Читать книгу Müllers Morde - Monika Geier - Страница 36
19.10 Uhr
ОглавлениеEr stand in Steenbergens Haus. So leicht war das gewesen: einfach nur in der Nachbarschaft klingeln und auf den Speicher marschieren. So furchtbar leicht. Müller schluckte und schritt Steenbergens Speicherteil ab. Er hatte einen Lichtschalter gefunden, ein altes Drehding, und nun betrachtete er alles ganz genau im Licht einer funzligen Glühbirne. 17c besaß einen Zugang zum großen Gemeinschaftsboden, eine hölzerne Tür. Müller klopfte ihren Rahmen ab und begutachtete das Schlüsselloch. Soweit er das sehen konnte, steckte der Schlüssel auf der anderen Seite. Und der Spalt unter der Tür war recht breit. Mit etwas Glück würde der alte Trick mit der Zeitung und dem herausgestoßenen Schlüssel hier funktionieren. Wenn nicht, würde sich ein anderes Hilfsmittel zum Öffnen finden. Müller sah sich um: Natürlich war weit und breit keine Zeitung auf dem Speicher, auch in seiner Werkzeugtasche nicht. Aber die gute alte Frau Zangerle, die würde eine haben. Müller zögerte ein wenig. Er ging nicht gern wieder runter in ihre Wohnstube. Doch er brauchte die Zeitung. Er musste.
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Richard betrat die kleine Kammer und abermals überwältigte ihn der Eindruck von Enge. Er holte tief Luft, um die Beklemmung abzuschütteln, dann stand er und lauschte. Da war nichts. Nur der Regen tropfte gleichmäßig auf das blinde Glas des Dachfensters und färbte sich blutrot im Widerschein der schrecklichen Tapete. War da wirklich jemand auf der anderen Seite? Und wenn ja, war das so ungewöhnlich? Schließlich konnten alle Nachbarn jederzeit auf den alten Trockenboden gehen, sich dort treffen und Schwätzchen halten. Doch Richard glaubte das nicht. Der Boden hatte verlassen ausgesehen, seit Jahrzehnten ungenutzt. Er dachte an die vermoderte Puppe und an die mit Brettern vernagelte Tür. Und war da nicht ein gespanntes Lauschen von jenseits der Wände?
Wenn man wusste, wie unheimlich groß der Raum auf der anderen Seite war, dann gewannen die Rosenranken der Tapete tatsächlich eine neue Qualität, eine Art perverse Schutzfunktion. Das Mädchen, das einst in diesem Zimmer leben musste, hatte sich vor dem riesigen dunklen Speicher gefürchtet, kein Zweifel. Denn dort auf dem Speicher mochte alles Mögliche herumspuken, dort konnten die Hausherren aus der Nachbarschaft erscheinen und Einlass erzwingen, von dort aus konnte man belagert, belauert und belauscht werden. Und vielleicht geschah das sogar gerade jetzt. Vielleicht presste in diesem Moment jemand sein Ohr gegen die Tür, vielleicht an genau der Stelle, wo Richard nun seins gegen die Tür presste, natürlich von der anderen Seite. Vage dachte Richard daran, dass er kürzlich gelesen hatte, Ohrabdrücke seien ebenso individuell wie die Fingerabdrücke eines Menschen, dann meinte er, ganz in der Nähe Schritte zu hören. Tatsächlich. Er war fast erleichtert. Solide, feste Schritte. Nichts Geisterhaftes. Sie kamen näher. Sie waren da.
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