Bahnhofs, in dem es Gemüse, Feinkostwaren, schreckliche Bagels und einen wunderbaren Kaffee gab. Normalerweise ging Ellen zwei bis dreimal in der Woche hin, aber seit dem Unfall nicht mehr.
Sie kaufte Putenhackfleisch, Salat, Semmeln und frisch geschnittenes Gemüse aus der Salatbar zum Dämpfen. Es war hart, hier wie eh und je herumzugehen. Liam hatte am meisten die Salatbar bewundert. Beim Bezahlen an der Kasse hatte Deedee Lester immer einen Lutscher oder eine Laugenstange für ihn gehabt.
»Ellen«, sagte Deedee, als Ellen ihren Korb auf die Theke stellte, »schön, Sie zu sehen. Es tut mir so leid.«
»Danke.«
»Ich habe an Sie gedacht.« Deedee hatte mattgraue Augen mit einem dicken blauen Lidstrich, in die Ellen schon so oft geschaut hatte, während sie über den Maispreis und die Kälte- oder Hitzewelle plauderten. Jetzt spiegelte sich darin das ganze Elend, das Ellen verzweifelt unter Kontrolle zu halten suchte.
Deedees Bruder Ken war Polizist in Eastport. Vorher hatte Ellen nicht daran gedacht, aber nun wollte ihr dieser Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Am liebsten hätte sie Deedee über Pallas ein Loch in den Bauch gefragt, aber hinter ihr bildete sich allmählich eine Schlange und Deedee wirkte gestresst.
Es war Kevins erster Arbeitstag. Als er kurz nach sieben heimkam und es nach Essen duftete, lächelte er.
»Das tut dir gut«, meinte er zu Ellen, während er ihr einen Kuss in den Nacken gab.
»Es gibt nur Putenburger.«
»Vor zwei Tagen warst du nicht einmal im Stande, dir die Zähne zu putzen.«
Sie zuckte die Achseln. »Stimmt.«
Sie aßen auf der vorderen Terrasse am kleinen grünen Bistrotisch, mit Blick auf den Strand. Während Ellen den Salat mischte, sagte sie, ohne zu Kevin aufzuschauen: »Ich habe heute mit Peter Pallas gesprochen.«
»Was? Wo?«
»Ich bin zu seiner Wohnung gefahren. Er hat mich hereingebeten. Er –«
»Ellen! Schatz!« Kevin war aufgestanden und zwang sie damit, ihm ins Gesicht zu schauen. »Was soll das? Warum haben wir nicht vorher darüber gesprochen? Wie konntest du nur einfach losgehen und so etwas tun?«
»Kevin, ich musste es tun!«
»Wir hätten die Einzelheiten abklären müssen!«
»Warum? Damit wir uns genau so streiten wie jetzt? Wenigstens habe ich vorher etwas erreicht.«
»Das war gefährlich und gar nicht klug. Du bringst dich in Gefahr. Ein Polizist, der ein Kind anfährt und dann abhaut und alles abstreitet? Was würdest du empfinden, wenn ich hinginge und so einen Kerl konfrontieren würde, ohne mit dir darüber zu reden?«
»Dasselbe wie du. Möchtest du dir wenigstens anhören, was passiert ist?«
Kevin merkte, dass er noch immer seine Gabel in der Hand hielt. Er hatte damit herumgefuchtelt und auf Ellen gedeutet. Beschämt legte er sie weg.
»Erzähl’s mir.«
Ellen setzte sich, Kevin tat es ihr nach. »Pallas mimte ganz den teilnahmsvollen jungen Polizisten, der geduldig erklärt, ich hätte einen Schock erlitten und würde mich irren. Er war damit einverstanden, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen.«
»Tatsächlich? Ellen, das ist ja unglaublich.«
»Eigentlich nicht, denn dazu wird es wahrscheinlich nie kommen. Und das weiß er. Deshalb hat er auch zugestimmt. Aber versuchen können wir es ja.«
»Erzähl weiter, alles, von Anfang an.«
Ellen erzählte, wie sie die Adresse von Pallas herausgefunden und bewusst einen Zeitpunkt gewählt hatte. Sie erklärte die Sache mit dem Tee und das Leugnen.
»Er war ausgezeichnet, das muss ich gestehen. Ich kann verstehen, warum ihm die Leute glauben. Er wirkt so überzeugend.«
»Aber wir doch auch.«
»Ich hoffe es.«
Außer einem Dunkin Donuts und einem teuren Lokal, das nur von Autobahntouristen besucht wurde, hatte in Eastport nichts vierundzwanzig Stunden geöffnet. Es wäre nicht gut für Peter Pallas, wenn man ihn in den frühen Morgenstunden beim beiläufigen Besuch einer der beiden Lokale sähe. Deshalb kochte er sich selbst Kaffee und goss ihn in eine vorgewärmte Thermoskanne.
Eigentlich hätte er in seiner Wohnung bleiben können, was auch durchaus ratsam gewesen wäre, aber manchmal schaffte er das seit dem Unfall einfach nicht. Er brauchte den Biss der Nachtluft. Und falls ihn ein anderer Nachtschwärmer dabei erwischen sollte, wäre seine innere Unruhe kein Schuldbeweis, sondern durchaus glaubhaft.
Inzwischen war es problematisch, gesehen zu werden, denn seit heute hatte er den letzten Rest naiver Hoffnung aufgegeben, die ganze Sache würde nicht auffliegen. Daran war die Konfrontation mit Ellen schuld. Sie gehörte zu jener Sorte Mensch, die man sich bei einem Krieg besser nicht auf der gegnerischen Seite wünschte.
Er sperrte seinen Subaru auf, setzte sich hinein und zog leise die Tür zu. Vorsichtig stellte er die Thermoskanne in den Getränkehalter und drehte die Scheibenwischer an, um die Windschutzscheibe vom Tau zu befreien, ehe er kurz die Heizung einschaltete.
Er fuhr nach Norden, Richtung Mayfield, und nahm die Savon Point Road, die schließlich in der Nähe des Saugatuck zu einem kleinen kiefernbestandenen Picknickplatz führte. Nachdem er in der Sackgasse geparkt hatte, trug er seine Thermoskanne zu einem Tisch.
Die Tischplatte war abgeblättert und rissig. Vielleicht würde die Stadtverwaltung sie nach Saisonende frisch versiegeln lassen, vielleicht auch nicht. Die öffentliche Hand von Mayfield ließ sich in nichts mit der von Eastport vergleichen.
Peter schraubte die Thermoskanne auf und trank einen Schluck Kaffee. Er war knallheiß, so wie er ihn mochte. Der Dampf streichelte sein Gesicht.
Sie hatte sogar sein Spiel mit dem Lügendetektortest ausgereizt, aber dem würde er sich nie unterziehen müssen, das würde sie noch früh genug herausfinden. Außerdem hatte er sich schon immer insgeheim überlegt, ob er so eine Maschine nicht doch austricksen könnte. Unter weniger schrecklichen Umständen hätte ihm ein Versuch vielleicht sogar Spaß gemacht.
Allmählich konnte er die Tannenmeisen in den Bäumen rascheln hören, dann ertönten die ersten Piepser. Bald wäre das Vogelkonzert komplett.
Er trank noch etwas Kaffee, direkt aus der Thermoskanne. Jedes Umgießen hätte ihn vielleicht abgekühlt.
Verdammt noch mal, für irgendetwas musste er sich entscheiden.
»Aber«, meinte Ellen, »er hat doch zugestimmt.«
»Das spielt keine Rolle. Himmel, Ellen, Sie kennen doch das Gesetz gut genug«, sagte Jason. »Ein Lügendetektortest ist keine Urinanalyse. Und sogar die sind inzwischen ziemlich streng. Das würde ihm sein Anwalt nie gestatten. Außerdem muss ich Ihnen doch wohl nicht erzählen, dass so etwas nicht zulässig ist.«
Ellen stieß die Luft aus. Obwohl sie erst kommenden Montag wieder Termine hatte, war sie in ihrer Praxis. Sie brauchte einfach dieses Gefühl, das sich in ihrer Praxis wie Zauberstaub über sie legte. Nur so konnte sie mit nachdrücklicher Stimme telefonieren, ohne wie ein weinerliches Kind zu klingen, das nicht bekommt, was es will.
Jason räusperte sich, wobei er den Hörer wegstreckte. Dann sagte er: »Gut, Ellen, doch nun zur Sache. Wie kamen Sie dazu, mit Peter zu sprechen?«
»Ich bin zu seiner Wohnung gegangen.«
»Scheiße.«
»Jason, verraten Sie mir, dass ich das nicht tun kann. Verraten Sie mir, ob es dagegen ein Gesetz gibt.«
»Ellen, was würden Sie sagen, wenn eine Ihrer Patientinnen vor jeder gesetzlichen Maßnahme ihren mutmaßlich gewalttätigen Mann zu einer Konfrontation in seiner häuslichen Umgebung aufsuchen würde?«
»Jason, dieses Spiel mit dem Was-wäre-Wenn beherrschen Sie sehr gut. Aber in diesem Fall ist weder ein Verdacht noch eine legale Maßnahme in Sicht, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Und genau hier versuche ich anzusetzen.«