Читать книгу Hexenherz. Eisiger Zorn - Monika Loerchner - Страница 10

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Kapitel 3

Missmutig schaue ich auf. Ich bin gerade dabei gewesen, mir eine Karte der westlichen Region des Großen Moldawischen Reiches einzuprägen, als jemand meinen Namen gerufen und mich aus meiner Konzentration gerissen hat. Ich bin sowieso in gereizter Stimmung: Da die Woche meiner Magieerneuerung begonnen hat, kann ich nicht mit auf Patrouille gehen. Nicht mal so einfache Dinge wie Schutzzauber über Uniformen sprechen oder Heiltränke zubereiten ist mir möglich. Wie ich es hasse, hier untätig herumzusitzen, während meine Schwestern ihr Leben riskieren! Aber so ist es nun mal und den anderen Frauen geht es nicht anders: In dieser Zeit ohne Magie wäre ich den aufständischen Männern mit ihren Waffen schutzlos ausgeliefert oder schlimmer noch, würde die anderen Frauen der Garde in Gefahr bringen. Also verbringe ich meine Abende in dem Einzelzelt, das mir als Gardenzweite zusteht, und vertreibe mir die Zeit mit dem Studieren von Landkarten. Tagsüber drille ich junge Anwärterinnen im körperlichen Kampf. So kann ich wenigstens einen kleinen Beitrag leisten, während sich meine Magie erneuert.

„Herein“, rufe ich unwillig. Die Zeltplane wird auseinander geschoben und herein tritt Richard, Rickie, mein kleiner Bruder. Überrascht schaue ich ihn an. „Was willst du denn hier?“

„Welch warmherzige Begrüßung, Schwesterchen“, grummelt er gutmütig und schenkt mir sein schiefes Lächeln. „Willst du mich denn nicht umarmen?“

Er schließt die Tür und kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ich zucke mit den Schultern, stehe auf und lasse es zu, dass er mich an sich drückt. Ich fühle mich seltsam spröde dabei. Zärtliche Gefühlsbekundungen sind nicht mein Ding. Ich bewege mich keinen Millimeter, lasse die Berührung nur kurz zu und winde mich dann heraus.

Erleichtert lasse ich mich wieder auf den Boden sinken. Mit einer Geste fordere ich Richard auf, es mir gleich zu tun. Als Tisch dient mir eine kleine Truhe mit Platz für meine persönlichen Sachen: Uniform, Notfallwaffen, falls es während meiner Tage der Erneuerung zu einem Angriff kommt, ein paar Heiltränke. Jede hohe Gardistin hat solch eine Truhe in ihrem Zelt, die einfachen Kriegerinnen müssen sich mit einem Rucksack und Zweier- oder Viererzelten zufrieden geben. In einer Ecke liegt meine Schlafdecke, in der anderen ist eine kleine Feuerstelle, das war’s. Richard scheint sich ähnliche Gedanken zu machen: Er sieht sich in meiner schlichten Behausung um und verzieht das Gesicht.

„Himmel, ein bisschen mehr Luxus hatte ich schon erwartet!“, lächelt er und setzt sich mir gegenüber auf den Zeltboden.

Ich zucke mit den Schultern. Irgendetwas an der Art, wie er das sagt, geht mir auf die Nerven.

„Was denn? Dachtest du, dass die Frauen, die das Reich und auch all die ach so armen Männer beschützen, es sich hier gut gehen lassen und ein Leben in Luxus führen?“, fauche ich. Richard zuckt zusammen. Kein guter Start. Vor allem wenn man bedenkt, dass wir uns seit vier Jahren nicht mehr gesehen haben. Mir war allerdings noch nie groß daran gelegen, über Belanglosigkeiten zu plaudern, lieber komme ich direkt zur Sache.

„Was willst du hier?“

„Du hast dich kein bisschen verändert“, seufzt Richard und mustert mich aus seinen dunklen, schönen Augen.

„Warum sollte ich auch?“

Ich habe nicht vor, mich vor meinem kleinen Bruder für irgendwas zu rechtfertigen. Und, es tut fast weh es zuzugeben, seine Worte verletzen mich; in allem, was er sagt, klingt ein Vorwurf durch.

Richard schüttelt den Kopf, schließt für einen Moment die Augen, holt tief Luft. Atmet bedächtig wieder aus. Als er die Augen wieder öffnet, ist sein Blick mild.

„Ich bin kaum eine Minute hier und schon fangen wir an zu streiten“, sagt er leise. „Dabei freue ich mich so, dich endlich wiederzusehen, Schwesterchen! Zu viel Zeit ist vergangen, seit du das letzte Mal Heimaturlaub hattest!“

Sofort fühle ich mich wieder in die Defensive gedrängt: „Die Moldawier lassen mir kaum eine andere Wahl. Du weißt, wie es aussieht. Auch das aufständische Gesocks auf unserer Seite der Grenze ist lange nicht so friedlich, wie du und deinesgleichen vielleicht gerne glauben würdet.“

Wütend zeige ich auf die Landkarte, die ich auf den Tisch gelegt habe.

„Das große Moldawische Reich breitet sich immer weiter aus und wird uns gegenüber nicht mehr lange so friedlich bleiben. Und auch auf unserer Seite sieht es nicht so gut aus, wie du vielleicht denken magst: Die Rebellen versuchen immer öfter, verbotene Technik ins Land zu schmuggeln. Da stecken natürlich Regierungen hinter und wenn sie’s noch so leugnen! Wir sind vielen Ländern ein Dorn im Auge; sie beliefern unsere Aufständler und hoffen so, uns von innen heraus zu schwächen, und genau das dürfen wir nicht zulassen! Du siehst also, lieber Bruder, ich habe eine ganze Menge zu tun, um den Frieden zu sichern. Um das Land zu beschützen. Und auch dich und all die Männer, die sich beschweren, wie schwer sie es doch haben. Ich …“

„Helena!“

Richard steht auf, kommt auf mich zu und hockt sich direkt vor mich. Er schaut mir fest in die Augen und legt seine Hände auf meine Schultern. Ich unterdrücke das Verlangen, sie wegzuschlagen.

„Helena“, wiederholt er. „Was ist nur los mit dir?“

„Mit mir?“

„Mit uns, was weiß ich denn?“ Richard schaut zu Boden, lässt seine Hände aber auf meinen Schultern.

„Helena, hör dich doch mal reden! Du redest zu mir von ‚dir und deinesgleichen‘! Du bist meine Schwester, meine Familie! Was ist nur aus dir geworden?“

Das muss ich mir nicht länger anhören. Wütend schüttele seine Arme ab und springe auf.

„Was mit mir passiert ist? Das fragst du noch?“

„Lena“, sagt Richard leise, „wie lange ist das jetzt her mit Amelie?“

„Was meinst du?“, zische ich. „Von welchem ihrer Tode sprichst du?“

„Ich meine ihren Freitod“, murmelt Richard und senkt die Augen.

„Acht Jahre“, sage ich kalt. „Vor zwölf Jahren und einem Monat, am 08.08.2004, haben ihr Schultes Männer alles genommen, was ihr Leben lebenswert gemacht hat. Und vor acht Jahren, drei Wochen und sechs Tagen hat sie sich das Leben genommen, am 09.08.2008, es war ein Samstag. Und? Willst du mir auch dafür die Schuld geben?“

Richard erbleicht und schüttelt den Kopf.

„Was redest du denn da? Das habe ich nie gesagt, nie sagen wollen. Aber …“

„Aber was?“

„Du musst doch zugeben, dass etwas … falsch läuft, völlig verkehrt. Wenn sich eine Frau von 21 Jahren das Leben nimmt, nur weil sie nie wieder Magie anwenden oder Kinder bekommen kann. Mensch, da läuft doch was vollkommen falsch im System! Dass eine Frau anders keine Anerkennung mehr bekommen kann, als Mensch, der sie ist, und nur noch diesen Ausweg sieht …“

„Ach, also ist es ihre eigene Schuld? Willst du das damit sagen, ja? Dass sie nicht stark genug war? Nach allem, was sie ertragen musste, nach allem, was die ihr angetan haben?“ Ich grabe die Fingernägel tief in das Fleisch meiner geballten Fäuste. Trotz all meiner Wut, die sich wie ein roter Schleier über mich legt, bin ich plötzlich froh, meine magieerneuernde Zeit zu haben: Wäre Richard eine Woche später gekommen, er hätte seine Dreistigkeit vielleicht mit dem Leben bezahlt. Es wäre nicht das erste Mal, dass meine Magie in einem Moment der Wut aus mir herausfließt. Meine Magie ist aus Eis und Eis ist ein sehr schmerzhafter Tod.

„Helena, Helena!“ Richard brüllt jetzt, steht ebenfalls auf.

„Nein Helena, hör mir doch mal zu! Es muss doch einen Weg geben“, seine Stimme klingt mühsam beherrscht, als er sie wieder auf normale Lautstärke senkt, „wie wir alle zusammenleben können: Menschen mit Magie und ohne. Frauen und solche, die unfruchtbar sind und keine Magie in sich tragen. Großmütter. Und … Männer.“

Ich atme hektisch ein und aus, dieses Gerede habe ich schon zu oft gehört. Ich will es nicht hören, will gleichzeitig schreien und mir die Ohren zuhalten. Doch ich tue nichts von beidem, sondern stehe wie erstarrt da und lasse zu, dass Richard seine Worte wie giftige Pfeile auf mich abfeuert.

„Es muss doch eine Möglichkeit geben, wie alle Menschen, Männer und Frauen, gleichberechtigt und in Frieden miteinander leben können!“

„Ach ja?“ Ich lache laut auf.

„Meinst du etwa so wie in all den Jahrhunderten, als die Männer die Frauen unterdrückt haben?“

„Nein.“ Richard schüttelt energisch den Kopf.

„So meine ich das nicht und das weißt du. Mensch Helena, denk doch mal nach: Du denkst, du würdest als Frau zu einer Mehrheit gehören, aber das stimmt nicht! Wie lange habt ihr Magie? 30, 35 Jahre, wenn es hochkommt? Das ist eine Minderheit, zu der du gehörst. Meine Güte“, er lacht bitter auf, „viele dieser sogenannten Frauen sind noch 11, 12 Jahre alte Kinder, überleg doch mal! Gleichzeitig fällt die Zahl der Geburten mit jedem Jahr weiter … Es ist eine Minderheit, die uns regiert und bestimmt. Und was willst du machen, wenn du selbst Großmutter bist, hm? Der Tag ist nicht so fern, wie du vielleicht denken magst. Das kann doch alles nicht sein, es muss doch möglich sein, das besser zu machen! Ich meine eine Gesellschaft, in der jeder Mensch die gleichen Rechte hat, egal ob Mann oder Frau oder Nicht-Frau oder Großmutter. Es muss einen Frieden zwischen uns geben können! Das ganze System ist doch falsch, siehst du das nicht? Es ist allerhöchste Zeit, etwas zu ändern, eine Gesellschaft aufzubauen, die …“

„Richard!“, unterbreche ich ihn erschrocken. „Richard, was redest du denn da?“

Ich spüre förmlich, dass ich erblasse. Meine Brust zieht sich zusammen und schnürt mir die Luft ab. Unwillkürlich fasse ich mir an die Kehle, in meinen Ohren rauscht es.

„Richard“, wiederhole ich mühsam beherrscht und kann kaum verhindern, dass meine Stimme zittert. „Du redest wie … du hörst dich an, wie ein …“

Ich kann es nicht aussprechen, so sehr fürchte ich, Richard würde meinen Verdacht bestätigen und somit zur furchtbaren Wahrheit machen. Ich will es nicht hören, doch Richard kennt keine Gnade. Vollkommen ruhig sieht er mich an.

„Ja. Ich werde mich den Rebellen anschließen. Darum bin ich hergekommen. Dies ist vielleicht das letzte Mal, dass wir uns sehen werden, Schwester.“

Atmen. Ich stehe da und kann nichts weiter tun, als zu versuchen weiterzuatmen. Richard. Mein Bruder! Der mit ein paar wenigen Worten alles zerstört, was je zwischen uns gewesen ist. Alles in mir schreit, will ausbrechen, wüten und toben. Unsichtbare Fäuste trommeln von innen gegen mein Herz, drohen es zu zerreißen. Mein eigener Bruder.

„Rickie!“ Verzweifelter Aufschrei.

„Lena.“ Resigniert.

Ich schlucke. Tränen laufen mir über die Wangen. Ich wische sie weg. Erinnere mich daran, wer ich bin.

„Richard“, wiederhole ich und obwohl nicht ich der Verräter bin, ist mir, als würde mein Herz zerspringen. „Du weißt, dass uns das zu Feinden macht?“

Der Blick, den mein Bruder mir zuwirft, werde ich meinen Lebtag nicht vergessen.

Richard dreht sich um und geht.

Ich lasse mich zu Boden sinken und weine, bis mein Herz zu Eis gefriert. Rickie, mein kleiner Bruder, dem ich vor so langer Zeit und in einem anderen Leben das Bäuchlein gekitzelt habe, bis er vor lauter Lachen umgeplumpst ist. Den ich geliebt habe, wie niemanden sonst. Jetzt ist er mein Feind.

Am nächsten Tag erwache ich mit grauenvollen Kopf- und Unterleibsschmerzen. Mürrisch stehe ich auf, öffne die Tür und hole den Eimer Waschwasser herein, den mir eine der Anwärterinnen jeden Morgen zu bringen hat. Ich stelle den Eimer auf die Truhe und tauche meinen Kopf komplett hinein. Der Schock, den das eiskalte Wasser verursacht, verschafft mir sofort wieder einen klaren Kopf. Der Auftritt meines Bruders am gestrigen Abend erscheint mir nun nicht mehr wie der Weltuntergang, sondern nur noch wie ein lästiger, aber letztendlich unbedeutender Besuch aus der Vergangenheit. Ich ziehe mich aus und wasche mich gründlich. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen mag ich die Kälte, sodass es mir nichts ausmacht, mich mit dem eisigen Wasser zu waschen. Ich trockne mich ab, schlüpfe in Uniform, Stiefel und Mantel und stelle den Eimer beiseite. Dann wühle ich mir aus der Truhe einen Heiltrank gegen den Kopfschmerz heraus. Meine Laune ist auch so schon schlecht genug. Sehnsüchtig denke ich an den Tag, an dem meine Magie endlich wieder erneuert sein wird. Die Untätigkeit, dazu verbunden mit Unterleibskrämpfen, zerrt an meinen Nerven.

Meine Beschwerden sind angeboren. Ich habe mich bereits drei Mal in einem Frauenkrankenhaus deswegen behandeln lassen, doch irgendwann setzen sich meine Gene dummerweise immer wieder durch. Und die passenden Heiltränke lähmen meine Magie zu sehr, als dass ich es wage, sie regelmäßig einzunehmen. Aber gegen den Kopfschmerz kann ich etwas tun, immerhin etwas. Ich schlucke die Medizin und muss grinsen. Jahrhundertelang haben die Menschen das Gebiet der Medizin erkundet: Die klügsten Frauen studierten sie und sogar Männer haben in der Vergangenheit die eine oder andere Entdeckung gemacht. Die mit Sicherheit ältesten Schmerzen der Welt – die Strapazen einer Geburt und der Schmerz während der Erneuerung – hat dagegen noch niemand dauerhaft bekämpfen können. Es scheint fast so, als würde eine höhere Macht wollen, dass Frauen dies zu erdulden haben …

Ich schüttele den Kopf über meine eigenen Gedanken. Lächerlich. Was sollte es Götter kümmern, ob wir eine Woche im Monat unpässlich sind oder nicht? Vor langer, langer Zeit, so habe ich es einst im Geschichtsunterricht gelernt, hatte es einen Glauben gegeben, der genau dies gesagt hat: Er stammte aus dem Zeitalter der patriarchischen Religionen und seine Anhänger beteten einen Gott an, der Frauen für ihre angeblichen Sünden mit eben jenen Schmerzen bestrafen wollte. Was für ein Humbug! Welcher vernünftige Gott würde einen Teil der Menschheit zu Frauen machen, nur um sie dann dafür zu bestrafen? Und wie kann ein Gott den Menschen ernsthaft weismachen wollen, dass durch die Frauen alles Schlechte in die Welt gekommen ist? Egal, es ist einerlei. Und die dazu gehörige Religion ist schon vor langer Zeit untergegangen, ist nicht mehr als eine weitere kleine Fußnote in der Geschichte der Menschheit.

Ich verlasse mein Zelt und gehe zu dem in der Mitte des Lagers, in dem die Gefangenen auf mich warten.

Die drei Menschen, die ich gleich vernehmen werde, wurden gestern in den Wäldern nahe der Grenze von unserer Patrouille aufgegriffen: Eine Frau mit ihrem Mann und ihrem Kind, einem Jungen von etwa zehn Jahren. Sie hatten sich als Flüchtlinge ausgegeben, die dem Hunger und der Not im Großen Moldawischen Reich entkommen wollten, aber ich glaube ihnen das natürlich nicht so ohne Weiteres. Sicher, sie sehen abgemagert und verhärmt aus. Doch ich habe bereits einen Blick in die Augen der Frau namens Ada werfen können und das gierige Funkeln darin gesehen. Ich weiß, was sie will.

Ich verhöre sie zuerst. Jetzt, da Ada von ihrem Mann getrennt befragt wird, macht sie keinen Hehl mehr aus dem Grund ihrer Flucht.

„Ich habe Dinge erhört“, beginnt sie mit aufgeregter Stimme, „von Dinge, die bei uns nicht gibt!“

Ihr Deutsch ist nicht besonders gut, aber da ich in meinem derzeitigen Zustand nicht mit Hilfe meiner Magie ins Slawische wechseln kann, muss es auch so gehen. Nihan, eine Gardistin und langjährige Freundin von mir, hebt die Augenbrauen. Ich schüttele leicht den Kopf und sie grinst. Mein Sturkopf ist in der ganzen Garde bekannt, ich würde mir auch von ihr nicht helfen lassen.

Franziska, die andere Gardistin, die mich ins Gefangenenzelt begleitet hat, lächelt ebenfalls.

„Was willst du?“, frage ich Ada.

Sie schiebt störrisch das Kinn vor.

„Ich will Magie! Es sagt, ihr könnt es erwecken! Das will ich, darum bin ich gekommen hierhin!“

Ich lege den Kopf schief und schaue sie neugierig an.

„Und dein Mann?“

Ada hebt die Schultern, schaut verwirrt: Sie versteht nicht, was ich meine.

Ich formuliere um: „Dein Mann: Was hast du ihm gesagt, warum ihr hier seid?“

Ada denkt kurz nach, dann grinst sie und schafft es trotz der Fesseln eine wegwerfende Geste zu machen. Dann rollt sie mit den Augen und macht „Pffft.“

Unsere Blicke treffen sich und wir müssen beide lachen.

„Weißt du“, erklärt sie und ihre Augen blitzen vor Zorn, „ich mache immer Essen, putze, kümmere mich um unsere Kind. Wir alle haben gehört, dass wir auch Magie haben. Ich will nicht weiter arbeiten, ich will eine Hexe werden, wie hier!“

„Also hast du deinen Mann angelogen und beschlossen, hierher zu kommen?“

Sie nickt.

„Ich will bessere Leben. Ich trage Magie, heißt es. Und ihr könnt sie wecken. Ich sage zu meinem Mann, dass wir hierher gehen müssen. Mein Mann denkt, wir wären hier für nicht mehr hungern, pah!“

Ich lächle und werfe Nihan einen Blick zu. Dank ihrer Magie kann sie in einen Menschen schauen, kann Herzschlag, Schwitzen und weitere Anzeichen von Nervosität klar vor sich sehen. Nur wenige Menschen, nur die besten Lügner, vermögen es, sie zu täuschen. Nihan blinzelt einmal langsam, Ada spricht die Wahrheit.

Ich weise Franziska an, Ada etwas zu essen bringen zu lassen, nicke der Gefangenen zu und verlasse das Zelt. Wieder eine neue Schwester für das Goldene Reich!

Adas Mann kann gar kein Deutsch, nicht einmal ein paar Brocken. Sie muss es heimlich gelernt haben. Dieses Mal übernimmt Franziska die Vernehmung. Auf Slawisch, klar, und ich verstehe kein Wort. Soweit Nihan mir übersetzt, hatte der Mann wirklich gedacht, mit seiner Familie in ein besseres Leben zu flüchten. Idiot.

So ganz glaubt ihm keine von uns. Wer sagt, dass er nicht doch ein Spion ist? Immer wieder flüchten unerweckte Frauen aus anderen Ländern zu uns, vor allem aus dem Großen Moldawischen Reich, China und jenen Stadtstaaten, in denen Frauen am meisten unterdrückt werden, das ist allgemein bekannt. Und schon einige Regierungen haben versucht, uns auf diese Art Spione unterzujubeln oder den Aufständlern geschmuggelte Waffen und Lebensmittel bringen zu lassen.

Ich traue Nihans Fähigkeiten, weiß aber auch, dass Männer in den östlichen Ländern oft in der Armee darauf gedrillt werden, ohne jede körperliche Regung zu lügen. Daher verfasse ich einen kurzen Bericht für die Gardenobere, in dem ich den Transport des Gefangenen in die Hauptstadt empfehle. Dort gibt es Frauen, die ganz spezielle Magie besitzen, bessere noch als Nihan, und bislang noch aus jedem die Wahrheit herausbekommen haben.

Der Mann wimmert. Franzi hat ihn wohl etwas zu hart angefasst. Na ja, er wird es schon überleben.

Als er anfängt, nach seiner Gattin und dem Kind zu rufen, verlassen wir das Zelt.

Bleibt nur noch der Junge.

Doch ehe ich mich um diese Angelegenheit kümmern kann, tritt mir Alexandra in den Weg. Ich unterdrücke ein Knurren: Sie und ich sind bereits an der Gardeakademie aneinander geraten. Wir haben denselben exzellenten Abschluss gemacht, nur ist meine Magie stärker als ihre. Sie versucht bis heute, das mit einer größeren Körperkraft zu kompensieren und trainiert im Gegensatz zu mir jeden Tag mehrere Stunden den magielosen Kampf. Zweifellos ist sie körperlich stärker als ich und könnte mich in meiner Zeit der Magieerneuerung ohne große Anstrengung schlagen. Aber was nützt ihr das schon?

Nichts, und das weiß sie auch. Dass ich sie erneut ausgestochen habe und Gardenzweite geworden bin, hat unser Verhältnis nicht gerade verbessert.

„Was ist?“, fauche ich sie an.

Sie salutiert feixend.

„Du sollst sofort zur Oberen kommen.“

Ich bin überrascht: Ich habe Frau Helmich erst in drei Tagen zurück erwartet. Na gut, dann kann ich ihr gleich Bericht erstatten. Grimmig mache ich mich auf den Weg zu ihrem Zelt. Zu meiner Überraschung folgt mir Alexandra zusammen mit ihrer besten Freundin Melissa und betritt ebenfalls die Unterkunft unserer Gardenoberen.

Frau Helmich ist eine beeindruckende Person, die ich seit unserem ersten Kennenlernen verehre: Sie ist klein, gerade mal 1,60 Meter groß, und stammt aus dem Nordosten des Reiches. Der Blick ihrer braunen Augen ist stets grimmig-entschlossen. Sie gilt als streng und unnachgiebig, aber es ist ebenso bekannt, dass sie immer ein offenes Ohr für die Nöte und Sorgen ihrer Frauen hat. Ihre Magie ist selten und ihre Fähigkeit, die Rufe wilder Tiere zu verstehen, in den Wäldern hier von unschätzbarem Wert. Diese Frau ist bereits jetzt eine Legende. Schade, dass ihr nur noch fünf, maximal sieben Jahre Zeit bleiben werden, bevor ihre Wechseljahre eintreten. Sie ist mir Mentorin und Ersatzmutter zugleich, ich werde sie sehr vermissen.

Ich hebe den Kopf, bereit vor meiner Gardenoberen zu salutieren, als ich eine böse Überraschung erlebe: Der Stuhl, auf dem Frau Helmich immer sitzt, ist nach wie vor leer. Stattdessen spüre ich, wie mich von hinten plötzlich Magie umklammert.

„Du hast doch nicht etwa gedacht, damit durchzukommen, meine liebe Helena“, dringt es honigsüß an mein Ohr.

„Was soll das?“, fauche ich und versuche, mich aus Alexandras magischer Fessel zu befreien. Zwecklos.

„Lass mich sofort los, oder …“

„Oder was, Helena?“

„Für dich heißt das immer noch ‚Gardenzweite‘“, zische ich.

Was bildet die sich eigentlich ein?

„Wenn die Gardenobere davon erfährt, dann …“

„Oh, das wird sie, keine Sorge“, zwitschert Alexandra heiter.

Ich sehe mich um und erkenne, dass mittlerweile fünf weitere Frauen das Zelt betreten haben: Die Obere der Fährtenleserinnen, die Ärztin Frau Winters, Nihan und zwei weitere Frauen von hohem Rang. Meine Kehle zieht sich zu, mein Mund wird trocken. Was geht hier vor?

Alexandra baut sich vor mir auf, Melissa feixt.

„Helena, ich klage dich hiermit offiziell der Unterstützung einer Verschwörung, des Eidbruches und Hochverrates an!“

Ich erbleiche. Dann schüttele ich den Kopf.

„Was soll der Blödsinn, Alexandra? Hat dir einer was auf den Kopf gegeben?“

Ich schaue in die Gesichter der anderen Frauen und das Lachen bleibt mir im Halse stecken.

Dann tritt Lynn vor. Was hat meine persönliche Wache damit zu tun?

Doch noch ehe sie stockend berichtet, was sie am Vorabend gehört hat, weiß ich, was kommt.

Richard ist mein Bruder, dennoch ist er auch ein Verräter. Und ich habe ihn weder festgenommen, noch gemeldet. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, ihn … Was habe ich denn eigentlich gedacht, verdammt? Gar nichts, ich habe gar nicht nachgedacht! Habe diese ganze, verdammte Geschichte irgendwie als Familienangelegenheit betrachtet. Als Streit unter Geschwistern, was weiß ich. Und habe damit das größte aller Verbrechen begangen: Hochverrat. Denn ohne den geringsten Zweifel habe ich einen Rebellen, einen waschechten Verräter, gehen lasse, anstatt ihn in Ketten zu legen. Ich habe einen Fehler gemacht und die Goldene Frau ebenso verraten, wie meine Gardeschwestern. Ich weiß, dass ich schuldig bin, also bleibe ich stumm auf Alexandras gehässige Anklage. Ich werde mich vor dem Gericht der Goldenen Frau erklären oder irgendwie versuchen, meinen Fehler wieder gut zu machen. Hier und jetzt bin ich ohne meine Magie Alexandra, dieser miesen Schlampe, hilflos ausgeliefert, also kann ich mich genauso gut vorerst in mein Schicksal fügen. Ich schließe die Augen, damit ich Alexandras hämisches Grinsen nicht länger sehen muss.

Hexenherz. Eisiger Zorn

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