Читать книгу Müllers Morde - Monika Geier - Страница 35
Etwa sieben
ОглавлениеDas Entsetzen machte aus Frau Zangerles Mund ein großes, schreckliches O. Sie hielt den Hörer ihres Telefons in der Hand, doch die Hand war herabgesunken und die ganze Person sah klein und runzlig aus und furchtbar ängstlich dazu. Müller nahm ihr sanft den Hörer aus der Hand und horchte: Da war nur das Freizeichen. Gut. »Frau Zangerle«, sagte er, und legte ihr den Arm schwer um die Schulter, »wo ist denn das Wohnzimmer?«
Stumm wies sie auf eine Tür.
»Sie haben doch sicher eine Couch?«
Zangerle nickte. Er sah, dass sie weinte. Tränen liefen über ihre faltigen Wangen, er sah kleine weiche Härchen darauf, wie bei einem Kind, und Altersflecken, darüber dünnes weißes Haar in ordentlichen Wellen, wie nur noch ganz alte Frauen sie trugen. Es war ein schwerer Gang. Er wollte nicht wissen, wie alt sie war. Sie schluchzte unterdrückt, sehr unterdrückt, irgendwie war es fast schade, dass der Zweieinhalbmeter-Enkel nicht kam. Doch niemand hielt sie auf. Der Weg war frei für Müller zu tun, was er tun musste. Da war die Couch. Es war ein antikes, fest gepolstertes Rosshaarsofa mit grünem Chenillebezug, nicht sehr bequem, dachte Müller, nicht so authentisch wie der Küchentisch, aber eine Alternative gab es nicht. »Bitte setzen Sie sich«, sagte er ernst, und Frau Zangerle setzte sich, den Blick gesenkt, die Knie fest zusammengepresst.
»Liegen Sie denn manchmal hier auf der Couch?«, fragte Müller, und sie schüttelte trotzig den Kopf, machte aber eine unwillkürliche Bewegung hin zu der Decke, die gefaltet auf einer Armlehne lag.
»Doch, tun Sie«, sagte Müller, »und Sie gucken von hier aus fern.«
Zangerle hob den Blick zum Fernseher in der Ecke und nickte stockend. Neue Tränen liefen über ihre Wangen. Müller war nahe dran, sie anzuschreien, denn sie zwang ihn auf die falsche Seite, das hier war nicht richtig, diese alte Frau verlangte ihm etwas ab, das er nie getan hätte im wirklichen Leben. »Jetzt«, sagte er rau, »ziehen Sie die Schuhe aus.«
Sie streifte ihre Pantoffeln ab.
»Und legen sich hin.«
Da schaute sie auf, ihr heftiger Blick sprang ihm ins Gesicht, er schrak zurück; sie erschrak selbst und schniefte und fasste sich und sagte so nüchtern sie konnte: »Der Zugang ist auf dem Speicher, ich zeig es Ihnen, wenn Sie wollen.«
Müller starrte sie an und etwas Warmes fiel auf seine Hand, er wischte es weg. »Bitte legen Sie sich hin«, flüsterte er.
»Es ist kein Problem für mich, ich schaffe die Treppe noch ganz gut«, sagte Frau Zangerle tapfer.
»Vielen Dank«, sagte Müller, »ich werde es finden.«
»Besser ich komme mit«, sagte Frau Zangerle. »Der Aufgang ist versteckt.«
»LEG DICH HIN!«, schrie Müller, was er sofort bereute, denn Zangerle schlotterte nun am ganzen Körper und sah ihn an, als sei er ein Monster. »Frau Zangerle, bitte legen Sie sich hin«, sagte er in wieder einigermaßen gemäßigtem Ton.
Sie konnte sich kaum bewegen, so sehr bebte die alte Frau, doch schließlich schaffte sie es, sich hinzulegen. »Sie wollen mich töten!«, stieß sie dann von irgendeiner neuen Energie beseelt hervor und richtete sich wieder auf.
»Nein«, sagte Müller. »Ich will nur auf den Speicher.«
»Warum?«
Er zuckte die Achseln. Neben der Decke lag ein großes Kissen. »Passen Sie auf«, brachte er hervor und hasste sich, weil er schniefen musste, »ich tue Ihnen nichts, ehrlich. Sie legen sich jetzt einfach mal kurz hin und ruhen sich aus. Dieser Anfall da eben, der war ja –«, er mied ihren Blick, »erschreckend. Sie müssen sich erholen. Ich gehe in der Zwischenzeit kurz auf den Speicher –«
»Hören Sie auf«, sagte die Alte müde, »wissen Sie was, ich wollte immer in Würde sterben. In Würde, und nicht allein. Davor hatte ich große Angst. Ich danke dir, Gott«, diese Worte waren nicht mehr an Müller gerichtet, »dass du mich immer gehalten und getragen hast und dass mein Leben so schön war. Für diesen jungen Mann hier danke ich dir nicht, aber immerhin muss ich nicht allein gehen.« Sie richtete ihre Augen wieder auf ihn. »Sie werden Ihr Leben lang an mich denken«, verfluchte sie ihn mit klarer Stimme, und Müller wusste, dass diese Bürde in der Tat eine schwere war. »Ich habe zum Glück nur kurz mit Ihnen zu tun, Sie aber werden mich mit sich herumschleppen an jedem schönen Tag, der Ihnen bleibt.«
Müller senkte den Kopf und nahm das Kissen.
»Und ich bin schwierig«, sagte die alte Dame und kicherte fiebrig. »Das mit der Würde zum Beispiel, ich wusste immer, das krieg ich nicht hin.«
Oh doch, dachte Müller höchst aufrichtig und sah sie an und sah in blitzende, lebendige Augen, und etwas Warmes, Schleimiges landete in seinem Gesicht. Spontan würgte er: Sie hatte ihn angespuckt. Da drückte er sie endlich in die Ecke ihrer Couch, sie wehrte sich, doch herzzerreißend schwach. Er hielt ihr einfach das Kissen aufs Gesicht und presste ihren Kopf tief in die Rosshaarpolster. Diesmal musste sie wirklich sterben.
* * *
Richard kehrte mit einer Auswahl an Klinken zurück, die er im Haus gesammelt hatte, drei Stück: Eine hatte auf einer Heizung gelegen, die beiden anderen stammten aus einer Tür. Auf gut Glück steckte er eine von ihnen in das passende Loch, drückte, drückte fester, drehte am Schlüssel, prüfte noch mal, ob wirklich keine Scharniere da waren, da waren wirklich keine, also waren sie auf der anderen Seite, und die Tür musste gedrückt werden, also drückte er – und sie ging auf. Dann stand er in einem Raum, der gleichzeitig überraschend und enttäuschend war. Das Überraschende an ihm war seine Größe. Dieser Trockenboden sah nicht nur weitläufig aus, er war tatsächlich riesig. Er musste die ganze Länge der Häusergruppe einnehmen, klar: Das war ein gemeinsamer Boden, damit konnte man viel mehr anfangen, lange Wäscheleinen aufspannen, Luft zirkulieren lassen, und vielleicht hatten die Hausmädchen sich hier auf ein Zigarettchen getroffen, wenn sie Feierabend hatten. Ein schöner, dunkler Raum. Trotzdem war Richard enttäuscht von seiner Entdeckung, denn dieser ganze großartige dämmrige Boden schien völlig leer zu sein. Ein paar alte Drähte hingen tatsächlich als Wäscheleinen zwischen den Kehlbalken des Dachstuhls, vier kleine Dachfenster spendeten Licht, so dass man sich umsehen konnte, doch zu sehen war da nichts. Nur altes Holz und die Rückseite der Dachziegel und vier gemauerte kleine Kabuffs mit Türen, die allesamt aussahen, als würden sie nie, niemals geöffnet. Eine davon war sogar mit Brettern vernagelt. Es gab keine alten Truhen, keine Abseiten, nicht einmal eine Dämmung, hinter die man irgendetwas Kostbares hätte stopfen können. Der Raum war einfach leer. Richard suchte noch ein wenig und fand in einer Ecke ein altes Handtuch mit einer gruselig vermoderten Babypuppe darin, dann gab er auf. Er ging zurück in Steenbergens Rosenkabuff, schloss die Tür hinter sich, ließ Schlüssel und Klinke für die Nachwelt stecken, drückte sich wieder an den nicht umfassend untersuchten Papierstapeln vorbei und setzte sich im Wohnzimmer auf die Ledercouch. Es war schon Abend, und er hatte nichts erreicht. Jedes einzelne seiner hundert Kilos drückte ihn schwer auf das kühle Leder. Von draußen hämmerte Regen gegen das Glasdach des Wintergartens. Richard seufzte. Er traute Steenbergen nicht zu, ermordet worden zu sein. An dem Typen war doch kaum was dran, der war nur brillant in seinem Fach gewesen, und vielleicht noch in Einrichtungsfragen, aber ebenso gut konnte es sein, dass hier eine typische Junggesellennotmöblierung zufällig in ein Haus geraten war, dem gerade das hervorragend stand. Und sonst? Der Nachlass enthielt keine Sportutensilien, keine Filmsammlung, keine Spur eines Zeitungsabonnements, keine nennenswerte Bibliothek. Wahrscheinlich hatte Steenbergen nicht mal eine Meinung besessen. Was sollte er da ausrichten? Phil-Collins-Alben auf satanische Botschaften abhören? Sich ins konservative Umweltmanagement einarbeiten? Steenbergens unverständliche Doktorarbeiten entschlüsseln? Richard gähnte. Das Geräusch der fallenden Tropfen auf den Fenstern machte ihn schläfrig. Es war düster im Raum. Steenbergens Couch war erstaunlich bequem. Wenn man das blöde Leder erst einmal warm gesessen hatte, mochte man gar nicht mehr aufstehen. Richard schloss die Augen. Er war hungrig. Er würde jetzt heimfahren, sich eine große Portion ökologisch nicht korrekt angebauter Ofenpommes reinziehen und abends Dr. House gucken. Hier gab es nichts zu holen, und zu Hause hörte man die Schritte der Nachbarn im Stockwerk darüber zwar viel lauter, aber es war warm und es –
Richard war plötzlich hellwach.
Schritte!
Er lauschte angestrengt. Er saß reglos. Er schloss die Augen, um besser zu hören. Er atmete kaum.
Das Geräusch wiederholte sich nicht.
Nach einer endlosen Weile, in der es nur einfach immer weiter geregnet hatte, stand Richard auf. Da war etwas gewesen, nicht nur ein Geräusch, sondern eine charakteristische Abfolge, ein: Laufen. Es mochte eine Täuschung gewesen sein oder ein Tier, aber er musste dem nachgehen.
So lautlos das auf dem alten Parkett möglich war, schlich Richard zum Treppenhaus. Das Geräusch war von oben gekommen. Jemand war im Haus. Jemand, der vermutlich nicht ahnte, dass er Gesellschaft hatte, denn von außen konnte niemand sehen, dass Richard sich im Haus aufhielt, die Lichter waren aus, und es stand kein Auto draußen. Langsam bewegte er sich auf die Treppe zu. Eine Waffe. Sollte er nicht eine Waffe haben? Da hörte er es wieder, diesmal deutlicher: Schritte. Schwere Schritte. Ein Klopfen. Und es kam bestimmt nicht aus dem ersten Stock, dazu war es zu leise. Die Schritte und das Klopfen mussten von ganz oben, vom Dachboden kommen.
* * *