Читать книгу Hexenherz. Eisiger Zorn - Monika Loerchner - Страница 12
ОглавлениеKapitel 4
Am nächsten Tag beginnt die beschwerliche Reise: Da Kriegspferde viel zu kostbar in Unterhalt und Ausbildung sind, um auf solch eine Reise verschwendet zu werden, müssen die beiden Gardistinnen und ich mit lahmen Zugpferden vorlieb nehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie die über 1.000 Kilometer bis zur Hauptstadt schaffen werden.
Da ich noch immer nicht wieder magiefähig bin, begnügen sich meine Bewacherinnen damit, mir Handfesseln anzulegen. Vor mir im Sattel sitzt Adas Junge, ebenfalls nur an den Händen gefesselt und ebenfalls auf dem Weg in die Hauptstadt; dort soll er im Jungenheim untergebracht werden, bis seine Eltern eingehender überprüft worden sind – Standardprozedur. Zum Glück für mich scheint er während des Rittes stumm bleiben zu wollen. Allein die Bewegung seines Kopfes hin und wieder verrät mir, dass er nicht schläft. Fast hätte ich gegrinst: Hätte ich diesen Transport angeordnet, ich hätte nur eine Frau dafür abgestellt. Wie sollten der Junge und ich auch fliehen können?
Immerhin kann ich mich nicht über die Kleidung beklagen, die sie mir gegeben haben. Nach all den Jahren in Uniform fühlt sich die Zivilkleidung zwar merkwürdig an, aber an der Baumwollhose, dem Oberteil und vor allem dem dicken Wollmantel ist ansonsten nichts auszusetzen.
Nadia und Karoline, unsere beiden Bewacherinnen, sind schlecht gelaunt. Kein Wunder: Das wird eine lange und beschwerliche Reise. Ich kann verstehen, dass sie keine große Lust dazu haben. Auch meine ich, den Hass und die Verachtung, die mir von den beiden entgegenschlägt, zu spüren. Einst habe ich sie in unzählige Kämpfe gegen die Rebellen geführt, bin mit ihnen auf Patrouille gegangen und habe mit ihnen am Feuer gesessen. Nun habe ich sie verraten.
Gegen Mittag erreichen wir die Ruinen einer lange schon verfallenen Stadt.
„Debrecen“, sagt Karoline ehrfürchtig, als wir den Stadtrand erreichen, „die Gestorbene Stadt.“
In mir regt sich eine Erinnerung aus dem Geschichtsunterricht: Diese Stadt hatte in der Zeit der sogenannten Hexenkriege eine große Rolle gespielt, ich weiß nicht mehr, welche.
Jetzt liegt die einst vermutlich prächtige Stadt wie ausgestorben vor uns. Die Einwohner haben sie schon lange verlassen und geblieben sind nur pflanzenüberwucherte Trümmer sowie ein paar hundert Ruinen einstiger Häuser als Zeugnisse längst vergangener Pracht.
Karoline und Nadia wechseln einen Blick, dann zügeln sie ihre Pferde.
„Weißt du noch“, fragt Nadia ihre Kampfgefährtin, „wie uns die Gardenzweite aus dem Hinterhalt gerettet hat? Als wir so dumm waren, zu den Biharugra-Teichen zu gehen, um unsere Wasservorräte aufzufüllen?“
„Ja“, antwortet Karoline langsam. „Schon verdammt lange her, was?“
Nadia nickt.
„Ich weiß noch, letzten Sommer“, Karoline verzieht das Gesicht bei der Erinnerung, „hat mich so ein Schwein mit einem Schussgewehr erwischt. Jana konnte zum Glück die anderen Kugeln mit ihrer Windmagie abwehren, aber eine hat mich erwischt, direkt in die Brust. Hätte die Gardenzweite damals nicht meine Wunde vereist und mich unter Einsatz ihres Lebens zu der Ärztin gebracht, wäre ich verblutet.“
Ich bin irritiert: Was soll das?
Ist das der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Beschimpfungen und Bestrafungen, die mir die beiden zukommen lassen wollen? Ich würde es ihnen nicht mal übel nehmen, wenn sie mich verprügeln würden, hier und jetzt, an dieser menschenverlassenen Stelle. Oder Schlimmeres. Allein ihre Magie dürfen sie nicht gegen mich richten. Noch nicht: Bin ich erst einmal offiziell des Hochverrates überführt, habe ich natürlich das Recht auf eine ehrenvolle Behandlung verwirkt. Nadia und Karoline machen allerdings keine Anstalten, mir nahe zu kommen. Eine merkwürdige Spannung liegt in der Luft, die ich nicht recht zuordnen kann. Auch der Junge scheint sie zu spüren, er hat sich stocksteif aufgesetzt und rührt sich keinen Millimeter.
„Ach, Debrecen“, sinnt Nadia und betrachtet die Geisterstadt. „Welch wunderschönes Labyrinth! Hier machen wir Pause!“
Spricht’s und steigt ab. Karoline tut es ihr nach.
Ich fasse es nicht: Was machen die denn da? Keine Gardistin mit nur einem Funken Verstand steigt vom Pferd, bevor der Gefangene aus dem Sattel gestiegen ist! Zu leicht kann dieser dann nämlich … Da dämmert es mir. Ich schaffe es gerade so eben, den beiden keinen dankbaren Blick zuzuwerfen. Sie setzen ihre Ehre aufs Spiel, um mir meine Taten zu vergelten. Ich schließe für einen winzigen Moment die Augen, danke ihnen stumm. Dann schlage ich meinem Pferd die Hacken in die Seiten, sodass es einen erschrockenen Sprung macht. Dabei schreie ich gellend. Mein eigenes Pferd Mitternacht würde wie jedes Kriegspferd ob dieses Lärms nicht einmal schnauben, doch dieses Tier hier ist es gewohnt, friedlich und in Ruhe Güter zu transportieren. Es schreckt auf, versucht zu steigen. Als hätte er meine Absichten erkannt, kreischt auch der Junge laut, sodass nun auch die Pferde der Gardistinnen in blinder Panik davonstieben. Mit aller Kraft lehne ich mich nach vorne und drücke dabei den Jungen mit. Ich mache mich so schwer wie möglich. Die Stute schnaubt, scheut wieder, verweigert meine gebrüllten Befehle. Erst als ich ihr abermals die Hacken in den Bauch treibe, wiehert sie schrill und galoppiert dann mit uns davon. Trägt uns tief hinein in das Labyrinth der Gestorbenen Stadt.
Nach stundenlanger Hast durch das Gewirr der stillen Straßen bin ich mir sicher, unsere Verfolgerinnen abgehängt zu haben. Die Stute zittert vor Erschöpfung, doch ich treibe sie unbarmherzig weiter in Richtung der dichten Wälder. Es wird nicht lange dauern, bis ein ganzer Trupp Gardistinnen die Gegend durchkämmt. Sicher haben Nadia und Karoline schon vor Stunden per Magie einen Hilferuf gesendet. Ich bin ihnen nicht böse: Sie haben mir zur Flucht verholfen und da sie auch erst wieder ihre Tiere einfangen mussten, dürften wir einen wertvollen Vorsprung haben.
Noch immer bleibt der Junge stumm. Das einzige Geräusch, das er von sich gibt, ist ein leises Zähneklappern. Mittlerweile ist es dunkel geworden und von Osten weht ein eisiger Wind. Ich kann nichts dagegen tun.
Als ich es schließlich für sicher erachte anzuhalten, befinden wir uns tief in einem dichten Wald. Es ist bereits so finster, dass wir schon seit einer Stunde zu Fuß gehen und die treue Stute am Zügel führen müssen. Jetzt reibe ich sie notdürftig mit meinem Umhang ab, der Junge schaut wortlos zu.
Ich benutze den Sattel als Kopfkissen und mache es mir auf dem Waldboden bequem, schließe für einen Moment die Augen. Ich höre, wie der Junge ein wenig herumraschelt; wahrscheinlich deckt er sich, da er keinen Umhang hat und nur ein dünnes Hemd trägt, mit Laub zu.
Eine Erinnerung blitzt in mir auf: Richard und ich, wie wir eine Nacht im Wald hinter unserem Haus zelten wollten. Wie uns das blöde Zelt gerissen war. Wir haben dennoch nicht eine Sekunde daran gedacht, wieder nach Hause zu gehen. Stattdessen haben wir uns dicht aneinander gekuschelt und uns gegenseitig damit aufgezogen, wer am stärksten zittert. Dann waren wir eingeschlafen, warm und voller Glück.
Mit einem Seufzen schlage ich die Augen wieder auf und schaue den Jungen an.
„Komm her“, raune ich und hebe meinen nach Pferdeschweiß riechenden Mantel. „Du kannst bei mir schlafen.“
Der Junge gehorcht wortlos und kuschelt sich mit dem Rücken an meine Brust. Ich decke ihn so gut es geht mit dem Mantel zu. Zwar betrachte ich, seit ich über das Eis gebieten kann, die Kälte als meine Freundin, aber die Wärme des Jungen erfüllt mich dennoch mit einer merkwürdigen Behaglichkeit.
Ich liege noch lange wach und grübele, was ich jetzt machen soll. Ich habe mich zweifellos des Hochverrates schuldig gemacht. Und obschon mein Herz noch immer der Goldenen Frau und dem Reich gehört, bezweifele ich, dass ich je wieder in den Dienst meines Landes werde treten dürfen. Bestenfalls werden sie mir meine Magie nehmen und mir ein genügsames Leben als Großmutter lassen. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Und dann ist da auch noch dieser Junge, der ohne mich zweifellos hier in der Wildnis sterben wird. Er ist noch so klein …
Mein letzter wacher Gedanke gilt Richard, Rickie, meinem kleinen Bruder aus glücklichen Kindertagen. Mit seinem Lachen im Ohr schlafe ich ein.
Am nächsten Morgen schlage ich die Augen auf. Manch einer wäre an meiner Stelle wohl einen Moment orientierungslos, aber ich bin es gewohnt, inmitten eines Waldes aufzuwachen. Wenn wir auf Patrouille gehen, können wir nicht immer Zelte und Kochstellen aufzaubern: Entweder der Platz reicht nicht, oder aber es ist schon zu dunkel und die Aufständler zu nah, um magische Lichter riskieren zu können. Zu oft müssen wir mit dem Waldboden vorlieb nehmen. Freilich bin ich daran gewöhnt, mir meinen Schlafgrund von Lynn zurechtzaubern zu lassen. Die Erdmagierin fehlt mir wie alle meine Schwestern. Dann jedoch fällt mir wieder ihr Verrat ein. Möge ihre Magie früh versiegen!
Missmutig schaue ich auf den Jungen, der noch immer eng an mich gedrängt schläft. Er hat kurzes, dunkles Haar, einen leicht breiten Kopf und hohe Wangenknochen. Ich kenne mich mit Kindern kaum aus, meine allerdings, Anzeichen eines kräftigen Kinns und einer recht männlichen Nase in dem jungen Gesicht ausmachen zu können. Ein hübscher Bursche, zweifelsohne. Auch wenn er im Moment eher aus Haut und Knochen, denn aus Muskeln und Fleisch besteht.
Als hätte ich ihn mit meinen Gedanken aufgeweckt, öffnet der Junge die Augen. Er dreht den Kopf zu mir und der klare Blick seiner braunen Augen trifft die meinen. So verharren wir einen Moment. Ich rechne damit, dass er jeden Moment etwas sagen wird. Doch nichts. Ob er stumm ist?
„Na los, steh auf“, sage ich nicht unfreundlich.
Ich ziehe meinen Mantel von ihm und gebe ihm einen sanften Stups. Langsam kommt er auf die Beine. Der Junge schaut sich kurz um. Dann sieht er wieder mich an, einen fragenden Ausdruck in den Augen. Ich ignoriere ihn, strecke mich und vergewissere mich, dass es der Stute gut geht, die friedlich an den wenigen Büschen knabbert. Sie scheint sich erholt zu haben und kommt auf einen Pfiff hin zu mir rüber, reibt ihre Nase an meiner Schulter.
Was soll ich jetzt tun? Wohin soll ich gehen? Und was mit dem Jungen anfangen? Moment, eins nach dem Anderen! Ich erleichtere mich in einem Gebüsch und beschließe dann, dass unsere Flucht Priorität hat. Man kann um diese Jahreszeit locker eine Weile im Wald überleben, wenn man nur weiß, was man alles essen kann. Natürlich brauche ich mich da eh nicht zu sorgen: Noch vier Tage, dann wird meine Magie erneuert sein. Eis ist nicht die beste aller Jagdmethoden und es dauert immer recht lange, bis man von mir erlegte Beute essen kann: Ich neige stets dazu, vor lauter Jagdfieber zu viel Eis zu schleudern und die Tiere dabei gleich schockzufrosten.
Ich kehre zu dem Jungen und der Stute zurück und befehle ihnen zu warten. Die Sonne ist durch den dichten Blätterwald der Baumkronen noch nicht zu sehen, die Sterne schon zu weit verblasst, daher muss ich mich anderweitig orientieren.
Der Junge ruft etwas und sieht mich erschrocken an. Ich weise auf die Stelle, an der wir geschlafen haben: „Bleib hier, ich komme gleich wieder!“
Kaum drehe ich mich um, kommt er hinter mir her gerannt und greift nach meinem Mantel. Wütend schüttele ich ihn ab. Wie er da so vor mir steht und irgendwelche Wörter stottert, tut er mir fast leid. Dabei gestikuliert er wild. Als ob das helfen würde, ihn zu verstehen! Da er aus dem Großen Moldawischen Reich kommt, nehme ich an, dass er Einheitsslawisch spricht, eventuell mit einem alten Dialekt wie Russisch oder Polnisch. Mir ist an der Akademie des Öfteren nahegelegt worden, eine oder mehrere Fremdsprachen zu lernen, aber wozu? Ein paar Tage noch und ich werde den Jungen ohne Mühe verstehen können. Nicht dass ich davon ausgehe, er hätte überhaupt etwas Sinnvolles zu sagen. Mir ist allerdings auch klar, dass ich ihn nicht so einfach loswerde, ich kann ihn ja nun schlecht aussetzen oder so.
Wie er so dasteht und mich ansieht und ihm Tränen über das Gesicht kullern, kommt mir eine Idee.
„Wie heißt du?“
Ein fragender Blick. Er versteht mich nicht, logisch. Hätte ihm Ada nicht zumindest etwas Deutsch beibringen können?
Ich zeige auf ihn und dann, weil er noch immer nicht zu verstehen scheint, auf mich. Lege meine Hand auf mein Herz und sage: „Helena.“
Dann zeige ich wieder auf ihn. Er starrt weiter. Meine Güte, das kann doch nun wirklich nicht so schwer zu verstehen sein, oder? Immerhin weint er jetzt nicht mehr.
Also noch einmal: „He-le-na.“
Der Junge scheint nachzudenken, dann nickt er: „Tak, Kolja.“
Das soll wohl so viel wie „Ja, verstehe.“ heißen. Ermunternd zeige ich erneut auf ihn.
Der Junge legt sich die Hand aufs Herz, schluckt schwer und sagt etwas.
Ich verstehe gar nichts. Was da aus seinem Mund kommt, kann doch unmöglich ein Name sein!
Er wiederholt seinen Namen in der guttural klingenden Sprache.
„Meujizerze bolli?“, versuche ich es.
Der Junge legt den Kopf schief und grinst mich doch tatsächlich an.
„Haha, sehr komisch! Ich will dich mal hören, wenn du versuchst, Deutsch zu sprechen“, brumme ich. „Auf jeden Fall kann kein normaler Mensch diesen Namen aussprechen, geschweige denn, ihn sich merken! Was soll das überhaupt für ein Name sein?“
Ich überlege kurz. „Ich nenne dich einfach ‚Meuserdsch‘. Oder hast du ein Problem damit?“
Der Junge grinst noch breiter.
„Moji cerce bolli“, korrigiert er mich betont langsam.
„Von mir aus auch das.“ Ich zucke mit den Schultern. „Oder einfach nur ‚Mojserce‘, du wirst schon drauf hören!“
Ich zeige erneut auf den Boden: „Mojserce, also … bleib einfach hier, ja?“
Ich deute in Richtung Waldrand. „Ich bin gleich wieder da!“
Dieses Mal bleibt der Junge, wo er ist, und ich mache mich auf den Weg.
Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, müsste der Wald bald lichter werden. Und richtig: Bereits nach einer knappen Viertelstunde stehen die Bäume freier, sodass sich genügend Laubbäume mit ihren dicken Ästen finden, um daran hochzuklettern. Ich entscheide mich für eine riesige Eiche. Oben angekommen lasse ich meinen Blick umherschweifen. In der Ferne sehe ich die Reste von Debrecen, folglich muss das Südwesten sein. Der Baumwuchs bestätigt meinen Verdacht: In diesem Klima kommt der Wind meist aus westlicher Richtung, sodass sich freistehende Bäume stets leicht nach Osten neigen. Ich breche einen kleinen Zweig des Baumes ab, nehme einen Zettel aus meiner Manteltasche und falte ihn auf. Es ist ein Brief von meiner Muttersmutter, die als Großmutter auf Briefe angewiesen ist, wenn sie mir etwas mitteilen will. Höchst umständlich das Ganze, doch so habe ich wenigstens eine schöne weiße Fläche. Ich lege den gefalteten Brief auf meine Handfläche und stelle den kleinen Stock senkrecht darauf. Trotz des wenigen Lichtes wirft er einen hauchzarten Schatten: Westen. Ich krame einen Stift aus meiner Manteltasche und markiere die Lage Debrecens im Verhältnis zu den Himmelsrichtungen Osten und Westen. Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, wohin wir gehen sollen. Ich werfe den Stock weg, stecke Papier und Stift ein und klettere wieder nach unten.
Dem Jungen steht die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als ich wieder unseren Lagerplatz betrete. Ich nehme erneut den Zettel zur Hand, erzeuge einen weiteren Schatten darauf und drehe ihn eine Weile hin und her. Jetzt weiß ich genau, wo wir sind, nur – wohin sollen wir fliehen? Nicht nach Westen, das steht fest. Im Süden ist unser Hauptlager, außerdem wimmelt es in der Richtung nur so von Aufständlern. Im Osten würden wir bald an die gut gesicherte Grenze des Großen Moldawischen Reiches stoßen; ich habe keine Ahnung, wie Ada ihre Familie darüber gebracht hat, aber ich habe nicht vor, dieses Risiko einzugehen. Und überhaupt: Was soll ich da? Bleibt also vorerst nur der Norden.
„Los, Mojserce, komm!“, rufe ich dem Jungen zu. Dann nehme ich die Stute am Zügel und führe sie in nördliche Richtung. Nach einer Weile lasse ich die Zügel locker, überlasse es der Stute, wohin wir gehen. Ich muss lediglich ab und zu überprüfen, ob wir noch auf dem richtigen Kurs sind. In einer Viertelstunde geht die Sonne auf, dann wird es einfacher werden. Und mit ein bisschen Glück hat uns das Pferd bis dahin mit seiner empfindlichen Nase zu einer Quelle geführt.
Dank der Stute finden wir tatsächlich Wasser und trinken uns satt. Dann lasse ich die Stute frei. Unschlüssig steht sie da, genau wie der Junge vorhin, und schickt sich an, uns zu folgen. Ich schaue in ihre großen braunen Augen.
„Es geht nicht, du kannst leider nicht mit uns kommen“, flüstere ich und streichle ihr über die samtweiche Nase. Längst hat sie mir mein grobes Verhalten von gestern verziehen. Sie ist zwar kein ausgebildetes Kriegspferd, hat sich dennoch wacker geschlagen. Es tut weh, sie gehen zu lassen. Aber auch wenn sie nicht beschlagen ist, würden uns ihre Abdrücke über kurz oder lang verraten.
„Geh jetzt, Schwester Pferd“, raune ich ihr zu.
Sie stellt ihre Ohren auf und es scheint fast, als würde sie mich verstehen. Ich trete zurück und gebe ihr einen Klaps auf die Flanke. Die Stute dreht den Kopf und starrt mich vorwurfsvoll an. Ich zucke mit den Schultern. Sie schnaubt kurz, wiegt den Kopf hin und her, als wolle sie die beste Richtung für sich herausfinden, und trottet dann davon. Ich atme einmal tief ein und aus. Dann gehen wir weiter.
Mein Magen knurrt und meine Laune sinkt mit jedem Schritt. Wenn ich Hunger habe, gehen mir selbst meine besten Freundinnen aus dem Weg, und das mit gutem Grund. Dem Jungen scheint es nicht besser zu gehen; hin und wieder kann ich auch seinen Magen knurren hören.
Ich habe keinen Plan, sondern folge stur dem Weg nach Norden. Bislang habe ich noch nichts von möglichen Verfolgern mitbekommen und bin optimistisch, bis heute Nacht endgültig in Sicherheit zu sein. Soweit wir überhaupt jemals wieder in Sicherheit sein können.
Den ganzen Tag über trottet der Junge stumm hinter mir her. Bei einer der wenigen Pausen, die ich uns gönne, versucht er zwar, ein Gespräch zu beginnen, aber er merkt schnell, wie sinnlos das ist. Hätte sich meine Magie bereits erneuert und würde ich ihn verstehen, würde der Kurze wahrscheinlich ununterbrochen auf mich einplappern.
Ein wenig neugierig bin ich allerdings schon: Wie hat es Ada geschafft, sich und ihre Familie so weit in den Westen zu führen? Zwar ist sie am Ende unserer Patrouille in die Arme gelaufen, doch so weit hat es schon lange keiner mehr geschafft.
Gegen Abend bin ich zu erschöpft, um noch extra nach einem geeigneten Lagerplatz Ausschau zu halten. Ich bedeute dem Jungen stehenzubleiben. Aufmerksam sehe ich mich um, konzentriere all meine Sinne auf den Wald um mich herum. Als ich sicher bin, dass kein größeres Tier in der Nähe ist, das uns gefährlich werden kann, weise ich den Jungen mit Gesten an, sich hinzusetzen. Nutzlos wie er ist, kann er sich genauso gut schon mal ausruhen, während ich im letzten Tageslicht auf Nahrungssuche gehe.
Gefühlte Stunden sammele ich Brombeeren und Bucheckern. Bärlauch und Löwenzahnblätter von einer kleinen Lichtung vervollständigen die karge Mahlzeit. Mit Wurzeln kenne ich mich nicht genug aus, als dass ich es gewagt hätte, welche auszugraben, und etwas anderes Essbares finde ich nicht. Dummerweise kann ich mich nicht mehr daran erinnern, was genau Lucia uns immer vorgesetzt hat, wenn wir länger unterwegs gewesen sind: Sie hat unsere Mahlzeiten stets mit frischem Grünzeug und anderen Sachen aus der nahen Umgebung aufgewertet.
Bei dem Gedanken an das letzte Wildragout zieht sich mein Magen umso schmerzhafter zusammen. Was ich jetzt will, ist meine Zähne in eine ordentliche Rehkeule zu schlagen. Ohne meine Magie habe ich allerdings keine Chance, eines der scheuen Tiere zu erlegen. Ich seufze und kehre zu unserem Lagerplatz zurück.
Ich pflücke ein paar große Blätter und breite dann vor Mojserces neugierigem Blick meine Schätze darauf aus. Er beäugt meine Beute und stupst mich dann an.
„Was ist?“, frage ich gereizt.
Er fuchtelt irgendwas mit seiner Hand. Dann macht er zu meiner großen Verblüffung genau die Geste, mit der ich ihm immer geheißen habe, auf mich zu warten.
„Helena!“, sagt er, winkt und verschwindet kurzerhand im Wald.
Dieser Schlingel! Ich fasse es nicht! Nicht nur, dass mir dieser junge Bursche Befehle erteilt, nein, er verzieht sich auch einfach, als könnte er hier tun und lassen, wonach ihm grade ist! Egal, nicht mein Problem, wenn er einem Wildschwein oder Bären über den Weg läuft. Im Grunde genommen wäre es sogar eine Erleichterung, wenn ich fortan nur noch für mich selbst sorgen müsste. Ich beschließe, die Beeren, Eckern und Blätter dennoch vorerst aufzuteilen. Ich gebe dem Bengel ein Drittel und mir zwei. Schließlich bin ich größer und habe folglich auch einen größeren Magen, oder?
Kaum bin ich fertig, steht der Junge auch schon wieder vor mir. Er hat sein Hemd am unteren Ende hochgezogen und scheint etwas darin zu transportieren. Er grinst frech von einem Ohr zum anderen und lässt dann seine Beute auf den Boden kullern: Champignons! Drei Dutzend riesige, köstliche, perlweiße Champignons! Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Ich überlege kurz, dann teile ich alles nochmal neu auf. Dieses Mal bekommt der Junge von allem die Hälfte.
Halbwegs gesättigt schlafen wir unter meinem Mantel ein. Am nächsten Morgen wache ich davon auf, dass mir jemand einen Revolver an den Kopf hält.